Die Mitwisser - Württembergische Landesbühne Esslingen
Die Macht der Kaffeemaschine
von Elisabeth Maier
Esslingen, 12. Juli 2020. Die Vorrede verblüfft: "Wir möchten Sie bitten, Ihre Mobiltelefone nicht auszuschalten. Nur so ist es uns möglich, Daten über Ihr Zuschauerverhalten zu erfassen." Im Schauspielhaus der Württembergischen Landesbühne stimmt Ansager Benjamin Janssen das Publikum auf Philipp Löhles Netzweltkomödie "Die Mitwisser" ein. Deren Protagonisten leben im totalen Überwachungsstaat. In Zeiten von Daten-Klau und gläsernen Menschen sind auch die Zuschauer nicht weit von dieser Wirklichkeit entfernt.
Herr Kwant weiß alles
Mit dieser Selbsterkenntnis spielt Regisseur Christof Küster in seiner Inszenierung, die wegen der Corona-Regeln in Baden-Württemberg auf 75 Minuten verknappt wurde. Die Kürze schärft die Dynamik des detailverliebten Texts, mit dem der Schweizer Erfolgsautor den Zeitgeist punktgenau trifft. Stolz präsentiert Markus Michalik in der Rolle des Enzyklopädisten Theo Glass seiner Frau den allwissenden Herrn Kwant, der an virtuelle Assistenten wie Alexa erinnert. Statt mit modernster Technik kommt der kleine Helfer in Christian A. Kochs Interpretation allerdings eher nostalgisch mit Hornbrille, Lockenperücke und verstaubten Ordnern daher.
Aus dem Duell des Menschen mit der Maschine, welches der Dramatiker in seinem "Stück Science Fiction aus der Vergangenheit" zelebriert, schöpfen die Schauspieler wunderbar komische Szenen. Die erreichen einen Höhepunkt, wenn Lara Haucke als techno-kritische Ehefrau Anna Glass Herrn Kwant die Kreiszahl Pi aufsagen lässt. Da verheddert sich der Mensch gewordene Apparat in der Endlosschleife. Und diesen Service gibt es völlig kostenlos. Solch vergnügliches Potenzial kostet Küster mit dem Ensemble aus. Ausgerechnet eine Kaffeemaschine löst den Machtkampf der Apparate aus.
Huxley ruft an
Das Zentrum von Marion Eiseles Raumkonzept bildet eine Drehbühne. Da verstrickt sich Theo Glass immer mehr in seine Abhängigkeit von Herrn Kwant, bis dieser sogar seine Arbeit an den Texten für die Enzyklopädie übernimmt. Auch seine Kollegin Sabrina erliegt der Faszination für die Technik. Klug spiegelt Nina Mohr diesen Prozess. Gesina Hannemann als Frau Fürst, die gnadenlose Chefin, schwebt wie eine Göttin auf dem Bürostuhl. Sie entdeckt, dass die Apparate viel effektiver arbeiten als die Menschen. Selbst Kreativität sollen diese am Ende ersetzen. Am Ende sehen in Marion Eiseles Business-Uniformen alle gleich aus. Sogar das Kind, das Anna auf die Welt bringt, ist ein kleiner Kwant. In dieser schönen, neuen Welt wundert es kaum, dass ein gewisser Herr Huxley telefonisch Blumen im Online-Handel der jungen Mutter Anna bestellt – die Hommage an den Vordenker der dystopischen Literatur wirkt allerdings etwas plump.
Gar zu dick trägt Löhle solche literarischen und philosophischen Anspielungen in “Die Mitwisser” auf. Doch das tut der Faszination des Texts kaum Abbruch, der nach seiner Uraufführung am Schauspielhaus Düsseldorf am 28. April 2018 von etlichen Bühnen auf den Spielplan gesetzt wurde. Im Untertitel bezeichnet Löhle das Stück als "Eine Idiotie". Der Autor peitscht das Publikum durch eine Welt der Whistleblower und der Follower, die verzweifelt nach einem Halt in der diffusen Datenvielfalt suchen.
Im Netz gefangen
Regisseur Küster konzentriert sich ganz auf das komische Potenzial des Textes, statt ihn mit Theorie zu überfrachten. Wenn Christian A. Koch in die Rolle eines Navigationsgeräts schlüpft und die Chopin- zur "Joe-Peng"-Straße macht, ist das einfach lustig. Doch bei Philipp Löhle hat das stets eine tiefere Bedeutung. Klug demonstriert der Spieler so die Macht der Maschine, die Sprache und Denken der Menschen verwässert.
Weil Küster mit dem Ensemble bedingungslos die Faszination von Löhles Zeitgeist-Komödie auskostet, gelingt ihm eine vergnügliche Kurzfassung. Den Bogen zur politischen Aktualität braucht der Regisseur da nicht erst zu spannen. Wenn sich Markus Michalik verzweifelt komisch im Datennetz verfängt, fühlt das Publikum im besten Sinne mit. Jeder, der seine Daten an Facebook oder Whatsapp verkauft, kann seinen tiefen Fall nachvollziehen.
Die Mitwisser
von Philipp Löhle
Regie: Christof Küster; Bühne und Kostüme: Marion Eisele; Dramaturgie: Agnes Szedlak.
Mit: Markus Michalik, Lara Haucke, Christian A. Koch, Benjamin Janssen, Nina Mohr, Gesine Hannemann, Daniel Großkämper.
Premiere am 11. Juli an der Württembergischen Landesbühne Esslingen.
Spieldauer: 75 Minuten, keine Pause.
http://www.wlb-esslingen.de
"Dass (...) in Christof Küsters Inszenierung Statuarik – oder zumindest stationäre Schauspielbehandlung – dominiert, ist den diversen Corona-Bühnenregeln seit der ursprünglich für Anfang April geplanten Premiere geschuldet", schreibt Martin Mezger in der Stuttgarter Zeitung (13.7.2020). Doch Abstandhalten und Co. passten zum Stoff, und die (körper-)sprachlichen Pointen, die Posen und Possen säßen präzise und zündeten sinnfällig. Im Resultat zerfasere der Text der "Digitalisierungsklamotte" aber "trotz aller Regiekünste zu spannungslosem Nummernkabarett".
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