Hamlet - Jan Bosse inszeniert Mitmachtheater
Und wo bleibt die Haltung?
von Ariane von Graffenried
Zürich, 3. März 2007. Wer zum Teufel ist Hamlet? Ein sehnsüchtiger Zauderer? Ein irrer Grübler? Ein neurotischer Melancholiker? Oder gar ein philosophierender Terrorist? Das Regietheater hat ihn tausendmal gedeutet, ohne ihm aber jemals ganz auf die Schliche zu kommen.
Gleichwohl wagt es sich fortwährend - mal glücklich und mal kläglich - an des Rätsels Lösung um Shakespeares längste und berühmteste Tragödie. Auch Regisseur Jan Bosse riskiert eine Umsetzung im Zürcher Schiffbau. Das ist kaum erstaunlich, scheut Bosse sich bekanntlich nicht vor großen Stoffen und hat damit Erfolg, wie die Einladung seiner Inszenierungen "Die Leiden des jungen Werther" vom Gorki-Theater Berlin und "Viel Lärm um nichts" aus Wien zum diesjährigen Berliner Theatertreffen zeigen.
Spieglein, Spieglein an der ... ich kenn mich wieder
In Bosses Interpretation des beladenen Klassikers ist Hamlet ein Schauspieler, der gesamte Theaterraum Schloss Helsingör. Das Publikum nimmt Platz in Stéphane Laimés ausgeleuchtetem Thronsaal, an mit weißen Tüchern bedeckten Tischen. Die Tafel für die Gäste ist mit Kelch, Teller und Besteck gedeckt. Ein langes Rednerpult mit Mikrofon vervollständigt die im Rechteck angelegte Tischformation, in der Mitte ein cremefarbener Teppich als Spielfläche. An den Tischen sitzen die Schauspieler neben den Zuschauern. Klar ist von Anfang an: Das Publikum spielt mit als Teil des verrotteten Hofstaats, Gäste und Verbündete zugleich. Es kann sich ebenso wie das Geschehen in den überdimensionalen Spiegeln an den Hallenwänden beobachten.
Bosse deklariert die Theaterszene zum Leitmotiv und hält bis zum Schluss konsequent daran fest. Täuschung ist Programm. Joachim Meyerhoffs Hamlet ist weder Fisch noch Vogel, weder Würstchen noch Hund und kann doch alles spielen: den Dozenten, den Verwöhnten, den Lustigen, den Tragischen, den Gequälten und den Amüsierten. In grauem Designer-Pullover, grauer Buntfaltenhose und mit bravem College-Boy-Scheitel könnte er vom Webdesigner bis zum Schauspieler so ziemlich alles sein, was einigermaßen kreativ und modern scheint. Meyerhoff hat eine scherzhafte Leichtigkeit im Spiel, kommentiert und ironisiert im selben Zug, ist unberechenbar, abwechslungsreich, treibt seine Figur in ernsthafte Verzweiflung, dann wieder in die Karikatur, von der Präsentation in die Repräsentation, von Verfremdung in Naturalismus.
Doppel mit Wirkungsgarantie: Meyerhoff und Selge
Ebenso vielseitig, doch undurchschaubar bleibt Edgar Selges Claudius, der Usurpator im Anzug: In einer Szene ist er Diktator, in der nächsten Demokrat, einmal rationaler Atheist, einmal inbrünstig Betender. Franziska Walsers Gertrud darf nicht viel mehr als im ockerfarbenen Abendkleid an der Seite des neuen Gatten wandeln, gefolgt von Jean-Pierre Cornus steifem und amüsantem Polonius. Die behauptete Vielschichtigkeit der Figuren wird allerdings nie glaubwürdig ausgeführt - nur Cathérine Seifert mag man die moderne und selbstbewusste Ophelia in Puffärmeln ausnahmslos abnehmen. Für ihren dargestellten Irrsinn gibt sich Ophelia auf dem Rednerpult selbst den Oscar (Mikrofonhalter) und dankt unter Tränen den Zuschauern.
Der von Eva Plessner gut modernisierte Text wird von Bosse mit viel Witz, Ironie und Klamauk ausgestattet. Dafür ist man dankbar, zumal die Inszenierung über drei Stunden dauert. Das Theater parodiert sich durchgehend selbstreflexiv, etwa wenn der komödiengewandte Mike Müller als Horatio, in Schuluniform gezwängt, Hamlets Souffleur mimen darf, wenn Letzterer, in Tischtuchtoga, den wilden Pyrrhus in pathetischem Gestus zum Besten gibt - ein Seitenhieb auf vermoderte Schauspielkunst. Wie Juroren sitzen Rosenkranz und Güldenstern an den Tischen und beurteilen Hamlets Präsentation. Der eine befindet sie als gut, dem anderen ist sie zu lang.
Einnehmendes Mitmachtheater, bloß: fehlt die Haltung
Regisseur des Abends bleibt aber immer Hamlet. So bittet er einen vermeintlichen Zuschauer auf die Bühne, der mit Schweizer Akzent einen Monolog sprechen muss, um daraufhin vom Protagonisten auf dem Regiestuhl schikaniert zu werden: "Lauter bitte! Ist kein einfacher Raum." Als das Publikum lacht, droht Hamlet alle umzubesetzen.
