Doktors Dilemma - Staatstheater Wiesbaden
Grüße aus dem Vorvorgestern
von Shirin Sojitrawalla
Wiesbaden, 3. Juli 2021. Des Doktors Dilemma besteht darin, dass er sich entscheiden muss zwischen zwei Patienten. Nur einen kann er vorm Tod retten. Man kennt das mittlerweile: Stichwort Triage, also die Priorisierung medizinischer Hilfsleistungen. Keine schöne, aber unter bestimmten Umständen nötige Maßnahme. George Bernard Shaw, der übrigens Impfgegner gewesen sein soll, benutzt das Verfahren, um oberflächlich nach dem Wert des einzelnen Lebens zu fragen, recht eigentlich aber um unterschiedliche Berufsstände auf die Schippe zu nehmen.
Quacksalber auf der Schippe
Das fängt bei der Wirtschafterin Emmy an, gespielt von der wunderbar impertinent unbeeindruckten Monika Kroll, welche die Urkunden ihres Chefs sehr nebenbei abstaubt. Im Fokus stehen allerdings Ärzte, sechs an der Zahl laufen im Stück auf, jeder auf seine Weise hinüber, manch einer erschöpft sich in sensationell doofen Heilmethoden. Allen voran der Chirurg Cutler Walpole, den Michael Birnbaum als Pepita-Auslaufmodell in Stellung bringt. Alles, was uns krank macht, verortet er in einem "Parabeutel", ein verkümmertes Organ, das sich entfernen lässt. Allein das Beispiel zeigt: So richtig witzig ist das nicht. Auf der Bühne erst recht nicht.
Wo der Tod über die Schulter lugt: Jennifer Dubebat (Mira Benser) parliert mit Sir Colenso Ridgeon (Uwe Eric Laufenberg) © Andreas Etter
Die Dialoge sind schwerfällig und die ganze Handlung umständlich konstruiert. In nur vier Wochen hat Shaw das Stück geschrieben – just saying! Die auftretenden Ärzte sind Karikaturen ihrer selbst, mehr Quacksalber als Facharzt, mal gröber, mal feiner, meist dient ihnen das eigene Fortkommen und nicht der hippokratische Eid als Leitlinie. Bernd Ripken spielt Sir Patrick Cullen mit der nötigen Soigniertheit in Stimme und Haltung, während der Wiesbadener Intendant Uwe Eric Laufenberg in der Titelrolle des Sir Colenso Ridgeon wie jemand wirkt, der jemanden spielen soll. Seine Hände krümmt er oft auf Brusthöhe, so dass sie aussehen wie Pfoten. Dabei bemüht er sich sichtlich, seiner Figur Menschlichkeit einzuhauchen, mit Gefühlen und so. Womöglich der falsche Weg. Die Schauspielerin Lina Habicht zeigt indes, wie es gehen könnte. In mehreren Hosenrollen sorgt sie nicht nur für ein bisschen Geschlechtergerechtigkeit, sondern auch für den nötigen satirischen Überschlag.
Standhaft im öden Fach
Sehr albern überformt sie ihre Figuren, spitzt sie satirisch zu, stattet jede mit eigenen blöden Grimassen und Gesten aus. Vielleicht wäre das Stück so zu retten, mit der Methode Herbert Fritsch, alles überzeichnen, verschwanken, verulken, verzappeln. So aber verharrt etwa Mira Benser in der Rolle der umschwärmten Jennifer Dubebat im heiligen Ernst des öden Rollenfachs "Schöne Frau". Das bringt hübsche Kostüme und ein bisschen Nacktheit mit sich, das Stück aber nicht voran.
Im Bühnenbild von Gisbert Jäkel: Uwe Eric Laufenberg, Bernd Ripken und Monika Kroll © Andreas Etter
"Der Arzt am Scheideweg". Was klingt wie der Titel eines Heftchenromans, ist der bekanntere deutsche Name des Bernard-Shaw-Stücks "The Doctor's Dilemma". 1906 in London uraufgeführt, zwei Jahre später in Berlin. 1976 wurde die Inszenierung von Rudolf Noelte an den Münchner Kammerspiele zum Theatertreffen eingeladen. Gefühlt seit damals ruht das Stück in der Mottenkiste. Regisseur Tim Kramer erweckt es in Wiesbaden nicht zum Leben. Man kommt sich vielmehr vor wie im Vorvorgestern gestrandet. Das liegt auch an der aufgesetzt makabren Konstruktion des Stücks, seinen bleiernen Pointen, lahmen Erregungskurven, seinem verquasten Frauenbild, seiner Nicht-Zeitlosigkeit. Nicht ernst genug, um bedacht, nicht lustig genug, um belacht zu werden. Fast nichts klärt es im Spiel, meist ergeht es sich in thesenpapierigen Monologen.
