Krach- und Dachgeschichten

12. März 2023. "Die Deiche müssen anders werden!" Eine Schimmelreiterin, die unverstanden ist: Am Staatstheater Braunschweig befasst sich Regisseurin Felicitas Brucker mit Theodor Storms Novelle über Geister und eine Natur, die sich nicht von Menschen beeindrucken lässt. Kann man diese Geschichte auch vom Ende her erzählen?

Von Jan Fischer

"Der Schimmelreiter" in der Regie von Felicitas Brucker am Staatstheater Braunschweig © Björn Hickmann / Stage Picture

12. März 2023. Es ist alles verdreht. Das Bühnenbild, diese eigenartigen Legodächer, die in der Sturmflut in Caligari-Winkeln durcheinandergewirbelt worden sind. Der Schimmelreiter, in Felicitas Bruckers Inszenierung Gina Henkel als Schimmelreiterin mit gruseligen Kontaktlinsen. Vor allem aber: die Geschichte. Brucker erzählt sie am Staatstheater Braunschweig rückwärts, beginnend also mit der Sturmflut, in der die Schimmelreiterin stirbt, bis hin zu ihrem Auszug bei ihrem Vater, der ihr nahelegt, doch bitte irgendwo eine Anstellung zu finden, woraufhin sie sich beim aktuellen Deichgrafen anstellen lässt, denn, so der letzte Satz der Inszenierung: "Die Deiche müssen anders werden."

Das ist schon immer so gewesen!

Vom Ende bis zum Anfang faltet sich die Geschichte zu diesem einen Satz zusammen, während Deichgrafen, Deichgrafentöchter, Knechte, die ganze Schimmelreiter-Bagage, über die kaputtgestürmte Geometrie der Legodächer turnt, sich mit der Schimmelreiterin verkracht, deren Ambitionen sie nicht verstehen. Weil: "Das ist schon immer so gewesen." Kein Grund, irgendwas anders zu machen. Zeitabschnitte werden mit Zwischentiteln getrennt: "Zwei Jahre zuvor", steht da, "21 Jahre zuvor", gerne mit Pferde-, Regen- oder Meerfilmen, über die ein Negativ-Effekt gelegt wurde. Immer aber beziehen sie sich – wie die ganze Inszenierung – auf diesen einen Fixpunkt des tödlichen Deichbruchs, der Überflutung, weil der neue Deich zwar hält, aber der alte nicht und Schimmelreiterin Hauke Haien den gewonnenen Koog nicht aufgeben will.

Schimmelreiter 3 BjoernHickmann uAuf den Dächern: Krach mit der Schimmelreiterin © Björn Hickmann / Stage Picture

Auch bei Brucker bleibt Storms "Schimmelreiter" eine auf diese norddeutsche Deichgegend verdichtete Geschichte über Menschen, die versuchen, die Natur zu zähmen – und eine Natur, die sich nicht zähmen lässt. Hochaktuell also in Zeiten der multiplen Klimakrisen, und so muss auch an Storms zwar altertümlichem, aber gar nicht sperrigem Text nicht mehr viel gemacht werden bis auf Kürzungen, vor allem der Rahmenerzählung. Und ein paar mehr Dialoge braucht es.

Schlaglichter auf Haukes Leben

Dennoch wird die Geschichte hier in Schlaglichtern erzählt, die sich klar auf Hauke Haien konzentrieren: Brucker liefert hier zwar einen "Schimmelreiter" ab, der aber ist vor allem eine Charakterstudie der Hauptfigur. Nicht auf das Unglück wird hingeführt, sondern in der umgekehrten Erzählung auf die Figur und ihre Motive. Haien kommt bei ihr wesentlich besser weg als beim Storm. Die eine entscheidende Szene, in der Haien Ole Peters nachgibt, als der den alten Deich nicht verstärken will, passiert hier fast nebenbei. Wo bei Storm Haien eine zwiespältige Gestalt ist – mit genialer, neuer Deichidee, oder aber manchmal bis zu Gewalttätigkeit brutal und stellenweise bis zur Arroganz stur – ist sie hier eher eine sozial inkompetente und deshalb ausgegrenzte Innovatorin. Auch die brachiale Szene, in der Haien eine Katze tötet, weil sie ihm einen Vogel wegnehmen will, wird in Braunschweig eher als Selbstverteidigung gedeutet.

