Unerzählte Geschichte(n)

11. März 2023. Für dieses dokumentarische Werk erhielt Swetlana Alexijewitsch 2015 den Literatur-Nobelpreis: eine Geschichte der Frauen im Krieg, die sich durch die Jahrtausende aus dem Mytischen bis ins Persönliche zieht. Malgorzata Warsicka hat dafür nun nach einer Form für das Theater gesucht.

Von Valeria Heintges

"Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" von Swetlana Alexijewitsch, Theater Freiburg © Rainer Muranyi

11. März 2023. Stimmen von über 500 Frauen hat Swetlana Alexijewitsch auf Tonband aufgenommen. Sie alle berichten der Autorin von ihren Erinnerungen als Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg. Manche waren Sanitärinnen, manche Scharfschützinnen – zum Teil in hohen militärischen Rängen, manche Partisaninnen.

"Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" hat Alexijewitsch die Textcollage genannt, die 1987 erstmals als Buch erschien und 2013 erneut, jetzt ergänzt von Passagen, die die Zensur, aber auch solchen, die Alexijewitsch zunächst selbst gestrichen hatte. Auch dafür bekam die Belarussin Alexijewitsch 2015 den Literatur-Nobelpreis.

Aufgaben im Weltverlauf

Ihr Werk ist ein beeindruckendes Zeugnis von der weiblichen Sicht auf Krieg. Diese Sicht unterscheidet sich in manchen Teilen wenig, in anderen aber sehr von den allzu bekannten Erzählungen der Männer. Den Frauen geht es weniger um militärische Fortschritte, Gefechte oder Ränge. Aber viel um das Erleben, das Kämpfen als Aufgabe, die bewältigt werden muss. Um Beweggründe, die schon 15, 16-Jährige dazu verleiten, sich an die Front zu melden. Um ihre Motivation, sich der Angst zu stellen und sie in Mut zu verwandeln. Auch Tiere haben in den Berichten ihren Platz, ebenso Blumen. Die Liebe spielt eine grosse Rolle, aber auch das Haar, das abgeschnitten werden muss.

"Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" heisst auch der Abend in Freiburg, den die polnische Regisseurin Malgorzata Warsicka auf die von Agata Skwarczynska gestaltete Bühne brachte. Mit Zuzanna Bojda und Dramaturgin Laura Ellersdorfer erweiterte Warsicka den Alexijewitsch-Text um Teile von Euripides' "Iphigenie in Aulis", die sich um die Idee gruppieren, dass sich auch Iphigenie für ihr Vaterland opfert. Dass auch sie eine Frau ist, die die Aufgabe akzeptiert, die ihre die Weltenläufte zugedacht haben.

Chorische Gemeinschaft

Die antiken Passagen stehen ein wenig quer in der Landschaft – weil sie ihren eigenen Rhythmus haben, aber auch, weil die vier Schauspielerinnen sie auf einem halbrunden Stein stehend sprechen und dabei wirken, als wären sie Priesterinnen, die in einer grossen Opferschale stehen.

Krieg kein weibliches Gesicht 4 RainerMuranyi u Erzählungen auf der Opferschale © Rainer Muranyi

Der Erzählbogen der langen, unerzählten Geschichte von Frauen im Krieg beginnt also in beinahe sagenhafter, antiker Zeit, zieht dann mit den Erfahrungen sowjetischer Frauen in den Zweiten Weltkrieg und wird am Ende in die Gegenwart verlängert, wenn die Schauspielerinnen in Alltagskleidung auftreten und Zeitzeuginnenberichte von ihren iPads ablesen. Von Frauen, die im Krieg kämpfen, in der Ukraine.

