Shoot/ Get Treasure/ Repeat - Mark Ravenhills großer Gesang von Krieg und Liebe
Unsere schöne Welt
von Christiane Enkeler
Düsseldorf, 9. Januar 2010. "Freiheit" und "Demokratie" – hat man Mark Ravenhills Manuskript von "Shoot. Get Treasure. Repeat." bis zum Ende durchgelesen, haben sich die Begriffe so weit abgenutzt, dass man nur noch leere Hülsen zu lesen meint. 16 Szenen und ein Epilog diskutieren auf 184 Manuskriptseiten Terror, Krieg, Anschläge, Gut und Böse, Zivilisation und Barbarei, Sicherheit; es geht darum, wie diese Begriffe in der Öffentlichkeit diskutiert werden, wie sie Selbst- und Fremdbilder bestimmen, wie Verunsicherung und Angst ins Private hineinwirken und wieder nach außen, und "fast jedes dieser Fragmente ist nach einem existierenden Epos benannt", schreibt Ravenhill im Vorwort. Er will das Große im Kleinen erzählen und umgekehrt. Er stellt Material zur Verfügung.
Wirklichkeitssplitter
Eine Mutter erhält die Nachricht, dass ihr Sohn im Krieg gefallen ist. Ein Paar will sich in eine "gated community" zurückziehen, um den Sohn vor den Bedrohungen des Alltags zu schützen, eine Frau wird bei einem Verhör gefoltert, ein Chor beklagt einen Bombenanschlag. Ursprünglich waren die 17 Szenen als tägliche Serie in der Tageszeitung The Guardian unter dem Titel "Ravenhill for Breakfast" veröffentlicht und Dramolett für Dramolett während des Edinburgh Festivals 2007 uraufgeführt worden. Und den kompletten Brocken auf einmal zu lesen, macht sehr mürbe; im Verlauf des Manuskripts geht die Wucht der ersten Szene "Die Troerinnen" verloren, und Bitterkeit verliert sich in Redundanz und Zurschaustellung, die allerdings auch zu den Stilmitteln gehören. Die Figuren sprechen im Chor und vereinzelt, beziehen – bei Ravenhill – das Publikum ein oder spielen in kleinen Szenen wie mit vierter Wand. Das Stilmittel Wiederholung ist geschickt: die Rede von der Freiheit, gefangen im Loop.
Zucken mit Monteverdi
In der Inszenierung des polnischen Regisseurs Jan Klata sieht man dieses Element am klarsten in wortlosen Zwischenszenen. Am Düsseldorfer Schauspielhaus hat Justyna Łagowska dem Team ein Rahmen gebendes Bühnenbild entworfen: eine weiße Flughafenhalle. Aus der Wartesituation heraus entwickeln sich die einzelnen Szenen, begleitet von dem Ensemble "Neue Düsseldorfer Hofmusik", das Monteverdi spielt und damit auch dramatisch-darstellerisch den Text begleitet: Eine Frau regt sich auf, die Musik zuckt mit. Zu elektronischer Musik wiederum zucken die Figuren: Sie wanken nach vorn und knicken in Hüfte und Knien ein wie Zombies, schütteln mechanisch die Köpfe und nicken. Dann wieder sitzen sie auf den Bänken und wiederholen rhythmisch dieselben Gesten: Eine Frau zupft sich Kleid und Haar zurecht und muss dauernd prüfen, ob sie nach Schweiß riecht, andere kratzen sich manisch, dann wieder fahren alle gleichzeitig auf und sehen hinter sich und unter die Bänke (Choreografie: Maciek Prusak).
Das Team arbeitet in den neun ausgewählten Szenen vor allem zu Beginn viel Humor heraus – aber damit kann man die Figuren auch weit von sich weg halten. Durch die offene Flughafenhalle dauert es sehr lange, bis Intimität entsteht; die anderen Wartenden reagieren bei Ehestreitigkeiten, oder wenn ein schwules Pärchen sich knuddelt. Der Chor spricht oft in die Überwachungskameras, schräg nach oben, die Masse verwandelt sich also in einzelne Gesichter. Die Sprechenden wenden uns dabei den Rücken zu, Konfrontation wird vermieden. Das Publikum wird kaum angesprochen, bis auf die letzte Szene – "Die Geburt einer Nation" –, die zaghaft ein bisschen Kumpanei-Gefühl herstellt, indem das Ensemble immer näher an die Rampe rückt und damit zu den Zuschauern. Es spielt "eine Gruppe Kunstvermittler", die die "Dritte Welt" durch Kunst heilen will (und übrigens unter anderem vom Untergang des Bergbaus spricht und einer Utopie von Kulturstadt – während zeitgleich die Kulturhauptstadt in Essen eröffnet wird).
