Weihnachten an der Front - Klaus Hemmerle inszeniert Jérôme Savarys Realmärchen-Revue an der Esslinger Landesbühne
Heidschi Bumbeidschi – nix bum
von Verena Großkreutz
Esslingen, 11. Dezember 2014. 160 000 Engländer, 300 000 Franzosen, 300 000 Deutsche waren bereits von Granaten zerfetzt, von Gewehrfeuern durchsiebt oder beim Bajonettangriff aufgespießt worden. An Heiligabend 1914 aber war an der Westfront plötzlich alles ganz anders. Jetzt verbrüderten sich für wenige Stunden viele der verfeindeten deutschen, britischen und französischen Soldaten, nahmen sich die Freiheit zum Waffenstillstand. Sangen gemeinsam Weihnachtslieder, kickten zwischen den Schützengräben, klappten die Mini-Weihnachtsbäume aus und teilten Schnaps, Zigaretten, Kuchen. Dann ging's zurück in die Schützengräben, und sie schossen wieder aufeinander. Auf obersten Befehl. Bis heute jedoch haben diese kleinen Leuchtfeuer des Friedens Symbolkraft.
Jérôme Savary hat 1981 eine Revue aus diesem Real-Märchenstoff gemacht. Sein "Weihnachten an der Front" ist jetzt an der Esslinger Landesbühne zu sehen, pünktlich zur Weihnachtszeit und zum 100-jährigen Kriegsgedenken. Zwei sandsackumzäunte Schützengräben sind in die grau-schwarze Schräge der Esslinger Bühne eingelassen. Darin drängeln sich je vier Soldaten. Nebel schwebt über der finsteren, kahlen Szenerie, leises, dunkel-sphärisches Grummeln ist zu hören. Beide Gräben sind frontal zum Publikum ausgerichtet, rechts die Deutschen, links die Franzosen. Sie richten die Waffen deshalb direkt ins Publikum, müssen das Beobachten der gegnerischen Seite mimisch spielen.
Schnauze voll vom verordneten Wahnsinn
Angesichts des heiligen Abends regen sich aber bald die Sehnsüchte nach der warmen heimatlichen Stube mit leuchtendem Christbaum und den lieben Nächsten. Einer der Franzosen stürmt in die Schusslinie der Deutschen, um eine Flasche Champagner zu retten, ein Deutscher birgt unter Lebensgefahr ein Feuerzeug, um die Kerze im Gewehrlauf zu entzünden. Keiner schießt. Der Krieg ruht schon zu Beginn des Stücks, die bibbernden Protagonisten im Schützengraben haben die Schnauze voll vom verordneten Wahnsinn. Dann langsame Annäherung: "Nix mehr Bumbum!", "We not shoot, you not shoot", "Fröhliche Weihnachten, Fritz". Gemeinsames Schnapssaufen, Herumalbern, Singen, Kicken. Bis der Befehl kommt, wieder Stellung im Schützengraben zu beziehen. Ein Schuss fällt. Einer stirbt. Das ist der ganze Plot.
Im Theater das Kriegsgrauen visuell überzeugend darzustellen, ohne sofort an die eigenen natürlichen Grenzen zu stoßen, ist so gut wie unmöglich. Deshalb hat Savary ja eine Revue aus dem Stoff gemacht, die das Geschehen an der Front durch Gesangseinlagen neuer, aber auch altbekannter Songs und Rückblenden ins Leben der Soldaten ironisch bricht. Etwa durch einen Conférencier: In Esslingen singt und spielt ihn Kristin Göpfert im Anzug, mit Glatze und androgynem Schuhdoppel: rechts Springerstiefel, links Damentreter. Sie singt als "Satan" ein französisches "Boum Boum"-Lied, spielt einen Theaterdirektor, der das Publikum um Spenden bittet für die "tapferen Jungens dort draußen in der Nacht", die an der Front ihre Pflicht erfüllen. Göpfert macht ihre Sache gut. Witzig auch ihr Lied "Der Soldate ist der schönste Mann im Staate", derweil die acht Soldaten-Jungs in Orgelpfeifenanordnung als dünnbeinige Grazien in Tutu und mit rosa Häubchen ein wackeliges Tänzchen vollführen. Aber die Inszenierung von Klaus Hemmerle bleibt insgesamt in viel zu bravem und beschaulichem Rahmen, und das Ensemble spielt vorsichtig. Alte und neue Ensemblemitglieder müssen wohl erst noch zueinanderfinden. Noch steht man ja am Beginn der zweiten Ära Friedrich Schirmers.
