Tom auf dem Lande - Michael Letmathe inszeniert die deutsche Erstaufführung des Stücks von Michel Marc Bouchard in Münster
Trotz Rumba
von Kai Bremer
Münster, 29. Dezember 2016. Theaterkritik funktioniert oft wie die das Drama nach Gustav Freytag. Erst ist alles gut, dann folgt der Wendepunkt und schließlich – tata! – die Katastrophe, vulgo der Verriss. Die Alternative: erst Meckern, dann Wendepunkt und – tata! – Happyend, vulgo Lob und Begeisterung. Undramatisch ist die Theaterkritik eigentlich nur im Ausnahmefall, nämlich wenn alles gut oder alles schlecht ist. Nur ist sie dann langweilig und sieht (Variante "alles gut") so aus:
Politisches Theater, well made
In Michel Marc Bouchards Stück "Tom auf dem Lande", das gestern seine deutsche Erstaufführung in Münster hatte, reist der Titelheld in die gar nicht idyllische Provinz, um an der Beerdigung seines überraschend verstorbenen Lebensgefährten teilzunehmen. Hier tritt ihm offene Homophobie in Gestalt des Bruders des Verstorbenen entgegen. Bouchard gelingt es, dieses etwas stereotype Setting in eine emotional hochkomplexe Tragödie zu überführen, die sogar einen überraschenden Schluss bereit hält, in dem mit Blut nicht gegeizt wird (freilich ohne Gefährdung der Abendgarderobe wie ehedem in Thalheimers "Orestie"). Dramatische Handwerkskunst par excellence gepaart mit politischer Positionierung – ein Stück also, das das Zeug hat, in nächster Zeit noch oft nachgespielt zu werden.
Regisseur Michael Letmathe hat sich beeindruckend intensiv auf den Text eingelassen. Es gibt einen einzigen kleinen Scherz am Rande (bei einer Reihe von projizierten Madonnen-Bildern sieht man einmal kurz auch die Sängerin Madonna). Jenseits dessen ist der gesamte Abend auf die verschiedenen Dialoge und die kurzen episierenden Monologe konzentriert, in denen Tom immer wieder seine Situation reflektiert, kommentiert und damit die Handlung durchbricht. Auch verzichtet Letmathe weitgehend auf Reminiszenzen an die so erfolgreiche Verfilmung des Stücks von Xavier Dolan.
Sparsame Inszenierung, einfühlendes Spiel
Zwar trägt Tom in Münster zu Beginn noch die gleiche schwarze Lederjacke wie im Film. Aber ansonsten findet Christine von Bernstein (Bühne und Kostüme) eine eigene, reduziert-symbolische Bildsprache. Francis etwa, der Bruder des Toten, macht allein schon mit seinem stramm in die Hose gesteckten weißen Polo-Hemd klar, dass er die heteronormative Herrenrasse verkörpert. Die Handlung findet in einem kleinen Haus-Gerüst statt – ohne Wände, jedoch mit Leuchtstoffröhren entlang der Deckenrahmen. Damit eine Ahnung vom Landleben aufkommt, wird zwischendurch eine Schubkarre voll Erdreich entleert. Insgesamt aber ist alles wohltuend spartanisch eingerichtet, so dass die Handlung ganz im Zentrum steht.
Alle vier Schauspieler agieren einfühlend, nie karikierend oder aus der Rolle tretend. Garry Fischmann ist der immer mehr im Landleben aufgehende Tom, Regine Andratschke Agathe, die Mutter des Verstorbenen. Christoph Rinkes Körpersprache zeigt deutlich, wie sehr die Schwulenfeindlichkeit von Francis der eigenen Unsicherheit geschuldet ist, ohne Verständnis für ihn zu heucheln. Selbst Natalja Joselewitsch, die später als Toms Kollegin Sara hinzukommt, um der Mutter vorzugaukeln, sie sei die Freundin des Verstorbenen gewesen, damit Agathe nicht mitbekommt, dass ihr toter Sohn schwul war, legt die Rolle, die deutlich Plattitüden-Potential hat, mit überzeugendem Ernst aus.
Tragödien auf die große Bühne!
Vor allem aber agieren die vier Darsteller im Zusammenspiel überzeugend. Wenn Francis Tom von seinem Abschlussball erzählt und die beiden beginnen, immer leidenschaftlicher miteinander Rumba zu tanzen (Choreographie: Tri Thanh Pham), bringt Letmathe Bouchards Kernanliegen, die fließenden Übergänge zwischen den sexuellen Dispositionen, szenisch wunderbar auf den Punkt.
Also wirklich kein Makel? Kein Theaterkritik-Tata? Was die Inszenierung betrifft: nein. Und doch ist zumindest der Autor dieser Zeilen mit gemischten Gefühlen aus dem Theater gegangen. Dieser wunderbare Theaterabend fand auf der kleinen Bühne U2 mit gerade einmal 52 Plätzen statt. Dass die nicht alle besetzt waren, mag dispositorische Gründe haben. Viel wichtiger: Das Theater Münster zeigt hier seit Jahren hervorragende Arbeiten wie etwa Tuğsal Moğuls "Die deutsche Ayşe". Nicht wenige Stadttheater neigen weiterhin dazu, ästhetisch wie gesellschaftspolitisch anspruchsvolle Produktionen auf die kleinen Bühnen zu verbannen. Bouchard hat eine lupenreine Tragödie verfasst – sie gehört dahin, wo Tragödien auch sonst gespielt werden: ins große Haus!
Tom auf dem Lande
von Michel Marc Bouchard
Deutsch von Frank Heibert
Deutsche Erstaufführung
Regie: Michael Letmathe, Bühne und Kostüme: Christine von Bernstein, Sound: Fabian Kuss, Choreographie: Tri Thanh Pham, Dramaturgie: Barbara Kerscher.
Mit: Regine Andratschke, Garry Fischmann, Natalja Joselewitsch, Christoph Rinke.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause
www.theater-muenster.com
"Was sich das da Stadttheater Münster traut, das ist eine ungebremste Macht der Emotionen auf das Publikum loszulassen. Und man ist dann wirklich auch ein bisschen durchgeschüttelt und auch ein wenig verstört nach dieser Aufführung, das soll man aber auch glaube ich sein", lobt Stefan Keim auf WDR5 (30.12.2016).
Emotional und beklemmend findet Jana Simon von den Westfälischen Nachrichten (31.12.0216) das Stück. Sie lobt die Schauspieler*innen. Christoph Rinke gebe seinem Francis anfangs eine etwas eindimensional wirkende Brutalität mit, werd dann aber mit zunehmendem Spiel immer differenzierter, sodass am Ende er die eigentlich tragische Figur sei. Für eine gewisse Komik sorge Natalja Joselewitsch.
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