Die Choreografie von Anna Godowska formt Laura Palacios, Marieke Kregel, Anja Schweitzer und Cornelia Dörr zu einem immer wieder sich ändernden, sich sehr genau bewegenden Ensemble. Tendenziell spricht Schweitzer eher harte, unerbittliche Kämpferinnen, Kregel eher jüngere, verspieltere, Palacios überzeugte, unbeugsame und Dörr eher unbedarfte. Insgesamt aber spielen sie eher eine grosse, chorische Gemeinschaft als Individuen.

Blut, Dreck und Angst

Dabei sind sie in stilisierte Armeeuniformen gekleidet. Kostümbildnerin Edyta Jermacz kombiniert Uniformelemente wie Koppel, Gürtel oder Schulterpolster, abstrahiert sie aber, so dass sich etwa Abzeichen wie Schmuck über die Schultern kringeln und sich Ledergürtel wie modische Accessoires auf der Brust kreuzen.

Die Bühne des Kleinen Hauses in Freiburg deckt ein halbrunder Vorhang aus Schnüren nach hinten ab, der auch als Filmleinwand dient und auf den Namen und Funktionen der erzählenden Frauen projiziert werden. Aus dem aufgeschnittenen Edelsteinball mit glänzender, spiegelnder Schnittfläche schraubt sich ein Gewirr von Stäben in die Höhe, daneben liegen verstreute Steinbrocken.

Krieg kein weibliches Gesicht 5 RainerMuranyi uLive-Percussion: Johanna Toivanen © Rainer Muranyi

So ästhetisch, so artifiziell, so clean kommt die ganze Inszenierung daher. Es wird von Blut, Dreck, Schmerz und Angst gesprochen, aber gezeigt wird eine hoch künstliche, spiegelglatte Welt. Auch die von Paulina Miu Kühling komponierte und von Live-Perkussionistin Johanna Toivanen gespielte Musik trägt zu dieser Irritation bei, ist sie zwar einfallsreich und abwechslungsreich illustrierend, oft aber lieblich und sehr melodisch.

Das Ästhetische brechen

Das alles lässt den Abend ein wenig weichgespült wirken, als würde man eher einem ambitionierten, engagierten Aktionsabend gegen den Krieg beiwohnen und nicht einer von langer Hand geplanten, durchdachten Inszenierung. Spannend wird es, wenn das Ästhetische gebrochen wird, etwa wenn die vier Akteurinnen vom "Vögelchen im Lindenbaum" singen, aber so zackig und beinahe schrill, dass es nicht wie ein Frühlingslied, sondern wie Militärmusik klingt. Solche Momente sind aber insgesamt zu selten.

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht
von Swetlana Alexijewitsch
Regie: Malgorzata Warsicka, Bühne: Agata Skwarczynska, Kostüme: Edyta Jermacz, Dramaturgie: Laura Ellersdorfer, Komponistin und Sound Design: Paulina Miu Kühling, Choreografie: Anna Godowska, Live-Musik: Johanna Toivanen.
Mit: Laura Palacios, Marieke Kregel, Anja Schweitzer, Cornelia Dörr.
Premiere am 10. März 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theater.freiburg.de

Kritikenrundschau

"Statt das Grauen zu verdrängen, haben die Figuren in der Freiburger Inszenierung einen Weg der Verarbeitung gefunden, nämlich im Lied", schreibt Björn Hayer in der taz (13.3.2023). Die Musikstücke verliehen "der ansonsten minimalistischen und etwas zu bilderarmen Inszenierung, deren Kulisse sich im Wesentlichen auf einige schwarzmarmorierte Felsen beschränkt, die eigentliche Expressivität – und eine unerwartete Schönheit".

"Die Konzentration auf das Wort ist maximal", konstatiert Heidi Ossenberg in der Badischen Zeitung (13.3.2023). So wenig, wie es den Protagonistinnen in den Kriegen um die genaue Schilderung von Fakten und Ereignissen ging, gehe es auch der Regisseurin und den Schauspielerinnen darum. "Hört man den Frauen zu, so ahnt man, wie es den Menschen im Krieg geht. Man fühlt ihren Schmerz."

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