Radikale Akte - Am Badischen Staatstheater Karlsruhe entwickeln Gerhild Steinbuch und Mizgin Bilmen mit Bürgerbühnen-Spielerinnen feministische Biografien
Körper ohne Grenzen!
von Elisabeth Maier
Karlsruhe, 20. April 2018. Eine Bande von Porzellanpuppen entert die Bühne. Die Spielerinnen sind gekleidet wie die ersten industriell gefertigten Modelle der Gründerzeit. Dottergelbe Ringellocken, rosafarbene Rüschenröcke, zur Kindchenschnute geschminkte Münder untermalen das Klischee vom weiblichen Körper als Objekt. Aus diesen Fesseln befreit die Regisseurin Mizgin Bilmen die Akteurinnen in der Stückentwicklung "Radikale Akte" am Staatstheater Karlsruhe dann aber: Wütend reißen sich die Frauen das Kunsthaar vom Kopf. Sie wälzen sich auf dem Boden, streifen die Spitzenblusen vom Leib. In der Produktion des Volkstheaters im Kleinen Haus stehen Karlsruherinnen, jede mit ihrer eigenen Lebensgeschichte, auf der Bühne.
Aufgezogen? Ausgezogen!
Mit ihnen hat die Autorin Gerhild Steinbuch ein poetisches Manifest entwickelt, das die feministische Debatte anhand individueller Biografien weiterdenkt. Es werden nicht nur aktuelle Diskurse reflektiert. Steinbuch sucht nach einer Sprache, die den Frauen gehört. Und es geht um nichts weniger als darum, ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln. "Ich hätte gern einen radikalbefreiten Körper / Ich hätte gern einen Körper ohne Grenzen / Der keine andere Geschichte erzählt". In den niedlichen Uniformen der künstlich als Mädchen gestylten Spielerinnen (Kostüme: Alexander Djurkov Hotter) lassen lange Unterhosen und Korsett aber zunächst für sexuelle Befreiung keinen Platz. Choreograf Constantin Hochkeppel lässt die Frauen auf der Stelle tippeln und tänzeln. Jeder Schritt ist reglementiert. Das sieht fast wie bei einer Spieluhr von anno dazumal aus.
In diese Scheinwelt knallt die riesige "Herzgranate" von Bühnenbildnerin Hanna Lenz. Dieses Herz, das täuschend organisch aussieht, hat einen Zünder. Daran schieben es die Spielerinnen über die Bühne. Schrecklich ist dieses Kunstwerk, seiner Wirkung kann man sich schwer entziehen – als grandioses Symbol für den Kampf um den eigenen Körper. Den lässt Regisseurin Mizgin Bilmen jede der Frauen auf ihre eigene Art ausfechten. Sie sind jung, alt, schlank oder füllig, sind in Deutschland geboren oder haben Migrationshintergrund. Eines aber haben alle gemeinsam. In einer von Männern dominierten Welt sind ihre Möglichkeiten beschnitten.
Auch die Erinnerung muss zurückerobert werden
Gleichberechtigung ist in allen gesellschaftlichen Bereichen noch lange nicht durchgesetzt. Wie perfide die Mechanismen der Unterdrückung greifen, zeigt gerade der Kulturbetrieb. Ausgelöst durch die Vorwürfe gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein wegen sexueller Übergriffe sprechen Frauen seit 2017 unter dem Hashtag #MeToo über ihre eigenen Erfahrungen. Das ist ein wichtiger Schritt. Doch die Unterdrückung weiblicher Perspektiven greift auf anderen Ebenen. 80 Prozent der Produktionen an deutschen Theatern sind von Männern inszeniert. Gerhild Steinbuch stellt das in ihrem Text als Fakt in den Raum. Aber ohne weinerlichen Unterton.