Magischer Realismus
Oft überlappen bei Ravenhill Alltag und Ausnahmezustand. Eine Folterszene, in Düsseldorf nicht gezeigt, spielt in einem ganz normalen Wohnhaus. "Magischen Realismus" nennt Ravenhill dieses Zusammenrücken von verschiedenen Lebenswelten.
Der Text ist eine schwierige und trotz Ermüdungserscheinungen (oder vielleicht gerade deswegen?) faszinierende Gratwanderung, zu der noch nicht alles gesagt sein kann, nicht nur deswegen, weil noch nicht alle Szenen gezeigt wurden.
Wie könnten die Szenen mit einem anderen Rahmen funktionieren? Brauchen sie überhaupt einen? Wie sähen die stilistisch völlig unterschiedlichen Szenen aus, wenn man sie einheitlich spielte? Also anders als Klata, der auch innerhalb der einzelnen Szenen realistische und groteske Spielweisen mischt, ganz deutlich in der Szene "Die Mutter", in der zwei Soldaten einer Mutter den Tod ihres Sohnes mitteilen: Soldaten-Auftritt mit Stechschritt, die verrückte Albernheit der verdrängenden Mutter und dann ihre Einsamkeit – was berührend wirkt. Gut gespielt sind die kleinen Szenen übrigens fast alle.
Dieser Text ist eine echte Herausforderung für hoffentlich noch viele Bühnen.
Shoot/ Get Treasure/ Repeat
von Mark Ravenhill
Regie: Jan Klata, Bühne: Justina Łagowska, Kostüme und Video: Mirek Kaczmarek, Musik: Neue Düsseldorfer Hofmusik, Choreographie: Maciek Prusak.
Mit: Meriam Abbas, Lisa Arnold, Ulrike Arnold, Markus Danzeisen, Gunther Eckes, Matthias Fuhrmeister, Daniel Graf, Christiane Roßbach, Michael Schütz, Thiemo Schwarz, Pierre Siegenthaler, Alexander Steindorf.
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de
Die letzte Arbeit von Jan Klata, die auf nachtkritik.de besprochen wurde, war Das Gelobte Land in Łodz im September 2009. Die Bedeutung Klatas für die polnische Theaterszene lässt sich aber auch in den Theaterbriefen aus Polen nachlesen: vom Februar 2008, vom Juni 2008 und vom September 2008.
Kritikenrundschau
"Ravenhills Kurzdramenzyklus 'Shoot / Get Treasure / Repeat' böte wahrlich Aktualität genug", meint Ulrich Weinzierl in der Welt (11.1.): Die 16 Minidramen ergäben "das Mosaik einer Gesellschaft zwischen Hysterie und Sicherheitswahn, beherrscht vom fernen, virtuell trotzdem nahen Krieg im Irak und am Hindukusch und den Folgen des Fanatismus der Selbstmordattentäter." Ravenhills "in den Schwarzen Humor getriebene Skepsis" ziele "auf Grundsätzliches: auf die Fragwürdigkeit der gleichsam missionarischen Sendung, Demokratie und Freiheit weltweit notfalls auch mit Waffengewalt durchzusetzen." All das aber interessiere den polnischen Regisseur Jan Klata in Düsseldorf "offenkundig nicht im Geringsten. Er hat es zuwege gebracht, dem Text jegliche Brisanz zu nehmen, die bei der Lektüre ins Auge springt." Klatas "Trick, die konkreten, auch 'anstößigen' Details auszublenden oder zu verfremden, das Geschehen im Irgendwo-Nirgendwo einer Parabel anzusiedeln", mache die Produktion "ungeachtet eines bemühten Ensembles öde und leer".
