Der Kaufmann von Venedig - Theater Ulm
Rache oder Gerechtigkeit
16. März 2023. William Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig" trägt so einigen Ballast mit sich. Am Theater Ulm hat Jasper Brandis die Komödie nun mit nüchternem Blick und mit einigen Kürzungen inszeniert.
Von Thomas Rothschild
16. März 2023. Man kommt nicht drum herum. Spätestens seit 1945 wird in Deutschland aus dem "Kaufmann von Venedig", also dem Stück über Antonio, ein "Jude von Venedig", das Drama Shylocks, das zugleich darauf Antwort geben soll, ob Shakespeare Antisemit war und wie man seine Versuchsanordnung zu interpretieren habe.
Das Märchenmotiv der Freierprobe, das "Der Kaufmann von Venedig" unter anderem mit "Turandot" teilt, wirkt aus heutiger Sicht, geben wir es zu, eher fade als poetisch oder gar komisch. Komödie ist "Der Kaufmann von Venedig", weil der Jude, zur Freude seiner Widersacher (und der Zuschauer) überlistet und weil er hereingelegt wird, und zwar von einer Frau, wie Falstaff von den Weibern von Windsor: eine knifflige Ausgangslage für Getreue der einfachen Dichotomien. Mit Befriedigung darf das Publikum, anders als bei "Nathan der Weise", auch registrieren, dass dem Juden die geliebte Tochter gestohlen wird. Schließlich erlangt sie dadurch den richtigen Glauben und die Rettung ihrer Seele.
Gerade jüdische Regisseure haben mit ihrer größeren Sensibilität und ihrer geringeren Befangenheit Möglichkeiten gesucht und gefunden, den antisemitischen Aspekt, manifestiert im Bild vom rachsüchtigen und blutrünstigen Juden, der bei Shakespeare ja mit einer Lesart konkurriert, die Shylocks Leid betont, zu bewältigen. Fritz Kortner, indem er antisemitische Klischees herbeizitierte, Peter Zadek, indem er, nach einem ersten Versuch in Ulm, Gert Voss am Burgtheater als Shylock in diametralem Gegensatz zu diesem Klischee besetzte. Beide Inszenierungen sind zu Recht als Höhepunkte in die Aufführungsgeschichte eingegangen.
Sachlicher Blick
Jasper Brandis, der sich nach einem Ausflug ins leichte Genre zu Yasmina Rezas "Kunst", als Schauspieldirektor mit dem "Kaufmann von Venedig" aus freien Stücken vom Theater Ulm verabschiedet, von jenem Haus also, in dem solche hervorragenden Persönlichkeiten wie Kurt Hübner, Peter Zadek, Norbert Kappen, Hannelore Hoger, Judy Winter, Angela Denoke, der Dirigent Philippe Jordan den Grundstein für ihre Karriere gelegt haben, hat sich für die auf Kinolänge zusammengestrichene Übersetzung von Werner Buhss aus dem Jahr 2006 entschieden und geht die Sache mit kühler Nüchternheit an.
Die Kästchengeschichte hat er gleich ganz weggelassen. Sie wird lediglich erwähnt, nicht dargestellt. Shylock (Markus Hottengroth) trägt bei Brandis ein weißes Hemd mit einer Art Mandarinkragen und einen schwarzen Anzug mit Weste, keinen Hut und keine Schläfenlocken, inmitten einer bunt gekleideten karnevalistischen Umgebung. Antonio (Maurizio Micksch) tritt im Pyjama auf, Bassanio (Vincent Furrer) im Schlafrock. Lanzelot Gobbo (Frank Röder) zappelt sich clownesk, inklusive Hitlergruß, durch mehrere Rollen.