Ihr Text ist sinnlich, zornig und klug. Die Ehrlichkeit, mit der die 18 Karlsruher Frauen über ihre Kämpfe sprechen, überzeugt. Sie finden ihre eigenen Sprachmelodien. Und schließlich geben Steinbuch und Bilmen auch noch historischen Karlsruherinnen eine Stimme, von denen in Geschichtsbüchern wenig zu lesen ist. Magdalena Meub, 1881 geboren, war die erste Studentin an der Technischen Hochschule in Karlsruhe und die erste approbierte Apothekerin Deutschlands. Emmy Schoch emanzipierte sich im frühen 20. Jahrhundert als Modeschöpferin. Diese "Rückeroberung des Erinnerns" umfasst auch die namenlosen Trümmerfrauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die von Männern zerstörte Stadt wieder aufbauten. Die Erfolgsgeschichten dieser Vorkämpferinnen sind mehr als historische Nachholarbeit. Sie machen heutigen Generationen Mut, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Radikale Akte
Stückentwicklung mit Menschen aus Karlsruhe und Umgebung
Text: Gerhild Steinbuch, Regie: Mizgin Bilmen, Bühne: Hanna Lenz, Kostüme: Alexander Djurkow Hotter, Choreografie: Constantin Hockeppel, Dramaturgie: Beata Anna Schmutz.
Mit: Irem Baran, Leyla Baran, Lina Bischoff, Hilda Braun, Mariana Victoria del Valle Contrera, Josefa Diaz, Daiane Hecht, Derya Kestek, Linnea Mast, Anette Meier, Susann Pietsch, Katrin Schumann, N. N. , Zoe Steidle, Angelika Veith, Milena Zbornik, Claire Zschiesche, Maria Zschiesche.
Dauer: 1 Stunde fünf Minuten, keine Pause
www.staatstheater.karlsruhe.de
Von einer "assoziative Collage", die "von Erdulden und Aufbegehren handelt", spricht Andreas Jüttner in den Badischen Neuesten Nachrichten (23.4.2018). Gerhild Steinbuchs Textvorlage verknüpfe diverse Eindrücke, Empfindungen und Episoden unterschiedlichster Frauen, "vom Selbstmord der Chemikerin Clara Immerwahr im Jahr 1915 bis zum gesellschaftlichen Druck, den eine alleinerziehende Mutter erfahren kann". Doch das eigentliche Ereignis dieser Aufführung ist aus Jüttners Sicht, "wie dieses heterogene Ensemble tatsächlich zur Gruppe wird, sich gemeinsam die Bühne als Raum nimmt, die Bildideen der Regie mit Leben füllt und die mitunter bitteren, letztlich aber vorwärts drängenden Impulse des Stücktextes im wahrsten Wortsinn 'verkörpert'".
"Es ist ein ambitioniertes Projekt, bei dem Vieles sichtbar wird und doch Einiges in den verallgemeinernden Re-Mixen und den grellen Lichtern untergeht," schreibt Ute Bauermeister im Badischen Tagblatt (23.4.2018). "Es wird viel geschrieen, aber auch geflüstert. Nicht immer sind alle Passagen akustisch verständlich. Aber die Szenen werden dennoch eindrücklich." Auf der von Hanna Lenz eingerichteten Bühne stehe eine überdimensionierte 'Herzgranate', für die Kritikerin "eine Symbiose aus Emotionalität (das Herz) und der Härte des Leben zerstörenden Stahles, als Sinnbild für den Kampf um die Gleichberechtigung. Die losen Gedankensplitter regen zwar zum Nachdenken an, vermögen aber nicht wirklich zu berühren, aufzurütteln."
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hier einmal ein Artikel zum Mythos der Trümmerfrauen von einer Wissenschaftlerin. Vielleicht überdenken Sie nach der Lektüre einmal Ihren Schlusssatz.
http://www.deutschlandfunk.de/truemmerfrauen-studie-wer-deutschland-wirklich-vom-schutt.1310.de.html?dram:article_id=311180
Was nicht gesagt wurde: die Frauen haben auch gewählt damals, vor dem Krieg. Schon allein deshalb waren sie nicht einfach unschuldig. -