Viel Dachgeturne, viel Misstrauen

So ist das ganze Dachgeturne eine Geschichte über eine, deren gute Ideen an ihrem Außenseitertum scheitern – dieses Scheitern also die Schuld derjenigen ist, die nicht über ihre Eigenartigkeit hinwegsehen können und ihr deshalb misstrauisch begegnen. Hier liegt auch der Grund für den Geschlechtswechsel Haiens: Sie unterläuft Erwartungen, die anderen kommen damit nicht klar. Das lässt sich positiv deuten als ein Plädoyer für mehr Offenheit gegenüber Menschen, die anders sind. Aber auch negativ als die Idee, dass einzelne Innovationen das ganze Klimaproblem schon lösen werden, es also nur die Verantwortung aller ist, die guten Ideen zu erkennen. Das mag aber zu viel in Bruckers "Schimmelreiter" hineingelesen sein.

Schimmelreiter 2 BjoernHickmann uFür die Anderen ist sie eindeutig anders: Gina Henkel als Schimmelreiterin im Lichtkegel © Björn Hickmann / Stage Picture

Problematisch an dieser Charakterstudie über den Dächern hinter Priel und Hallig ist, dass Brucker eine ansteigende Handlung zu einer abfallenden umbaut: Der Höhepunkt passiert zuerst, die Hinführung danach. Zwar gibt dabei das unvermeidliche Unglück Dialogen und Aktionen ungleich mehr Gewicht – sorgt aber zumindest in der Mitte für eine paar dramaturgische Hänger. Gegen Ende aber fängt sich die umgekehrte Struktur wieder, gerade der letzte Satz schwingt mit dem gewaltigen Gewicht der ganzen Wasserfluten, die Jahrzehnte später das Dorf verschlucken werden. Und so gelingt Brucker ein zumindest ungewöhnlicher "Schimmelreiter", der auch nicht vor dicken Beats und Neonröhren zurückschreckt, welche Häuserdächer säumen oder überhaupt davor, alles einfach mal komplett umzubauen.

 

Der Schimmelreiter
nach Theodor Storm
Regie: Felicitas Brucker, Bühne: Viva Schudt, Kostüme: Henriette Müller, Musik: Philipp Weber, Video: Florian Seufert, Licht: John Fürntratt, Dramaturgie: Ursula Thinnes.
Mit: Gina Henkel, Nina Wolf, Cino Djavid, Robert Prinzler, Gertrud Kohl, Götz van Ooyen, Tobias Beyer, Luca Füchtenkordt.
Premiere am 12. März 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-braunschweig.de

Kritikenrundschau

"Die heutige Verortung, ohne Heutiges anzusprechen, und der Rückwärtsgang beim Erzählen machen die Aufführung eher sperrig", findet Andreas Berger in den Braunschweiger Nachrichten (13.3.2023). "Man wird nicht hineingesogen in die spannende Geschichte, der Mythos wirkt ausgebremst, ohne dass die Botschaft klarer würde." Auch die Besetzung Haukes mit einer Frau und das Erzählen rückwärts können den Kritiker nicht überzeugen.

"Eine interessante, etwas angestrengte Konstruktion, bei der vor allem die Gespenstergeschichten zwischen den Playmobil-ähnlichen Plastikdächern resonanzlos verhallen", schreibt Katrin Ullmann in der taz (15.3.2023). "Da helfen weder Nebelschwaden noch weit aufgerissene Augen." Fern von Aberglauben oder Psychologie erzähle Brucker Storms Novelle und rücke dabei unsere Gegenwart in den Fokus, ohne den Klimawandel direkt zu benennen. "'Die Deiche müssen anders werden', so lautet Haiens intrinsischer Impuls, der hier am Ende steht – und lange nachhallt."

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