Ödipus – Alice Buddeberg inszeniert Sophokles in Hamburg
Wer will schon in Theben leben? Eben!
von Mounia Meiborg
Hamburg, 19. Oktober 2012. Als alles verloren ist, die Schande erkannt, die Ehefrau und Mutter tot, die Augen ausgestochen – da tut Ödipus für einen Moment lang so, als stünde ihm die Welt offen. "Qué sera, sera?", singt er, "was wird sein?", und wiegt sich in den Hüften wie man ein Baby wiegt. "Will I be happy, will I be rich?", fragt er, ein Greis, der sich den Zustand kindlicher Unwissenheit herbeisehnt. Sein Gesicht leuchtet. Das, was kommen musste, weil die Götter es so prophezeit haben, ist aber längst geschehen.
Alice Buddebergs Inszenierung setzt ein mit einem Ödipus, der seit Jahren in der Fremde umherzieht. Konsequenterweise sieht er auch aus wie ein Penner, der sich vom Bahnhofsvorplatz auf die Bühne des Hamburger Schauspielhauses verirrt hat: barfuß, fettige Haare, enge Trainingsjacke. Markus John spielt den greisen Ödipus als einen Mann, der nicht vergessen kann. Die Schultern hochgezogen als hätte er Schmerzen, die Hände zittrig, schwankt er zwischen Aufbäumen und Resignation. Er streckt die Arme aus, um um Hilfe zu bitten – und stockt mitten in der Bewegung, um sie wieder fallen zu lassen. Nützt ja eh nichts. Manchmal blitzt verzweifelter Spott in ihm auf. "Wer will schon in Theben leben? Eben", dichtet er dann. Oder er beschimpft sich schreiend, und doch voller Selbstironie, als "Schmerzensmann" – ein Ausdruck, der in aktuellen Feuilletondebatten allzu sensible Männer bezeichnet.
Ein kleiner Junge als Seher
Dieser Anfang ist toll. Und eigentlich ist es eine gute Idee, das Ende vorweg zunehmen und das Drama, das ja vor Unwahrscheinlichkeiten nur so strotzt, gleichsam aus Ödipus' Erinnerung und damit aus der Distanz zu betrachten. Aber leider kann der Rest des Abends diese Spannung nicht halten. Manche Passagen geraten wie das pflichtmäßige "Was bisher geschah" im Vorspann einer Fernsehserie. Ödipus ist durch einen Zufall zum Herrscher Thebens geworden. Ohne es zu wissen, hat er seine Mutter geheiratet. Weil in der Stadt die Pest herrscht, holt er sich Rat bei einem Seher. Der ist in Buddebergs Inszenierung kein alter Mann, sondern ein kleiner Junge. Trotzig steht er da, die Arme vor der Brust verschränkt, und will nicht mit der Sprache herausrücken. Als er am Ende doch verraten hat, dass Ödipus selbst der Mörder ist, den er sucht, schlingt er seine kleinen Arme um ihn und sagt mit piepsiger Stimme: "Du armer Mann, du tust mir leid."
Erzähl es noch einmal, Ödipus
Die Lesart macht Sinn – wie in dem Märchen "Des Kaisers neue Kleider" spricht ein Kind als einziges aus, was alle anderen zwar sehen, aber nicht zu sagen wagen. Andere Regieeinfälle wirken dagegen bemüht. Der Chor tritt in ausgepolsterten Fleischkostümen auf, scheinbar nackt. Während die Darsteller Ödipus zwingen, seine Geschichte nochmal zu erzählen, fassen sie sich an den Stoffbusen. Wird Ödipus hier aus dem Paradies vertrieben? Oder soll das lustig sein?
Auch einige der Figuren werden nicht ganz klar. So bekommt Kreon, Ödipus' Schwager, bei Janning Kahnert einen verschlagenen Zug. Er scheint machthungrig – ohne dass die Inszenierung mit diesem Merkmal etwas anfangen würde. Schritt für Schritt nähert sich Ödipus der Wahrheit. Er erfährt, dass er als Kind ausgesetzt und adoptiert wurde, dass er später, ohne es zu wissen, den Vater erschlagen hat. Meist steht er dabei alleine auf dem Eiland in der Mitte der Bühne.