Bosses Inszenierung ist einnehmendes Mitmachtheater, das weder peinlich befängt noch schmerzt. Wenn Hamlet in der Totengräberszene sagt, der verstorbene Hofnarr Yorick habe am Hofe "die herrlichsten Einfälle" gehabt, so scheint es bei Bosse am Schauspielhaus ähnlich. Wenn Gertrud "mehr Inhalt, weniger Kunst" fordert, so muss man ihr Recht geben.
Gesellschaftliche Fragen werden nur am Rande gestellt. Mike Müller darf als Horatio bis zum Auftritt des Geistes eine Minute Politsatire machen und kündigt in der Manier eines Politikers der Schweizerischen Volkspartei "das Unheil für unseren Staat" an, wird aber sogleich von einer Tangoeinlage Gertruds und Claudius' unterbrochen. Die Suche nach den Antworten bleibt bloßes Spiel, die Theatermetapher bleibt im Theaterraum gefangen. Man ist gewillt zu fragen: Wozu das Ganze?
Hamlet
von William Shakespeare
deutsch von Elisabeth Plessen
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Arno P. Jiri Kraehahn. Mit: Jean-Pierre Cornu, Oliver Masucci, Joachim Meyerhoff, Mike Müller, Tomas Flachs Nóbrega, Michael Ransburg, Cathérine Seifert, Edgar Selge, Franziska Walser.
www.schauspielhaus.ch
Kritikenrundschau
Alle lieben Jan Bosse, alle lieben Hamlet. Tobi Müller in der Frankfurter Rundschau hat Bosses Hamlet als Spiel über den Tod, die Toten und die Beziehungen gesehen , die wir zu ihnen unterhalten. Christine Dössel hat eine Menge Einwände, die leisen Szenen etwa habe Bosse ganz bewusst seinem Konzept geopfert. Trotzdem ist sie angetan in der Süddeutschen Zeitung. Ein Anonymus in Welt online hat "selten so gelacht " bei Hamlet und ernennt den Hauptdarsteller Joachim Meyerhoff zum "derzeit legitimen Herrscher im Hamletland". Schwer beeindruckt vom - österreichisch gesprochen - umeinander teufelnden Joachim Meyerhoff zeigt sich Dirk Pilz in der Berliner Zeitung. Gar nicht erbaut dagegen Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung von der Zuschauer und Spieler bunt durcheinander würfelnden Sitzordnung. Und: der halb nackte Edgar Selge sieht aus der Nähe ja kein bisschen aus wie der Geist von Hamlets Vater.
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 26. April 2024 Toshiki Okada übernimmt Leitungspositionen in Tokio
- 26. April 2024 Pro Quote Hamburg kritisiert Thalia Theater Hamburg
- 25. April 2024 Staatsoperette Dresden: Matthias Reichwald wird Leitender Regisseur
- 24. April 2024 Deutscher Tanzpreis 2024 für Sasha Waltz
- 24. April 2024 O.E.-Hasse-Preis 2024 an Antonia Siems
- 23. April 2024 Darmstadt: Neuer Leiter für Schauspielsparte
- 22. April 2024 Weimar: Intendanz-Trio leitet ab 2025 das Nationaltheater
- 22. April 2024 Jens Harzer wechselt 2025 nach Berlin
neueste kommentare >
-
RCE, Berlin Talentiertester Nachwuchs
-
RCE, Berlin Manieriert und inhaltsarm
-
Kritik an Thalia Theater Hamburg Struktur
-
Pollesch-Feier Volksbühne Motto von 1000 Robota
-
Essay Berliner Theaterlandschaft Radikal gute Idee!?
-
RCE, Berlin Magie
-
Pollesch-Feier Volksbühne Punkrocker
-
Die kahle Sängerin, Bochum Bemerkenswert
-
Intendanz Weimar Inhaltlich sprechen
-
Akins Traum, Köln Unbehagen mit dem Stoff
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Der gute Wille zur Macht, welcher jede sprachliche Verständigung begleitet, wird hier vom Familialen ins Politische hinein verlängert und auch auf den theatralen Produktionsprozess selbst bezogen: Ein Zuschauer, welcher herangeholt wird, um stellvertretend den Text von "Hekabe" vorzusprechen, wird von Meyerhoff, welcher vor Vater und Mutter gehorcht und zusammenzuckt wie ein geschundenes Tier, gnadenlos niedergemacht. So funktioniert das tragisch-paradoxe Verhältnis zwischen Macht und Ohnmacht.
Und wenn Meyerhoff am Ende sagt: "Ich bin tot" und "Ich sterbe", dann geht es hier tatsächlich um Sein oder Nicht-Sein. Wer spricht? Meyerhoff. Wer stirbt? Die Figur Hamlet im verabredeten Rahmen des Theaterraums, welcher ein Spiel-Zeit-Raum ist, in dem der Ablauf von Zeit und somit der historische Prozess erfahrbar wird. Während der Pause hatte Meyerhoff/Hamlet einfach weitergespielt und das kriegerische Potential der Zuschauermasse "als Norweger" angezweifelt. Doch am Ende sind alle Theaterfiguren mausetot. Nur der Geist der Aufführung wird weiterleben, jedenfalls in meiner Erinnerung. Danke für diese herausragende Arbeit!