Nachhilfe in Nationalökonomie
Und Portia (Stephanie Pardula anstelle der ursprünglich vorgesehenen Stefanie Schwab) räkelt sich als stumme Femme fatale, deren Text von der Hinterbühne her über Lautsprecher ertönt. Während Shylocks Tochter Jessica (Natascha Heimes, die auch den zur Episode verkürzten Tubal als Karikatur eines Juden spielt) entführt wird, veranstalten die anderen, maskiert, ein angedeutetes Pogrom. Jessica, fast schon christianisiert, beteiligt sich am Rande.
Es beginnt mit einem kurzen Einführungsvortrag über die Geschichte des Geldverleihs, einer Nachhilfe in Nationalökonomie. Dazu machen die Schauspieler*innen, wie so oft, Musik, die sich mal schöner, mal weniger schön anhört und mit der Handlung so gut wie nichts zu tun hat. Irgendwie scheint "Windmills of Your Mind" immer oder eben auch nie zu passen. Es folgen in Abständen kurze Zitate über Zinsgeschäfte und das christliche Zinsverbot, über eine der Voraussetzungen für die Judenfeinschaft also.
Shylocks Klage
Die berühmte Passage "Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften?" leiert der Ulmer Shylock zunächst herunter, fast wie eine lästige Pflichtaufgabe. Doch dann entwickelt seine Klage gerade durch den Verzicht auf Sentimentalität eine argumentative Eindringlichkeit.
Ehe Portia sein Schicksal trickreich ins Gegenteil wendet, erwartet Antonio die Vollstreckung des Urteils – die Entfernung von einem Pfund Fleisch an seinem Herzen – in der Pose des gekreuzigten Christus. Am Ende steht Shylock da, abgesondert von den Anderen wie Nathan in den legendären Lessing-Inszenierungen von Claus Peymann und Friedo Solter. Er zieht einen Revolver aus der Hosentasche und schießt – auf seine Kontrahenten. Ist das Rache oder die gerechte Strafe? Die Antwort liegt im Auge des Betrachters. Finita la commedia.
Der Kaufmann von Venedig
Komödie von William Shakespeare aus dem Englischen von Werner Buhss
Regie: Jasper Brandis, Bühne: Andreas Freichels, Kostüme: Maike Häber (nach Entwürfen von Andreas Freichels), Licht: Johannes Grebing, Dramaturgie: Natalie Broschat.
Mit: Maurizio Micksch, Vincent Furrer, Rasmus Friedrich, Stephanie Pardula, Stefanie Schwab, Natascha Heimes, Frank Röder, Markus Hottengroth.
Premiere am 15. März 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.theater-ulm.de
Kritikenrundschau
Jasper Brandis inszeniere den Stoff in Ulm als Warnung vor zeitlosem Antisemitismus, schreibt Franziska Wolfinger in der Augsburger Allgemeinen (17.3.2023). "Die Liebeswirrungen sind größtenteils gestrichen – inklusive des letzten Akts und der bekannten Kästchenszene." Shylock ist bei Brandis ein Getriebener, ein ständig Gemobbter – fast mitleiderregend. "Sein Sinnen auf Rache und sein Beharren kommt nicht von ungefähr." Brandis streife auch die Frage nach Täter und Opfer. In solchen Mobbingkonstellationen ist das schließlich nicht immer schwarz-weiß und klar zu beantworten – Parallelen zum aktuellen Fall um 'Drachenlord' Rainer Winkler und die Eskalationen seiner Internet-'Hater' drängen sich auf."
"Schnöselige Antisemiten, Shylock als Rächer: Jasper Brandis inszeniert 'Der Kaufmann von Venedig' mit zwiespältigem Ergebnis", so Marcus Golling in der Südwest Presse (17.3.2023). Die Zinskritik der Gegenwart genüge schon, um den Geldverleiher Shylock vernichten zu wollen. "Jasper Brandis hat die Vorlage mit ihren teils unerträglich antisemitischen Passagen ausgebeint und neu interpretiert. Ein radikaler Versuch mit diskutablem Erfolg: So gut es ihm gelungen ist, der zynischen Komödie alles Komödiantische auszutreiben, so steril, ätherisch und distanziert wirkt manches".
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