Trotzige Iokaste
Cora Saller hat, um diese und weitere Inseln herum, die Stahlstreben des Bühnenbodens freigelegt. Auf ihnen balancieren die Schauspieler. Ein Vorhang an der Hinterseite der Bühne spiegelt jede ihrer Bewegungen. Auf der Bühne herrscht schon von Anfang an Dekonstruktion und Enttarnung. Wie Jokaste und Ödipus, Ehefrau und Ehemann, sich bis zum Schluss weigern zu glauben, dass sie Mutter und Sohn sind, ist überzeugend gespielt. Wie sich die trotzige Jokaste von Irene Kugler lustig macht über Göttersprüche, die nicht eintreffen. Wie sie dann, nachdem sie es begriffen hat, Ödipus den Reißverschluss der Jacke zuzieht und in dieser Geste so viel Mütterlichkeit liegt. Und wie sie schließlich mit einem Eimer Wasser auf die Bühne kommt, den Kopf hineinhält, und es ihr erst im dritten Anlauf gelingt, sich zu ertränken. Übrig bleiben nach 90 Minuten einige schöne Schauspieler-Momente und eine tolle Bühne. Aber was die Regisseurin eigentlich über das Offensichtliche hinaus sagen will mit dem Ödipus, bleibt unklar. Und so wirkt die Inszenierung an manchen Stellen leblos wie aus einem Lehrbuch.
Ödipus
von Sophokles, übersetzt von Walter Jens
Regie: Alice Buddeberg, Bühne: Cora Saller, Kostüme: Martina Küster, Musik: Stefan Paul Goetsch, Dramaturgie: Nicola Bramkamp, Licht: Annette ter Meulen.
Mit: Markus John, Janning Kahnert, Juliane Koren, Irene Kugler, Martin Pawlowsky, Julia Riedler, Martin Wißner, Sören Wunderlich.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause.
www.schauspielhaus.de
Kritikenrundschau
Volker Corsten in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (21.10.2012) findet Alice Buddeberg wirke mit ihrer "Instant-Version" des "Ödipus" vor allem "ratlos". Vieles in dieser "seltsam inkonsequenten Inszenierung " führe nirgendwo hin. Bevor sich herauskristallisiere, wohin ein "interessantes Bild", ein "Thema", eine "Haltung" führen könnten, seien sie "schon wieder verblasst". Auch das symbolträchtig wirkende Bühnenbild werde kaum genutzt.
Dagegen bewertet Monika Nellissen in der Tageszeitung Die Welt (22.10.2012) Buddebergs "Ödipus" als stärkste Leistung der bisherigen Schauspielhaus-Saison. Sie vertraue dem Wort, klammere tagespolitische Anspielungen aus, lasse "Pausen und Stille" zu und konzentriere das geschehen auf die Ödipus-Figur von Markus John. Buddeberg sehe Ödipus nicht in der Nähe heutiger Politiker, sondern als Schmerzensmann: "er selbst ist die Tragödie". In keinem Moment denke man als Zuschauer an das heutige Griechenland, man erlebe stattdessen ein "in seiner Zeitlosigkeit erschreckendes Drama als Schicksalsoratorium gewissermaßen". Doch trotz all dem, trotz "eindringlicher Bilder" und einiger großer Schauspielerleistungen mache die "Entschlusslosigkeit zwischen strenger Personenführung und –platzierung, maskenhaftem stereotypem Spiel, karikaturhafter Überzeichnung und albernen Witzchen" diese Inszenierung am Ende nicht zu "einem großen Wurf".
Maike Schiller schreibt im Hamburger Abendblatt (22.10.2012): Markus John, der den Ödipus die ganzen zwei Stunden lang blind spiele, verkörpere die Figur "auf bemerkenswert kleiner Fläche ebenso bemerkenswert raumgreifend". Eine Parabel auf die Politik der Gegenwart versuche Buddeberg erst gar nicht und das sei gut so. Lieber halte sie sich eng an die "eigentlichen Geschichte", erzähle sie "von hinten nach vorn und wieder retour" wie einen Kriminalfall. Sie konzentriere sich auf "das Drama der Begegnungen", lasse Kreon (Janning Kahnert) als "sich windenden Getreuen auftreten, der überzeugend darlegt, warum es nur von Vorteil sein kann, gerade keine Führungsposition anzustreben. Wer will schon tatsächlich Verantwortung tragen?" Das Ensemble spiele "ausnahmslos auf hohem Niveau".
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