Das blaue blaue Meer - Nis-Momme Stockmann guckt in den Kopf eines Verlierers
Ausweitung der Schmerzzone
von Astrid Biesemeier
Frankfurt, 22. Januar 2010. Wer ist eigentlich dran schuld, wenn Menschen in Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus vor sich hinvegetieren, sich die Birne mit Alkohol zudröhnen, um das Leben erträglicher zu machen oder um einfach nur zu vergessen? Die Frage nach der Schuld ist eine Frage, die Nis-Momme Stockmanns "Das blaue blaue Meer" durchzieht. Auch wenn sie letztlich offen bleibt, so wird eines klar: Der Einzelne jedenfalls nicht.
Darko wohnt in einer Plattenbausiedlung, in der Selbstmord zum Alltag gehört und körperlich und seelisch Versehrte immer wieder seinen Weg kreuzen oder unter der Dusche ausrutschen und dort verrecken. Darko ist ein underdog, der von sich selbst sagt, dass er säuft, bis sich sein Hirn nach außen stülpt.
Er verliebt sich ausgerechnet in die 19-jährige, mit Narben übersäte Wohnsiedlungsprostituierte Motte. Aus dieser Liebe schöpft Darko Hoffnung, eine Hoffnung, die in Darkos kaputter Welt so irrational ist wie der Glaube, dass sich Wünsche erfüllen, nur weil man ganz fest an sie gedacht hat als eine Sternschnuppe vom Himmel fiel. Eigentlich weiß dieser merkwürdige Hoffnungsakrobat Darko auch, dass er ohne Auffangnetz sein Leben aufs Spiel setzt: "Das hier ist nicht Afrika, nicht Südamerika. Das hier ist Deutschland. Und trotzdem sind wir arm und dumm. Wir sind verloren. Das hier ist so angelegt. Von Architekten, von der Politik. So angelegt, dass wir hier verlorengehen sollen. (...) Das hier ist ein Lager. Eine Maschine."
Wer spricht denn da?
Allerdings: Nis-Momme Stockmann schafft es mit seinem Text nicht, diese "Maschien", das "Lager" auf der Bühne situativ zu erfassen. Stockmann hat in der trostlosen Betonwelt vor allem seinem Darko in den Kopf geblickt. Und ihm zum Kommentator des eigenen Lebens gemacht. Unablässig kreuzen sich in seinen Worten Beobachtungen, Schuldfragen, Empfindungen und Selbstreflexion. Er ist eine Wort- und Gedankenschleuder, die Sätze abfeuert, wie: "In einer realistischen Sicht auf den Kosmos ist Hoffnung doch nur eine Extension des Schmerzes. Vereinsamt. Seltsam. Gewalttätig." Sätze, bei denen man nicht mehr so genau weiß, wer hier spricht. Noch Darko? Oder schon Nis-Momme Stockmann pur?
Es liegt nicht an Nils Kahnwald der in der Frankfurter Uraufführung Darko spielt, dass es zunehmend schwerer wird, Darko in seine Welt zu folgen. Kahnwald stemmt mit seiner Präsenz den Text, rettet Darkos Würde in Hoffnung und Verzweiflung.
Auch Regisseur Marc Lunghuß und sein Bühnenbildner Tobias Schunck haben durchaus versucht, Stockmanns "Das blaue blaue Meer" bühnenwirksam zu machen. Da sind zwei Musiker, die Tocotronic-Songs spielen, wie "Alles was ich will ist, nichts mehr mit euch zu tun haben" und Henrike Johanna Jörissen, die hier als angry young woman Mottes Zorn ins Schlagzeug hämmert. Da flimmern Bilder von Wohnsilos aus Beton und deren Bewohnern über die aus Eierkartons bestehende Wand und liegen Leuchtschlangen auf dem Boden, die wie ein billiger Plastiktraum der mehrfach erwähnten Sterne wirken.
