Geizhals - Marc von Henning modernisiert Molières Moralkomödie für das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin
Quadratur des Stuhlkreises
von Christian Rakow
Schwerin, 30. August 2013. Nachdem der letztjährige Komödien-Spielzeitauftakt in Schwerin mit Christian Weises Oscar-Wilde-Umsetzung Der ideale Mann eine ziemlich glatte Rutschpartie vom gepflegten Boulevard in den ungepflegten Trash bot, haben sich die Macher des Mecklenburgischen Staatstheater anscheinend gesagt: Dieses Jahr mal ganz anders, mal etwas Filigrankomödie, so um ein paar Denkecken herumgewunden!
Und also durfte für Molières "Der Geizige" Marc von Henning ran, der sich mit Shakespeare-Nacherzählungen auch in Schwerin – hier 2008 mit Der Sturm – Meriten als Stückerneuerer erworben hat. Von Henning beamt Molières Typen und Konfliktkonstellationen direkt in die mecklenburgische Gegenwart: Der "Geizhals" Harpagon ist bei ihm ein Reeder aus Wismar, der seine Kinder – selbstredend schmarotzende Langzeitstudenten – widerwillig am Subventionstropf nährt. "Ein Kind gleich ein Eigenheim", beziffert er die Kosten ihrer "Aufzucht".
Mediation, nicht Meditation
Wie gehabt schielt Harpagon auf eine Hochzeit mit der um etliche Jahre jüngeren Mariane, in die sich auch sein Sohn Cléante (er heißt hier Konrad) verguckt hat. Élise verheimlicht derweil ihre Liaison mit Harpagons Adlaten Valère alias Viktor (hier ein verschlagener Handlanger Marke Russenmafia). Weil aber diese Liebeshändel, die bei Molière die Fabel antreiben, sich nicht eben schlank ins Heute übersetzen, verzichtet von Henning gleich komplett auf Konfliktentwicklung und geht in medias res: Wir wohnen einer Schlichtungsrunde im Hause Harpagon bei – einer "Mediation, nicht Meditation", wie es heißt. Sie hat den Touch einer Familientherapie. Im Stuhlkreis können die Angehörigen umständlich ihre eigenen Rollen erörtern und ihre Meinungen übereinander kundtun. Vater beklagt den Diebstahl seines Geldkästchens. Klingt alles etwas öde? Ist es auch.
PeterLicht hat genau das mit seiner Version des "Geizigen" vorgemacht. Allerdings bedurfte es zur Dynamisierung seines Familiengemäldes einer ganz eigenen poetischen Vision, einer skurrilen sprachlichen Verdichtung der ökonomischen und sittlichen Motive. Bei von Henning klingen die Dialoge eher nach Probenimprovisationen über den Molière-Text, angejazzt mit etwas Vulgärsprache. Unermesslich wird die Fallhöhe, wenn die wunderbar trocken pointierende Brigitte Peters als Kupplerin Frosine plötzlich doch einmal gemäß dem Original vorrechnet, welche Kostenersparnis Harpagon sich mit einem biederen Mädel wie Mariane einkaufen könnte.
Nicht dass man Molières Moralkomödie nicht in ein modernes Tableau überführen könnte.Mittelgroßer Showdown
Weil jeder der Anwesenden hier immer schon über alles Bescheid weiß, kommt auch das elegante Spiel der Missverständnisse, das bei Molière die Komik auslöst, nicht einmal in Ansätzen auf. "Ich will euch nicht mein Leben lang unterhalten", nölt Harpagon seine alimentierten Kinder an. "Sehr unterhaltsam ist das nicht", nölt Cléante alias Konrad zurück. Quod erat demonstrandum.
Mit minimalem Einsatz bewältigen die Akteure ihre Quadratur des Stuhlkreises, gehen mal hierhin, mal dorthin, während hinter ihnen ein riesiger Spiegel den Zuschauersaal reflektiert, wo das Schweriner Publikum in seiner sympathischen Zugewandheit auf eine harte Probe gestellt wird. Belohnung winkt ihm einzig von einigen erzählerischen Einschüben, wenn die Crew geschlossen zur Rampe tritt und erklärtermaßen "absurde" Gedankenbilder präsentiert: "Stellen Sie sich vor, Sie sind eine alte Glühbirne und werden immer beschimpft, weil sie zu viel Strom fressen…" Das hat sich von Henning gut bei Forced Entertainment abgeschaut.
Kurz nach der Pause deutet der Abend für einige Minuten an, welche Richtung noch möglich gewesen wäre: Da bezichtigt Jochen Fahr als Harpagon seinen Speichellecker Valère alias Viktor (Kai Windhövel) des Diebstahls seines Geldkästchens. Ein mittelgroßer Showdown. Beide kommen mit Frack und hoher Adelsperücke ausstaffiert daher. Valère schraubt seine Stimme hoch und tänzelt aufgesetzt. Harpagon reißt immer wieder seine Augen weit auf (soll heißen: Ich werd' nicht wieder!), lässt die Augenbrauen wie Scheibenwischer hin und her springen (Was wird das wohl!) oder schiebt seine Unterlippe ruckartig vor (Jetzt werd' ich Dir aber!). So hätte das Ganze wohl als Barockkomödie ausgesehen. Man hat nicht viel verpasst.
Geizhals
Komödie nach Molière
In einer Fassung von Marc von Henning
Regie: Marc von Henning, Bühne und Kostüme: Jörg Kiefel, Dramaturgie: Ralph Reichel.
Mit: Jochen Fahr, Sebastian Reusse, Klaus Bieligk, Brigitte Peters, Lucie Teisingerova, Christoph Bornmüller, Caroline Wybranietz, Christoph Götz, Kai Windhövel, Sonja Isemer.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.theater-schwerin.de
Kritikenrundschau
Der Beginn so umständlich wie das Ende plakativ, beschwert sich Holger Kankel in der Schweriner Volkszeitung (2.9.2013). Vor allem werde immerzu über Geld geredet. Dabei sähen sich die Zuschauer hinten im Spiegel selbst in die Augen. "Dass Geld und die damit zusammenhängenden Zumutungen ... den Treibstoff unseres Lebens bilden, hätten wir vielleicht auch so geahnt." Das "wortreiche Palaver" wabere "hölzern, gedrechselt, gewollt witzig und bedeutungsvoll" von der Bühne. Der Höhepunkt: die ironische-verfremdend gesprochene originale Molière-Passage nach der Pause.
Die neue Textfassung von Marc von Hennig sei eine völlig neu geschriebene "Gegenwartsgeschichte", findet Dietrich Pätzoldt in der Ostsee Zeitung aus Rostock (2.9.2013). Sie spiele schonungslos mit Molières Typen und Szenen. Von Henning inszeniere "unaufgeregt", eher mit "feinem Humor".
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