Erschlagt die Armen - Anne Lenk inszeniert am Thalia Theater Hamburg den Roman von Shumona Sinha über die bürokratische Hölle der Flüchtlingskrise
Mittendrin im Zweifel
von Katrin Ullmann
Hamburg, 15. September 2016. Schrecklich eng stehen die Darsteller. Dicht gedrängt in einem Loch im Bühnenboden. Zu fünft haben sie sich dort hineingequetscht. Körperkontakt ist unvermeidlich. Es herrscht Gedränge in der Pariser Metro: "Der Waggon war überfüllt. Ich stieß an den Rücken des Mannes vor mir. Kaum habe ich ihn berührt … Ich kenne den Mann nicht, aber er hat mich wiedererkannt."
Alicia Aumüller, Sandra Flubacher, Chistina Geiße, Matthias Leja und Oliver Mallison sprechen den Text abwechselnd, einander ergänzend. Können sich kaum bewegen, können weder einander noch der Situation entkommen.
Das Fremde zurückschlagen
Regisseurin Anne Lenk hat sie in der Gaußstraße am Thalia Theater auf engstem Raum zusammengepfercht, um die zentrale Szene in Shumona Sinhas Roman "Erschlagt die Armen" zu bebildern: "Der Mann mit dem wutgeschwärzten Gesicht packt mich wieder. Ich mache mir Sorgen um den Pelz. Nicht so sehr um mich selbst. Weil ich schon weiß, dass ich ihn schlagen werde. Ich muss nur die Flasche aus der braunen Tüte ziehen, die Tüte zu Boden fallen lassen und den Hals der Flasche umklammern. Die Bienen summen schon in meinem Kopf." Die Frau im Roman schlägt zu. Sie ist eine Frau in Bedrängnis, eine Frau voller Wut, Angst und Hass – auf alles Männliche und auf das Fremde (obwohl sie selbst aus der Fremde ist) – und voller Verzweiflung.
Sie sind erschöpft von den Erzählungen aus einer anderen Welt © Krafft Angerer
Zwiebeln in der Hosentasche
Zuvor war sie als Dolmetscherin angeheuert worden, gewissermaßen als "Bindestrich" zwischen "Bittsteller" und "Entscheider". Bestellt in "halb blickdichte, halb durchsichtige Büros in den Randzonen der Stadt". Dort hat sie Befragungen übersetzt und zahllose Geschichten gehört von Vergewaltigungen, Morden, Übergriffen, politischer und religiöser Verfolgung, Berichte "von schmutzigem Regen und schlammigen Straßen, von endlosem Monsun, als würde der Himmel bersten". Dabei hat sie den Glauben verloren an die Wahrheit hinter diesen immer wiederkehrenden Geschichten. Sie hat die Lügen erkannt, die Ausflüchte, die Zwiebeln in den Hosentaschen gesehen, damit sich die Augen zum richtigen Zeitpunkt mit Tränen füllen. Jetzt, nach dem Schlag mit der Flasche, befindet sie sich selbst im Verhör: "Ich hätte nie gedacht, dass der Weg so kurz wäre, dass es einen direkten Weg gäbe, eine Abkürzung zwischen den Befragungszimmern und diesem Raum auf dem Polizeirevier."
Sinhas Roman hat ohne Zweifel biografische Züge. 2011 in Frankreich erschienen, erregte er großes Aufsehen. Erzählt doch der "Skandalroman" vom unaushaltbaren Behördenalltag einer Dolmetscherin. So ähnlich hat ihn wohl die selbst aus Indien nach Frankreich emigierte Autorin erlebt. Sie dometschte bei der französischen Migrationsbehörde. Bis sie den Roman veröffentlichte. Und ihren Job verlor.
Rastloses Chaos
In einem kaltweiß gefließten Warteraum (Bühne inklusive böses Neonlicht: Judith Oswald) lässt Anne Lenk die Schauspieler aneinanderrücken. Und auch aneinander vorbeirreden, einander verhören, unterbrechen, ergänzen. Es gibt keinen Einzeltäter, keine klare Zuordnung: Alle sind sie die Protagonistin, alle die Täterin, alle auch mal Flüchtling, Vergewaltigungsopfer oder der verhörende Polizist "Herr K.".
Rastlos (manchmal fast ratlos) dirigiert Lenk die Schauspieler mit Schwarzhaarperücken und in hautfarben transparenten Anzügen (Kostüme: Sibylle Wallum) von rechts nach links und wieder zurück. Sie lässt sie nachdenklich sprechen, leise murmeln und natürlich auch mal aufschreien. Doch alle Aktion oder Emotion mündet im Klischeehaften. Nichts Leidenschaftliches dringt durch die meist chorische Gleichmütigkeit, durch die so fast leblos wirkenden Figuren, die sich auch mal hinter grotesken Masken verstecken dürfen. So eindringlich Sinhas Originaltext sein mag, auf der Bühne verliert er an Wucht.
Die Geschichten, die Schicksale selbst, sind selbstredend schrecklich. Und wenn Lenk sie im Foyer zu Beginn des Abends als Videoaufzeichnung (Simon Janssen) erzählen lässt, ist der Zuschauer kurzzeitig mittendrin. Mittendrin im Zweifel zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Glaubwürdigkeit und Skepsis. Und er spürt, dass die rohe Anklage des Romans dem unmenschlichen Asylsystem gilt. Doch sobald sich die Ereignisebene auf die Theaterbühne verlagert, verschwindet jede Beklemmung und das Erzählte wirkt fern, leidenschaftslos und unangenehm unterspannt.
Erschlagt die Armen
nach dem Roman von Shumona Sinha
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Sibylle Wallum, Dramaturgie: Gábor Thury, Sandra Küpper.
Mit: Alicia Aumüller, Sandra Flubacher, Christina Geiße, Matthias Leja, Oliver Mallison, Mervan Ürkmez.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.thalia-theater.de
"Erschlagt die Armen" sei der Versuch, das brisante Thema der aktuellen Völkerwanderungen ins Theater zu bringen und dabei möglichst differenziert vorzugehen, schreibt Heinrich Oehmsen im Hamburger Abendblatt (19.9.2016). Doch die Frage etwa nach der Würde und dem Stolz der Asylsuchenden bleibe in der Dramatisierung des Romans unbeantwortet. Die stärkste Szene des 90-minütigen Abends habe Matthias Leja mit der Schilderung einer Massenvergewaltigung. "Beim Zuhören stockt einem der Atem, so brutal klingt seine Schilderung", so Oehmsen. "Am Ende nimmt er die Maske vom Kopf und fragt: 'Stimmt die Vergewaltigungsgeschichte?' Was bleibt, ist Verunsicherung."
Katja Weise berichtet für den NDR (19.9.2016). Anne Lenk konfrontiere die Zuschauer gleich zu Beginn mit einer Flut von Filmausschnitten, in denen Asylbewerber immer wieder die gleichen Fragen gestellt bekommen: "Warum wollen Sie nach Deutschland, wo kommen Sie her, haben Sie Kinder?" Das funktioniere als Einstieg ganz gut, man fühle sich abgeholt, "trotzdem bleibt dieser Abend weit unter seinen Möglichkeiten, ist dann im weiteren Verlauf sehr spröde, konstruiert, weil es der Regisseurin nicht gelingt, aus diesem sehr kunstvoll geschriebenen Roman eine sinnliche Theateraufführung zu machen".
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