Anstrengung in den Sielen des Textes
Irgendwann wird Jörissen als Motte vor dem geplanten Zoobesuch Stofftiere zwischen diese Lichterketten stellen und sichtbar machen, dass allein ein Zoobesuch für Darko und Motte in ebenso unerreichbarer Ferne liegt, wie die Sterne.
Doch all das vermag wenig daran zu ändern, dass "Das blaue blaue Meer" des 1981 geborenen Nis-Momme Stockmann, der für sein Stück "Der Mann der die Welt aß" beim Heidelberger Stückemarkt 2009 mit dem Haupt- und Publikumspreis ausgezeichnet wurde und seit dieser Spielzeit Hausautor am Schauspiel Frankfurt ist, wenig von der Bühne her gedacht ist. Was nichts an der Dringlichkeit der aufgeworfenen Fragen und Themen ändert, schon aber an der Bereitschaft, diesen zu folgen. Denn bei der Frankfurter Uraufführung hört und sieht man vor allem die Anstrengungen, aus diesem Text etwas Bühnentaugliches zu machen. Schade.
Das blaue blaue Meer (UA)
von Nis-Momme Stockmann
Regie: Marc Lunghuß, Bühne: Tobias Schunck, Kostüme: Grit Gross, Musik: Jan Weichsel.
Mit: Nils Kahnwald, Henrike Johanna Jörissen und den Musikern Jan Weichsel und Daniel Brandel.
www.schauspielfrankfurt.de
Mehr lesen über Nis-Momme Stockmann? Seinen Mann, der die Welt aß hat nachtkritik.de sowohl in der szenischen Einrichtung beim Theatertreffen-Stückemarkt als auch bei seiner Uraufführung in Heidelberg besprochen. Für sein Stück war Stockmann außerdem sowohl mit dem Autorenpreis des Heidelberger Stückemarkts als auch mit dem Werkauftrag des tt-Stückemarkts ausgezeichnet worden.
Kritikenrundschau
Der Autor Nis-Momme Stockmann könne "etwas Ungewöhnliches", meint Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.1.): "Weil er das Gewöhnliche will. So zeigt er den Schrecken und die Abgründe ganzer Welten (seiner Welt) als Beziehung, Spannung, Anziehung, Abstoßung, Vernichtung, Sehnsucht, Verzweiflung: zwischen Menschen. Sein Verfahren ist tapfer human." Stockmann sei "nicht der Richter einer verkommenen Welt, nicht der Schuldsprecher und Ankläger der Theorien und Diskurse, mehr der beobachtende Verteidiger der Opfer, der Verständnis zu bieten hat." Auch in "Das blaue blaue Meer" zeige er "Horrorszenen aus dem asozialen Leben, deren Ungewöhnlichkeit gewöhnlicher, alltäglicher ist, als es sich der gewöhnliche Theatergänger träumen lässt." Doch unter der Regie von Marc Lunghuß hielten sich die Frankfurter Uraufführungsschauspieler "die Schreckens- und Sehnsuchtsfiguren flott mikrophonig vom Leib." Sie fielen "über die Elendsfiguren her, als würden sich wohllebige und ziemlich indolente Oberschichtenkids in Unterschichtenkrüppel einfühlstrampeln wollen. Laut, lärmig, gut gelaunt (...). Und immer gut gemacht. Aber doch halt: zynisch." So blieben "die Figuren auf dem Papier eines Stückes, dem hier zwar eine Szene gemacht, aber keine Wirklichkeit geschaffen wird."
