Den Aiwanger-Preis gewonnen

23. September 2023. Die Uraufführung des Stücks kommt mit 25 Jahren Verspätung. Es ist die Geschichte eines Mannes, der als Kind vor den Nazis nach Großbritannien entkam, und nun nach einem Menschenalter zurückkehrt, um hier auf die alten mörderischen Mentalitäten und Reden zu treffen. 

Von Thomas Rothschild

"Der Unheimliche" von Robert Muller an der Landesbühne Esslingen © Patrick Pfeifer

23. September 2023. Das geflügelte Wort, wonach Bücher ihre Schicksale haben, gilt auch für Theaterstücke. Friedrich Schirmer hat, ehe er sich endgültig von der Intendanz der Württembergischen Landesbühne Esslingen verabschiedet, die er seit 2019 mit Marcus Grube teilt, solch ein vom Schicksal gebeuteltes Drama an das Licht der Öffentlichkeit geholt. Der Autor ist vor 25 Jahren gestorben.

Geschrieben wurde der Text ein Jahr davor im Auftrag von Jürgen Flimm, der damals das Thalia Theater geleitet, das bestellte Stück aber nicht aufgeführt hat, für dessen Hauptrolle immerhin Michael Degen im Gespräch war. Jetzt erlebt es mit großer Verspätung seine Uraufführung. Es trägt den Titel "Der Unheimliche" und sein Autor heißt, in amerikanischer Schreibweise, vom Umlaut befreit, Robert Muller.

In Hamburg geboren, in London verstorben

Robert Muller? Der Name dürfte kaum Assoziationen abrufen. Dabei ist Mullers Arbeit nicht ganz unbekannt. Er hat vornehmlich Drehbücher verfasst, darunter für "Die Strohpuppe" mit Gina Lollobrigida und Sean Connery, für "Ich bin ein Elefant, Madam" und "Die wilden Fünfziger" von Peter Zadek, mit dem er befreundet war, sowie für unzählige Fernsehfilme. "Der Unheimliche" trägt unverkennbar autobiographische Züge des Autors, der 1925 in Hamburg geboren wurde (gerade diese Tatsache hätte zusätzlich für eine Aufführung an diesem Ort gesprochen) und 1938 mit einem Kindertransport vor den Nationalsozialisten nach London flüchten konnte, wo er 1998 auch verstarb.

Zugleich sind die Bestandteile der Handlung den meisten Menschen vertraut, die nach 1933 Deutschland verlassen mussten und nach 1945 Spuren der Vergangenheit suchten. Es ist nicht zuletzt diese Erfahrung, die sie, bei aller Versöhnungsbereitschaft, bis heute von jenen trennt, für die der Zweite Weltkrieg ein "verlorener Krieg" ist und deren Fantasie nicht ausreicht, um Empathie für jene zu empfinden, deren Großmütter keines natürlichen Todes gestorben sind.

Die Spur der Täter

"Der Unheimliche" handelt von dem Verleger Rudolf Ulmer – der Name ist ein Anagramm von Muller, dem nur ein l fehlt –, der aus England in seine Geburtsstadt angereist ist, um eine Hamburger Ehrenmedaille anzunehmen. Von einem Jugendfreund, dessen Vater, ein deutscher "Herr Karl", Blockwart war und den er zunächst nicht erkennt, erfährt er im Nobelhotel Metropol, in dem er abgestiegen ist und hinter dem sich, wie ein paar Einzelheiten verraten, das Hotel Atlantic verbirgt, dass seine in Deutschland zurückgebliebene Großmutter nicht, wie er dachte, an einer Lungenentzündung gestorben ist.

