Composition (vor) IV - Schauspielhaus Zürich
Für die im Dunkeln ist es die Hölle
von Valeria Heintges
Zürich, 12. Juni 2020.Vor neun Monaten, zur Eröffnung der Spielzeit im September 2019, standen Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg schon einmal so leger und gleichzeitig so angespannt-gespannt vor ihrem Publikum im Schiffbau in Zürich. Ein riesiges Eröffnungsprogramm der acht Regisseure konnten sie damals ankündigen, dem eine intensive, insgesamt erfolgreiche Spielzeit folgen sollte.
Ausgeklügeltes Konzept
Neun Monate später stehen sie wieder da, diese beiden so jung wirkenden Co-Intendanten. Wieder können sie ausverkaufte Säle verkünden. Aber dieses Mal schauen die zwei nicht auf hunderte Zuschauer, die dicht gedrängt vor ihnen stehen. Sondern auf lediglich 24 streng voneinander getrennte Menschen. 24 Zuschauer in der riesigen Schiffbauhalle, das ist dann halt doch gar nicht normal. Das ist der schwache, vorsichtige Versuch, nach drei Monaten Lockdown langsam wieder ein Theaterleben in Zürich aufzubauen.
Von großen gelben Klebestreifen getrennt stehen die Zuschauer da und warten, dass sie in die Halle dürfen. Erst eine halbe Stunde später wird sich ihnen langsam die Ausgeklügeltheit des Konzepts und des extra dafür ausgedachten Abends richtig erschließen. Denn die Inszenierung "Composition (vor) IV", mit der Wu Tsang und ihre Truppe "Moved by the Motion" die Nach-Coronazeit am Schauspielhaus Zürich eröffnet, wird dreimal hintereinander mit je 24 Zuschauern gespielt.
Zwei der Teile, die sie sehen, laufen für zwei Zuschauergruppen gleichzeitig. Die eine sieht im vorderen Teil der Halle einen 30-minütigen Film auf einer riesigen Leinwand. Und merkt erst nach einem Wechsel in den hinteren Teil der Halle, dass viele der Geräusche aus dem Film hinten live eingespielt werden, von Asma Maroof an den Mischpulten und von Tapiwa Svosve auf dem Saxophon. Und dass die Tänzer*innen Tosh Basco alias Boychild und Josh Johnson hier wirklich in einer Schlammlandschaft tanzen, die schon vorne teilweise im Film zu sehen war.
Zerfließende Grenzen
Im hinteren Teil der Halle verwandeln sie sich wirklich beim Tanz im Schlamm, auf dem die Wasserlachen stehen, in graue, nasse Wesen. Wu Tsang selbst folgt ihren Tänzer*innen zuweilen mit dem Stabmikrophon, vergrößert das Schlappen und Quatschen, das Tropfen und Spritzen, das die Bewegungen im Schlamm hervorrufen. Folgt Wu Tsang ihnen? Oder verfolgt sie sie?
Vieles in dieser Arbeit ist doppeldeutig. Die Grenzen zerfließen: zwischen Geschlechtern und Hautfarben, aber auch zwischen Film und Theater, zwischen Liveperformance und Leinwandgeschehen. Und vor allem zwischen Aktion und Reaktion. Fred Moten, langjähriger Weggefährte der Truppe, hat mit Wu Tsang das Poem "Come on, get it" verfasst, aus dem Ausschnitte zitiert werden. Immer wieder geht es dabei um den Rollentausch, um Sehen, das auch ein Gesehenwerden ist, um das Fotografieren und das Fotografiertwerden. Um das Einnehmen von Sichtweisen, das gleichzeitig Sichtweisen bedingt. "If one can occupy a point of view, and take a picture, then one can be pictured, too", heißt es, oder auch "The more we read all that beauty, the more unreadable we are".
Schutz oder Ausgrenzung?
Denn das Sehen und Gesehenwerden beinhaltet immer das Einordnen in Schubladen, das Einhegen in Grenzen. Und das Ausgrenzen, das damit einhergeht. Das beschreibt James Baldwin in einem Interview im Video, das in die Arbeit hineingeschnitten ist. Die amerikanischen Schwarzen, so Baldwin, könnten schon der "grausamen Mehrheit" nicht klarmachen, dass es sie überhaupt gibt. Schon in "Composition I" und "Composition II" hat Wu Tsang mit Texten von Fred Moten und James Baldwin gearbeitet. In "Composition III" plante sie eine Weiterführung. Doch in Pandemiezeiten wurde daraus "Composition (vor) IV", nicht mehr drei, aber auch noch nicht vier, so die Erklärung für den sprachspielenden Titel.
Auf der Filmleinwand wirken die grauen Figuren dunkel und düster, aber vor allem einsam. Nachher in der "echten" Schlammlandschaft erscheinen sie – frei nach Brecht – wie die im Dunkeln, die man nicht sieht. Oder nicht sehen will. Doch wäre der Abend nicht denkbar ohne die Moten-Passage der "maintenance of the maintenance of separation". Denn zu all den Schwierigkeiten des Selbst, des Gegen- und Miteinanders und der Grenzen kommt in Pandemiezeiten die Aufrechterhaltung des Abstands, als Selbstschutz und Schutz des Anderen. Das ist schon schwer für die im Licht. Für die im Dunkeln und im Nassen und im Schlamm ist es die reine Hölle.
Composition (vor) IV
von Moved by the Motion
Inszenierung/Bühne: Wu Tsang, Kostüme: Tosh Basco, Musik: Asma Maroof, Tapiwa Svosve, Licht: Markus Keusch, Dramaturgie: Joshua Wicke.
Mit Wu Tsang, Tosh Basco, Josh Johnson, Asma Maroof, Tapiwa Svosve
Premiere am 12. Juni 2020
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
www.schauspielhaus.ch
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