Kalte Wut am Höllentor

29. April 2023. Was geschah damals auf dem Dorffest? In Ivana Sokolas "Pirsch" schleicht sich Marinka 15 Jahre später an die traumatischen Ereignisse an. Mit Jana Vettens Inszenierung des Gewinnerstücks 2022 eröffnete nun der Heidelberger Stückemarkt.

Von Steffen Becker

"Pirsch" beim Heidelberger Stückemarkt © Susanne Reichardt

29. April 2023. Das Tor zur Hölle öffnet sich in der Wüste Turkmenistans. In einem Krater brennt seit mehreren Jahrzehnten ausströmendes Gas. Eine populäre Theorie besagt, das Feuer sei das Ergebnis einer fehlgeschlagenen sowjetischen Bohrung. Der Unfall sei aber vertuscht worden. Stattdessen entwickelte sich in jüngerer Zeit aus der Umweltkatastrophe eine Touristenattraktion für spektakuläre Insta-Aufnahmen.

Verzehrt von der Erinnerung

Wer es nicht aus Wikipedia weiß, erfährt es beim Heidelberger Stückemarkt. Für dessen Auftakt hat Regisseurin Jana Vetten Ivana Sokolas "Pirsch" inszeniert, 2022 mit dem Autor:innen-Preis des Festivals ausgezeichnet. Im Januar verlegte Christina Gegenbauer in Göttingen die Uraufführung in einen abstrakten Wald.

Nun sorgt Antonia Labs als exaltierte Schaustellerin im Vivienne Westwood-Flammen-Look für die Katastrophen-Bildung. Warum, wird auch schnell klar. Zu Beginn starren eine vor 15 Jahren weggezogene Frau und ihr daheimgebliebener Bruder beim Wiedersehen gebannt in ein Feuer. Es ist wieder "Fest" im Ort. Aber in ihr brennt nicht die freudige Erwartung. Sie wird verzehrt von der Erinnerung an den Vorfall, der sie aus dem Ort getrieben hat. Er scheitert mit allen Bemühungen, das Feuer auszutreten und das, was war, herunterzuspielen als schlechten Traum, als längst vergangene Misslichkeit.

Gefeiert und gejagt wird die strukturelle Gewalt

Dass dieser Versuch aussichtlos bleiben muss, zeigt schon das Bühnenbild. Eugenia Leis hat eine Mischung aus dem Spiel "Der Boden ist Lava" und Flammen-Verkleidung von Kirmes-Buden zusammengezimmert – mit einem Gestell im Mittelpunkt, das im späteren Verlauf zum Karussell wird. Damit sagt schon das Setting, dass nicht einfach am Rande des Fests ein Übergriff passierte. Das Fest wurde erfunden, um Übergriffe zu ermöglichen und als Feier-Ritual zu normalisieren. Die Schausteller-Erzählerin integriert das Motiv später in die dystopische Wüstenerzählung, wenn sie von Touristen erzählt, die irgendwann beginnen, am Höllentor Imbisswägen und Geisterbahnen aufzubauen.

Pirsch2 Susanne Reichardt uAn der kurzen Leine: Yana Robin La Baume mit Marie Dziomber © Susanne Reichardt

Die Symbolkraft von Stück und Inszenierung ist Stärke und Schwäche zugleich. "Pirsch" erzählt keine individuelle Geschichte. Das Fest ist nicht verortbar. Gefeiert und schließlich gejagt wird die strukturelle Gewalt. Die Kehrseite ist: Die durchweg überzeugenden und engagierten Darsteller*innen müssen gegen die Abstraktheit ihrer Rollen anspielen. Yana Robin la Baume verkörpert eine Polizistin, die die Geschichte der jungen Frau aufnimmt. Zu Beginn ist sie die holzschnitzartige Verkörperung einer mit der Schilderung von nebligen Traumata überforderten Staatsmacht. Als ihre Arbeit verschüttete Erinnerungen hervorspült, gelingt ihr dagegen eine beeindruckende Darstellung kalter Wut.

Tollwütiger Racheengel

Diametral entgegen steht die Rolle der Protagonistin Marinka. Marie Dziomber brilliert zu Beginn als verunsicherte junge Frau, der wechselweise Scham, Angst und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben steht. Die Inszenierung verdammt sie jedoch später, sich ins abstrakte Rachebild eines Hunderudels einzufügen und sich als tollwütiger Racheengel hinter einer Strumpfmaske zu verstecken.

Pirsch3 Susanne Reichardt uBeweisaufnahme: André Kuntze, Yana Robin La Baume © Susanne Reichardt

So bleibt dann doch dem einzigen Mann der meiste schauspielerische Raum. Marinkas Bruder Jan hätte leicht zur Schießbudenfigur werden können. André Kuntze verkörpert ihn jedoch als zutiefst verunsicherten Mann, der die Institution Fest verteidigen und seine eigenen Verstrickungen nervös überspielen will – und auch von einem glaubhaft schlechten Gewissen nicht gerettet wird. Insgesamt hält die "Pirsch" aber durch die Abstraktion der Inszenierung die Zuschauer auf so großer Distanz, dass der Funke des Feuers nur vereinzelt überspringt.

 

Pirsch
von Ivana Sokola
Regie: Jana Vetten, Bühne und Kostüme: Eugenia Leis, Musik: Cornelius Borgolte, Dramaturgie: Ida Feldmann.
Mit: Marie Dziomber, André Kuntze, Yana Robin la Baume, Antonia Labs, Patricia Franke, Rahel Stork, Fabi ten Thije.
Premiere am 28. April 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theaterheidelberg.de

 

Kritikenrundschau

Jana Vetten verwandele das Stück in eine Seelenreise mitten hinein in die Traumata einer gedemütigten Frau, schreibt Volker Oesterreich von der Deutschen Bühne (29.4.2023). Die vier von einem Darstellerinnen-Quartett verkörperten Jagdhündinnen könne man auch als Nachfahren antiker Erinnyen interpretieren. "Mit eng anliegenden Bodys, maskierten Gesichtern und leinenartigen Zöpfen geben die Schauspielerinnen der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg dem Geschehen eine so archaische wie circensische Aura. Das hat Biss, wenn auch in symbolisch überhöhter Art. Ein bildmächtiger Abend zum Auftakt des Jubiläumsfestivals."

"‘Pirsch‘ ist eine durchaus eindrückliche Theaterarbeit, die Rotoskopie-hafte Surrealität und Kunsthaftigkeit der Sprache halten die Protagonistin dabei aber auf innerlicher Distanz. Hervorstechend: Antonia Labs als flamboyante Schaustellerin", schreibt Martin Vögele im Mannheimer Morgen (2.5.2023).

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