Wer spielt die Angst im Nacken?
Keine Frage: Die Jungs in den Gräben sind sympathisch. Und sicher wollte Hemmerle in den vielen langatmigen, weil ereignislosen Szenen des Abends dem öden Warten und Nichtstun zwischen den Kampfhandlungen Raum geben. Wichtiger aber wäre es, wenn die Darsteller das "als ob"-Spiel überwänden. Minenfelder und Stacheldrahtverhaue zeigt das Bühnenbild nicht, muss es auch nicht, aber die Angst im Nacken der Soldaten und die ständige Präsenz des Todes müsste spürbar sein. Die kurzen Einlagen Ulf Deutschers als neckisch-charmanter, mit der Sense wedelnder Tod, dem eine schwarze Clownsnase im Gesicht klebt, reichen da nicht aus – anders seine Auftritte als Postbote, der mit präziser Gestik Einberufungsbefehle und Feldpost überbringt. Grotesker, schriller könnte auch Germanias altdeutsches Lied "Aber Heidschi Bumbeidschi" in Szene gesetzt sein, wobei das gesangliche Niveau der DarstellerInnen durchweg recht gut ist. Mit Oliver Krämer und Eberhard Hahn stehen dem Ensemble zudem versierte Multiinstrumentalisten als Begleitung zur Seite.
So plätschert der Abend trotz des explosiven Themas vor sich hin, und auch die Rückschauen ins Leben der acht Soldaten ennuyieren mehr und mehr, auch – und das ist eine Schwäche des Stücks – weil sie fast immer dasselbe thematisieren: die zurückgelassene Geliebte. Siebenfaches rhythmisches Stöhnen tönt etwa aus den Gräben, wenn der eine von seinen erotischen Abenteuern mit der Frau Generalin berichtet. Dass es auch pfiffiger geht, zeigt die Tanz- und Gesangsnummer "Woll'n Sie meiner Frau nicht mal die Uhr aufziehn", mit der der Soldat Jo (Nils Thorben Bartling) vor seinem Einberufungsbefehl im Duo mit seiner Partnerin Lola (Sheila K. Eckhardt) beim Varieté Furore machte. Er, sehr groß, gibt die Frau, sie, sehr klein, den Mann. Herrlich!
Weihnachten an der Front
von Jérôme Savary und Helmut Ruge
Musik von Christian Hillion und Joachim Kuntzsch
Deutsch von Wolfram Kremer
Regie: Klaus Hemmerle, Bühne und Kostüme: Frank Chamier, Musikalische Leitung: Oliver Krämer, Choreographie: Pavel Mikulastik, Dramaturgie: Marcus Grube.
Mit: Nils Thorben Bartling, Stephanie Biesolt, Ulf Deutscher, Sheila K. Eckhardt, Frank Ehrhardt, Kristin Göpfert, Ralph Hönicke, Benjamin Janssen, Christian A. Koch, Johannes Schüchner, Frederic Soltow, Florian Stamm, Musiker: Oliver Krämer und Eberhard Hahn.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.wlb-esslingen.de
Zuweilen streife der bunte Abend das sentimentale Klischee, findet Thomas Rothschild in der Stuttgarter Zeitung (13.12.2014). Aber das mache nichts angesichts der leidenschaftlichen Intensität, mit der die Schauspieler allesamt ihre Rollen ausfüllen. "Da die acht Männer im ersten Teil vorwiegend im Schützengraben hocken und nur ihre Köpfe, allenfalls gelegentlich die Oberkörper zu sehen sind, bleibt Klaus Hemmerle wenig Spielraum für Bewegungsregie." Zum Glück verzichte er auf billige Gags und konzentriert sich auf den Dialog: Weihnachten in Zeiten des Krieges.
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