Wenn die Gegenwart von der Vergangenheit eingeholt wird: Gesine Hannemann (Frau Keller), Marcus Michalski (Sir Rudolf Ulmer) © Patrick Pfeiffer

Er verfolgt die Spur, erinnert sich an Sprüche, die, wie wir dieser Tage zur Kenntnis nehmen mussten, noch 1988 und wohl darüber hinaus in manchen Köpfen weitergelebt haben. Bruchstück für Bruchstück entsteht das Bild von der Deportation und Ermordung der Großmutter. Zugleich wird die Gegenwart von der Vergangenheit eingeholt. Das ist gespenstisch, kann freilich nicht ganz auf plakative Klischees verzichten.

Schneidende Akkorde und Marschmusik

Die Regisseurin Mirjam Neidhart hat sich für einen ungebrochen realistischen Stil entschieden. Das Bühnenbild von Marion Eisele zeigt ein Fauteuil und zwei Würfel auf einer Schräge, davor Sitzkissen, alles weiß, vor hohen Fenstern und unter einem klobigen Lüster. Nach der Pause stehen drei Pinboards mit Dokumenten im Hintergrund. Die Erinnerung meldet sich mit schneidenden Akkorden und Marschmusik. Und die Vergangenheit dringt durch die offenen Fenster ins Zimmer wie das Sieg-Heil-Gebrüll am Ende von Thomas Bernhards neun Jahre zuvor entstandenem "Heldenplatz".

Zugegeben, das Stück hat dramaturgische und sprachliche Schwächen: Einen viel zu langen Eingangsmonolog, der die ganze Vorgeschichte auf einen Schlag transportieren soll, teilweise zugleich schnoddrige und buchstäblich papierene Dialoge. Schon der Titel ist kein Geniestreich. Rudolf Ulmer ist ja weder für die anderen Figuren, noch für die Zuschauer unheimlich. Unheimlich ist, was er nach und nach erfahren muss. Aber das Thema ist auch heute noch wichtig genug, um eine Aufführung zu rechtfertigen. 

Begeisterte Antisemiten

Marcus Michalski tut sein Bestes, die Titelfigur mit Leben zu füllen. Wie so oft im Theater, hat der "Böse" die dankbarere Aufgabe: Christian A. Koch spielt Werner Tietjen, Rudolf Ulmers Gegenüber, verdruckst, in einer Mischung von unterwürfig und selbstgefällig, als den ewigen Mitmacher ohne Schuldbewusstsein. Unfreiwillig komisch auch Gesine Hannemann, die aussieht wie ein BDM-Mädel, das sich Gang und Haltung einer Dame angeeignet hat.

Der Unheimliche 3 Patrick PfeifferLily Frank (Dr. Schütz), Marcus Michalski (Sir Rudolf Ulmer), Christian A. Koch (Werner Tietjen) © Patrick Pfeiffer

Das Verhör, das Rudolf Ulmer mit dem Gestapochef Streckenbach führt, verlegt die Regie in den Zuschauerraum. Die Implikation ist unmissverständlich. Zuvor hatte der vom Hamburger Senat Geehrte gefragt: "Aber Jutta, du willst mir doch nicht einreden wollen, dass die Hamburger begeisterte Antisemiten waren?" Und die Angesprochene antwortet: "Wo waren deine netten, judenfreundlichen Hamburger, als man Tausende Juden, Sinti und Roma und Homosexuelle ermordete?" Man darf wohl annehmen, dass die rhetorische Frage nicht nur für Hamburg gilt.

Bleibt die auch im Stück vom "schwarzen Zimmermädchen" Waltraud gestellte Frage: Ist es glaubwürdig, dass es eines Hinweises bedarf, damit sich erst im Jahr 1997 Zweifel melden am natürlichen Tod einer jüdischen Großmutter im nationalsozialistischen Deutschland? Es ist unwahrscheinlich. Aber es kommt vor.

