Die barmherzigen Leut' von Martinsried - Marcus Grube inszeniert das Stück von Oliver Storz an der Württembergischen Landesbühne Esslingen
Schreie aus den Waggons
von Verena Großkreutz
Esslingen, 14. März 2019. Immer massiver auftretende Rechtspopulisten, die Enttabuisierung von Antisemitismus und Nationalismus; Rechtsextreme, die sich immer enger vernetzen: Angesichts dieser bedrohlichen Entwicklungen wirkt so mancher Stoff plötzlich schockierend aktuell, der einst Vergangenes bewältigen wollte. Ein solches Stück hat jetzt die Württembergische Landesbühne Esslingen (WLB) herausgebracht: Oliver Storz' "Die barmherzigen Leut' von Martinsried".
Aus den letzten Kriegstagen
Ein sehr ironischer Titel. Der Text beruht auf einer wahren Geschichte, die Storz in den 1980er Jahren in einer Zeitungsnotiz entdeckte. Sie ereignete sich in den letzten Kriegstagen des Aprils 1945: Am Bahnhof des hohenlohischen Dorfes Eckartshausen blieben wegen eines Lokschadens vier Viehwaggons liegen: Darin eingepfercht 300 verdurstende, verhungernde Gefangene, die in Konzentrationslager deportiert werden sollten. Die Dorfbewohner hörten ihre Schreie aus den von SS-Soldaten bewachten Waggons, sie forderten die Behörden zur Hilfe auf, aber selbst einzugreifen trauten sie sich nicht. Am Ende schoben sie die Waggons aus dem Dorf heraus auf eine abschüssige Strecke Richtung Schwäbisch Hall und überließen die Gefangenen ihrem Schicksal.
Storz hat diese Notiz dichterisch befreit mit Leben gefüllt. Aus Eckartshausen wird das fiktive Dorf Martinsried, dessen Charaktere einen Querschnitt der nazi-konformen Gesellschaft abbilden: geschäftsorientierte Mitläufer, überzeugte Nazi-Anhänger, nationalsozialistische Ranginhaber, die ob der nahenden Amerikaner ihre Fähnchen in die entsprechende Richtung hängen, beamtete Ordnungsfanatiker, deplatziert wirkende Pfarrer und – naive Teenager: Sehr authentisch spielt Nathalie Imboden die 17-jährige Anna, Tochter des "Ortsbauernführers" Baisch, BDM-Mädel, verliebt in einen Oberleutnant und überzeugte Hitler-Verehrerin, der das Leiden der Menschen in den Waggons aber die Augen öffnet. Das Hitler-Bild an der Wand wird zerschmettert. Sie motiviert andere Dorfbewohner, die Gefangenen mit Nahrung zu versorgen. Aber im entscheidenden Augenblick geht ihr Nazi-Leutnant (viel zu schlapp dargestellt von Felix Jeiter) dazwischen. Und statt die Gefangenen zu retten, verbringt Anna eine Liebesnacht mit ihm. Menschlichkeit ist da, aber sie wird von Feigheit, Ratlosigkeit, Obrigkeitshörigkeit wieder erstickt.
Schon die Uraufführung der "Barmherzigen Leut' von Martinsried" – vom Autor ironisch "Heimatstück" genannt – fand 1989 in Esslingen statt. Friedrich Schirmer, damals wie heute WLB-Intendant, hatte sich für das Stück eingesetzt. 1995 verfilmte Storz die Vorlage erfolgreich unter dem Titel "Drei Tage im April".
Schreien und gähnen
Eigentlich ein trefflicher Stoff, der aufwühlen sollte. Aber der neuen Inszenierung von Marcus Grube, WLB-Chefdramaturg, fehlt der doppelte Boden. Sie setzt den Text brav eins zu eins um. Anders als im Film verzichtete Storz in der Theaterfassung auf die Beschreibung des Grauens vor der Tür. Die ungeheure Dramatik des Geschehens müsste in der Inszenierung erspielt werden. Immer wieder dringt zwar Geschützdonner ins Geschehen, und wenn die Fenster geöffnet werden, hört man gelegentlich das Schreien der Menschen in den Waggons. Aber auf der Bühne herrscht phasenweise einschläfernde Langsamkeit, es fehlt oft an Präzision.