Künstler mit Größenwahn
Die einzig wirklich interessante Figur des Stücks ist der genial unmoralische Künstler Louis Dubedat, die eigentliche Hauptrolle, in der Vergangenheit besetzt mit Schauspielern wie Gustaf Gründgens oder Klaus Maria Brandauer. In Wiesbaden verkörpert Christoph Kohlbacher ihn sehr eigen, porös und durchgeknallt. Nicht nur das Klischee eines Künstlers, das auch, sondern die Essenz eines übernatürlichen Sein-Zustands, gleichermaßen kränklich wie größenwahnsinnig. Doch auch Kohlbachers Dubedat, dessen Leben hier auf der Waagschale liegt, schafft es nicht, das Stück vom Fleck zu bewegen, es hebt einfach nicht ab. Es mangelt an Tempo, Leichtigkeit und Schwung. Sehr oft stehen oder sitzen sehr viele Männer beieinander und palavern. Und palavern. Ja, das ist im sogenannten echten Leben auch so. Aber ohne mich.
Doktors Dilemma
von George Bernard Shaw
Deutsch von Hans Günter Michelsen
Inszenierung: Tim Kramer, Bühne: Gisbert Jäkel, Kostüme: Jessica Karge, Dramaturgie: Wolfgang Behrens.
Mit: Uwe Eric Laufenberg, Martin Plass, Bernd Ripken, Michael Birnbaum, Uwe Kraus, Felix Strüven, Mira Benser, Christoph Kohlbacher, Lina Habicht, Monika Kroll.
Premiere am 3. Juli 2021
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.staatstheater-wiesbaden.de
Kritikenrundschau
"Ein Abend, der sein Publikum finden wird," schreibt Brigitta Lamparth im Wiesbadener Kurier (5.7.2021). Allerdings lässt die "behäbig konservative" Inszenierung von TimmKramer aus ihrer Sicht viele Chancen ungenutzt. Bereits George Bernhard Shaw habe sich nicht "zwischen bissiger Komödie und betulicher Tragödie" entscheiden können. Dennoch hole das Ensemble "in der altgediegenen Ausstattung von Gisbert Jäkel und den feinen Roben und pfiffigen Pepita-Anzügen von Jessica Karge" einiges heraus.
Matthias Bischoff von der FAZ (6.7.2021) hält das Stück für einen unterkomplexen Schwank, der aus guten Gründen kaum noch gespielt werde. Tim Kramers Regie kapituliere vor der Statik der Handlung, den stereotypen Charakteren und den unentwegt oberschlauen Monologen. Der Kritiker empfiehlt, das Stück zurück in die Mottenkiste zu stecken.
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Und wenn die gelobte Kritikerin sagt, ohne sie! warum geht sie denn in dieses Stück? Haben das Theater Wiesbaden oder andere Theater nicht attraktivere Stücke, über die man dann berichten könnte?
... vielleicht ein bisschen zynisch?
(Anm. Redaktion: Werte Eine, der Autokorrekturfehler "Entrüsten" sorgt zu Recht für Entrüstung und geht auf die Kappe des Redakteurs. Bitte entschuldigen Sie den Fehler! Wenn die Souffleuse nicht mitinszeniert ist - wie eben bei Pollesch -, fällt sie aus der Riege der Spieler:innen raus. Ich prüfe das und korrigiere, wenn die Info gesichert ist. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow)
wie schön, dass Ihnen die Souffleuse im Besetzungskasten aufgefallen ist. War Absicht, weil Simone Betsch, wie Sie zu Recht schreiben, hier und da eindrucksvoll zum Einsatz kam. Mir ist natürlich klar, dass es nicht üblich ist, sie mitzunennen. Ist ja auch schon wieder gestrichen.
Dabei hätten es die Soufflierenden verdient, auch einmal genannt zu werden. Ist ja ein eher schlecht bezahlter Beruf, und einer, in dem ziemlich zuverlässig Frauen am Start sind.