Druck der Erkenntnisse

Kann ich unbefangen darüber schreiben? In der zwischen 1992 und 2001 (!) vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands erstellten Datenbank der österreichischen Holocaustopfer steht hinter den Namen meiner Großmütter:
"Deportation Wien/Litzmannstadt
Deportationsdatum 23.10.1941
Nicht überlebt"

Sie haben zusammen mit Robert Mullers Großmutter den Aiwanger-Preis gewonnen: "Einen Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz." Ich gestehe: ich fand es nicht komisch, als ich einmal Lódż erwähnt habe und mich ein Kollege belehrte: "Das heißt nicht Lódż, sondern Litzmannstadt."

Rudolf Ulmer verfällt unter dem Druck der Erkenntnisse zusehends und wird schließlich zum KZ-Juden mit Hut und Davidstern. Die Realität vieler assimilierter Juden: Es ist nicht der Glaube, es ist die ermordete Großmutter, die Juden auch heute noch zu Juden macht. In Esslingen findet – ein Regieeinfall – eine Rückverwandlung statt. Rudolf Ulmer legt Hut und Mantel ab und wird wieder zum mit einer Medaille versehenen Verleger.

Statistik und Grauen

Am Unheimlichsten sind auch in "Der Unheimliche" die nackten Daten über Transporte nach Lódż, Minsk, Theresienstadt, Riga oder Auschwitz. Schon Heimrad Bäcker hat im Zusammenhang mit seiner epochalen "nachschrift" bemerkt: "Es genügt, die Sprache der Täter und der Opfer zu zitieren. Es genügt, bei der Sprache zu bleiben, die in den Dokumenten aufbewahrt ist. Zusammenfall von Dokument und Entsetzen, Statistik und Grauen."

Diese These wird durch die verzögerte Uraufführung von Robert Mullers Stück nicht widerlegt.

 

Der Unheimliche
von Robert Muller
Uraufführung Regie: Mirjam Neidhart, Bühne und Kostüme: Marion Eisele, Musik: Moritz Finn Kleffmann, Dramaturgie: Knut Spangenberg.
Mit: Marcus Michalski, Kristin Göpfert, Christian A. Koch, Gesine Hannemann, Samantha Fowler, Lily Frank, Achim Hall, Reyniel Ostermann.
Premiere am 22. September 2023
Dauer: 2 Stunden 25 Minuten, eine Pause

wlb-esslingen.de

Kritikenrundschau

"Als fesselndes Schaustück verbindet Neidharts Regie mit dem exzellenten Marcus Michalski in der Hauptrolle die präzise Studie einer zwangsläufigen Vergangenheitsobsession mit dem Zwiespalt von Sein und Zeit in einem Erinnerungsdrama, das 1997 vom Hamburger Thalia-Theater verschmäht und dann vergessen wurde", schreibt Kritiker Martin Mezger in den Stuttgarter Nachrichten (25.9.2023). Wie Schauspieler Marcus Michalski "von moderatorenhafter Konzilianz übergehe zur offensiven Unerbittlichkeit dessen, der sich auf den von jeder 'Vergangenheitsbewältigung' entferntesten Punkt zubewegt", sei von überlegener darstellerischer Klugheit. Er zeige kein Ausrasten und Verrücktwerden, sondern eine logische Eskalation. Neidharts Epilog weise auf "explosive Paradoxie". In Moritz Finn Kleffmanns "trefflich komponiertem Soundtrack" ticke die vergehende Zeit wie eine Zeitbombe, so der Rezensent.

So wie der Raum (und auch die Musik von Moritz Finn Kleffmann) naturalistische Stimmungen verweigere, so werde in dieser Inszenierung auch das Dokumentarische auf das Notwendige reduziert, meint Kritiker Manfred Jahnke in der Deutschen Bühne (online 23.9.2023) – zumal sich Autor Robert Muller in seinem Text ausschließlich auf Hamburger Ereignisse und Personen einlasse. "Diese nur so weit zu erzählen, wie es für die Darstellung der historischen Situation notwendig scheint, ist ein Gewinn für das Stück", findet der Rezensent. "Ein wichtiges Stück, eine gelungene Inszenierung!", resümiert Jahnke in seiner Besprechung.

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