Leicht ist das alles freilich nicht umzusetzen. Das Stück spielt auf zwei Zeitebenen: einerseits 1945, andererseits blickt Anna als ältere Frau (eindrücklich: Gesine Hannemann) auf das totgeschwiegene Geschehen zurück und fordert die bereits verstorbenen Dorfbewohner zum Nachdenken über ihr Handeln auf, was sich in Rechtfertigungstiraden entlädt, die direkt ans Publikum gerichtet werden.
Schwäbisch für Anfänger
In der karg angedeuteten Kulisse eines Wirtshauses – breite Fensterfront, ein paar Tische und Stühle – rackert sich das Ensemble am schwäbischen Dialekt ab. Es ist sicher ein Problem des Stücks, dass es sich nicht einer entlarvenden Kunstsprache bedient wie das kritische Volksstück à la Horváth und damit die Grenze zur Volkskomödie nicht deutlich genug ziehen kann. (Ein Problem, das der Film nicht kennt.) So spielt Dietmar Kwoka den Reichsbahnbeamten Schwendt durchaus präzise als gefährlich unreflektierten Menschen, aber dessen betuliches Schwäbisch übertüncht die Ungeheuerlichkeit seiner Worte: "I verstand nix von Politik, aber als Eisebahner sag i, dass des von Haus aus a Blödsinn war, dass mer Millione von Leut, wo bei uns nix verlore hent, aus alle Herre Länder z’sammefangt und in Lager sperrt, wemmer der Sache eisebaatechnisch net gewachse isch!" Dass darüber im Publikum gegiggelt wird, zeigt, dass die Inszenierung in die falsche Richtung läuft. Was nur zum Teil am Ensemble liegt.
Elif Veyisoglu etwa überzeugt als Wirtin Baisch, die sich in die Taktik der Gefühlsabschottung flüchtet – wunderbar ihre schwäbische Keiferei, mit der sie ihre Tochter Anna anweist, gefälligst das Hitler-Bild wieder aufzuhängen. Auch Martin Theuer als ihr Gatte, Mitläufer aus Geschäftsgründen, aber eigentlich einer, der die Dinge durchschaut, spielt facettenreich. Und ein sehr unmittelbar wirkendes, tiefgründiges Solo gelingt Katharina Walther als naives BDM-Mädel Sigrid. Aber alles in allem versandet der Abend in betulicher Langeweile, die die Brisanz der Geschichte eher wegspielt als sie in den Fokus zu stellen.
Die barmherzigen Leut' von Martinsried. Ein Heimatstück
von Oliver Storz
Regie: Marcus Grube, Bühne/Kostüme: Marion Eisele, Dramaturgie: Michaela Stolte.
Mit: Gesine Hannemann, Nathalie Imboden, Benjamin Janssen, Felix Jeiter, Dietmar Kwoka, Markus Michalik, Marcus Michalski, Oliver Moumouris, Reinhold Ohngemach, Martin Theuer, Elif Veyisoglu, Katharina Walther.
Premiere am 15. März 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.wlb-esslingen.de
Marcus Grubes Inszenierung sei "perfekt für den Stoff", schreibt Angela Reinhardt in der Esslinger Zeitung (16./17.3.2019) "Langsam und bitter, ganz ohne Pathos verhärtet sich die Verzweiflung immer mehr", so die Kritikerin. "Die dichte, unprätenziöse Ensembleleistung spiegelt eine Dorfgemeinschaft wider, in der man sich gegenseitig beisteht – gegen unsinnige Befehle, aber eben auch gegen die moralische Last der 300 sterbenden Menschen, die man schließlich einfach zum nächsten Bahnhof wegschiebt".
"Mit großer analytischer Klarheit werden in der prägnanten, mit Dialekt arbeitenden Inszenierung von Marcus Grube abstrakte Begriffe wie Verantwortung, Scham und Menschlichkeit konkretisiert", schreibt Cord Beintmann in den Stuttgarter Nachrichten (16.3.2019). "Es geht in Martinsried ja auch um konkretes Handeln und konkretes Versagen, wobei deutlich wird, wieviel Mut man in einem Terrorsystem braucht, um menschlich zu handeln."
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