"Das blaue blaue Meer" sei "eine Geschichte um die kleinen Sehnsüchte der Loser – einmal nach Norwegen ans Meer fahren, einmal in den Zoo gehen -, um die in einer so genannten Sozialsiedlung zusammengepferchten Verlierer dieser Gesellschaft, ums Saufen, Missbrauchen, sich Umbringen", schreibt Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (25.1.). Stockmann schenke "seinen Underdogs aber eine Portion Poesie, eine Sprache wie aus einer anderen Welt – wenigstens ab und zu." Die Inszenierung von Marc Lunghuß habe dagegen "etwas Routiniertes", er verwende, "was man im Theater jetzt so verwendet". Das sei "nicht einfallslos, lässt aber in anderthalb Stunden auch keinen besonderen, schon gar keinen eigenwilligen Zugriff auf das Werk erkennen."
In der Süddeutschen Zeitung (29.1.) warnt Christine Dössel davor, Stockmanns "Suffkopf" Darko zu unterschätzen. Man könne ihn "als sozialen Charakter aber auch nicht so ganz glauben, weil durch ihn hindurch immer auch sein Autor spricht, und der ist das Gegenteil von einem Underdog: ein aufstrebender Jungdramatiker, der gerade schwer gehypt wird". Stockmann könne "sehr unterhaltsam, plastisch und direkt schreiben", das wirke weder "konstruiert" noch "maniriert" und habe "nichts Anmaßendes, weil er auf dem Boden der sozialen Tatsachen und der kleinen Leute bleibt, für die er ein echtes Interesse zeigt". Ob der großen Empathie für seine Figuren, gewähre der Autor ihnen "sprachliche Fluchten ins Sehnsuchtsvolle, Träumerische, Poetische", was allerdings bisweilen "an die Grenze des Kitsches", zu "arg blinkenden Metaphern" und Zaunpfahls-Winken führe. Lunghuß' Inszenierung verharre viel zu sehr in dem "improvisatorischen Jugendclubmilieu, das die Bühne von Tobias Schunck suggeriert". Der "spillerige, sprachgewandte" Nils Kahnwald werfe sich als Darko "schwer ins Zeug", sei hier "sein eigener Moderator und Kommentator". Aus seinem "großen inneren Monolog" mache die Inszenierung "lärmig und betont verspielt" einen "Show-Act".
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"Restauration" würde ich das nicht nennen, es sei denn, wir verständigten uns irgendwie darauf, "Werbekampagnen" ganz pauschal mit dieser Vokabel zu belegen. Warum es aber so weit treiben, ich meine, das quasi interessant zu schreiben, das
irgendwie zu dämonisieren. "Tocotronic" hat eine neue Platte
heraus, ein Theaterliebhaber und Kritiker lobt einen jungen
Autoren, und der junge Autor ist offenbar über den dummen
Begriff des "Politischen" furchtbar erhaben, schreibt eigentlich ein Stück, das mit allem da von vornherein fix und fertig scheint:
in summa ziemlich langweilig !
@ 2
Stimme Ihnen weitestgehend zu: Schon der Begriff einer Kritikerin scheint mir da recht beredt zu sein: "Der Autor schenkt seinen Personen ... eine poetische Sprache, Poesie ... ." Na, danke auch ! Mit "Realismus" hat das in der Tat wenig
am Hut, eher schon mit dem durchaus legitimen Verfahren der
"Überspitzung": Aber gerade in verfolg dieses Verfahrens ist der einmal fix und fertige ideologische Kitsch über den "Sozialen
Wohnungsbau", den Herr Stockmann da entfaltet, so fasse ich
dieses (trotz der Kürze vor allem "altklug" palierende) Drama
letztlich auf, eher irreführend, zumal: Finden Sie mir mal ne
"Siedlungsprostituierte" : die Realität ist da viel weiter, viel
organisierter, die Akteure viel beweglicher in all ihren Selbst-
behauptungen, Selbstthematisierungen etc. kennend, und viele bringen es schlichtweg fertig, zu leben; nach Musils "Schwärmern" kann gerade darin das Grausame bestehen.
Ich sehe durch das Stück den Schuld-Einschüchterungs-
Diskurs tatsächlich eher ausgebeutet als irgendeine konstruktive Variante zu ihm dargestellt !