Von einem "spannenden, dichten Theaterabend" berichtet hingegen Ulrike Gondorf auf Deutschlandradio Kultur (9.1.). Die Szenen Ravenhills kreisten "um das Thema Bedrohung und Sicherheit, um unsere vielfältigen, fruchtlosen und manchmal zu neuen Gefahren sich steigernden Strategien, unseren Ängsten zu begegnen." Da der Flughafen ein "'sensibler Bereich' in puncto Sicherheit" ist, sei es "eine geschickte Wahl des Regisseurs Jan Klata, die Szenenauswahl (...) in der Wartezone eines Flughafens anzusiedeln." Der polnische Regisseur erkläre im Programmheft, "dass er sich dieser Ersten (westlichen) Welt, in der der Sicherheitswahn grassiert, nicht zugehörig fühlt. Gleichsam einen Blick von außen auf das Phänomen richtet. Diese Distanz zahlt sich aus in einem Abend, der mit reichen theatralischen Mitteln die Szenen in eine große Künstlichkeit, eine artistische Übersteigerung hineintreibt und zur Kenntlichkeit verfremdet."
Andreas Rossmann schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.01.): Die Szenen unter den großen mythologischen Titeln würden auf "Alltagsfragmente" schrumpfen, Szenen zwischen "Angst und Terror, Alarmismus und Traumatisierung, Kriegserlebnissen und gated communities", doch was "konzise, schlaglichtscharf und pointierend sich zum Mosaik aktueller Schrecken zusammenfügen soll", falle schon auf dem Papier "zu redselig" aus. Die "grobschlächtige Inszenierung" von Jan Klata dehne noch weiter, "indem sie die Personen zu einer Schicksalsgemeinschaft vereint und sie in Justyna Lagowskas Bühnenbild in den Warteraum eines Flughafens abschiebt".
Jürgen Berger zitiert in der Süddeutschen Zeitung (15.01) Mark Ravenhill: "Da es uns weiterhin in Richtung große Historiendramen ziehe, die Welt inzwischen aber leider eine fragmentierte sei, habe er einen Zyklus von sechzehn Kurzstücken geschrieben und die Fragmente zum "shuffeln" freigegeben", schreibe Ravenhill in einem Vorwort, schreibt Berger. Ravenhills Stück werde von Jan Klata zum "großen Gesamtkunstwerk" erklärt, "Nachrichten aus der fragmentierten Welt". Klata kürze die Szenen noch einmal stark und beseitige Redundanzen. Immer wieder käme es "zu schönen Paar-Miniaturen im öffentlichen Raum. Jeder gibt geheimste Ängste preis, ist gleichzeitig aber peinlich darauf bedacht, dass keiner was mit- bekommt." Obwohl das genug gewesen wäre, habe Klata mehr gewollt und die "brüchige Vorlage unter einem Ballast von Inszenierungsbeigaben" begraben.
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Diese Mischung aus Einfühlung und Distanz war in der letzten Szene besonders gut ausbalanciert.
Insgesamt sage ich mit Frau Enkeler: Ein faszinierender Text, eine interessante, ziemlich gute Inszenierung, ein engagiertes, hochrangiges Ensemble.
Ich habe ein bisschen Kritik: Der Abend hat für mich als Zuschauer bei weitem nicht so gut angefangen, wie er für mich aufgehört hat. Mich stören zwei Dinge, am ersten Chor: Das Anatmen durch deutlich bis in die letzte Reihe wahrnehmbares schniefen. Und die Eintönigkeit der Haltung, die mir sofort die Ohren verstopft. Mir ist klar, dass die Arbeit an einem Chor kein Zuckerschlecken ist. Doch es muss eine andere Möglichkeit geben, oder gefunden werden, in einem Chor einen Rhythmus entstehen zu lassen, als dieses vielerorts praktizierte überdeutliche Anatmen und Durchskandieren. Auf mich wirkt das abstoßend, weil es mir vor allem eines zu vermitteln scheint: zur Schau gestelltes deutsches Pflichtbewusstsein. Dass ungeheuer viel Disziplin in einem Chor notwendig ist, steht außer Frage, aber muss man das so strebermäßig machen? Dies ist übrigens kein persönlicher Angriff auf Herrn Siegenthaler oder den Rest des Ensembles, nur ein Punkt den ich gerne zur Diskussion stellen würde. Interessiert das noch wen?
ps. das bühnenbild hat auch nicht geholfen: lebloses realismus.