Mit dem Kopf durch die Erde

17. Juni 2023. Mit ihrem Debütstück "Tragödienbastard" gewann Ewe Benbenek 2021 den Mülheimer Dramatikpreis. Ihr neues Stück, uraufgeführt von Kamila Polívková, findet abgründige wie surreale Bilder für Ängste und Hoffnungen von osteuropäischen Arbeiterinnen in deutschen Ausbeutungsverhältnissen. 

Von Steffen Becker

"Juices" von Ewe Benbenek, am Nationaltheater Mannheim von Kamila Polívková uraufgeführt © Maximilian Borchardt

18. Juni 2023. Ein working-class porn: Das ist es, was "wir" als bildungsbürgerliches Publikum und Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft wohl von einem Stück erwarten, in dem es um Abstiegsängste von Frauen mit osteuropäischem Migrationshintergrund geht – erst Recht, wenn die Namen von Autorin und Regisseurin selbst eine solchen Hintergrund nahelegen. 

Diesen Erwartungsdruck thematisiert auch Ewe Benbenek in ihrem neuen Stück "Juices", das Kamila Polívková am Nationaltheater Mannheim jetzt zur Uraufführung brachte: Wie agieren in einer Welt, in der man nur theoretisch dazu gehört, praktisch aber Außenseiter bleibt? Wie sich beweisen? Was anbieten, um gesehen zu werden? Die Geschichte der Mutter vielleicht, die Großraumbüros putzte und Spargel stach? Also noch mehr aus ihr herausquetschen? –"jetzt wo man aus diesem working-class porn mal so richtig Profit schlagen kann?" Ne, das ist nicht drin – ein Kernsatz im Stück von Ewe Benbenek, die mit ihrem Debütstück "Tragödienbastard" 2021 den  Mülheimer Dramatikpreis gewann.

Stimmen und Tränen

Die Mutter schreibt nicht, die Töchter sind auf sich gestellt. Sie haben "uns" keine Geschichte anzubieten (kleines Buh! von den Porno-Erwartenden). Nur ihre Stimmen. Die sie zu Beginn kollektiv und ausgiebig zu einem "Aaa" formen – A wie Anfang, von dem "solche wie du" eigentlich keinen zweiten verdienen. Das porno-enttäuschte Publikum lässt sie dennoch gewähren. Denn Antoinette Ullrich, Rahel Weiss und Maria Munkert haben andere "Juices" zu bieten.

Etwa eine Träne, die sie theatralisch just in dem Moment ihren Körpern zu entweichen erlauben, als der letzte, sich an der Mittelschicht festkrallende Finger seine Kraft verliert. Also im übertragenen Sinne – die Mittelschicht ist ein "Czandalier" (französisch für Kronleuchter, polnisch geschrieben und ausgesprochen, auf der Bühne aber dann ein eher armseliges Stück Mini-Swarovski-Disco-Kugel).

Juices2 805 Maximilian Borchardt uStarkes Team: Maria Munkert, Antoinette Ullrich, Rahel Weiss © Maximilian Borchardt

"Juices" ist mehr Gedankenfluss als Stück, die Schauspielerinnen verkörpern keine Individuen. Sie stecken in Funktionskleidung fest, quasi im Reinigungskraft-Look, den "wir" Mehrheitsgesellschafter ihresgleichen kollektiv als Rolle zuschreiben, egal wie weit sie es individuell bringen. Sie sind im Stück "A", "B" und "C", die eine wütende Anklage gegen ihr Unsichtbar-Sein abfeuern.

Lustvoller Mix mit überraschenden Wechseln

Die allerdings ist ein Sprachkunstwerk. Es baut auf Wiederholungen, viele Anläufen, Lautmalerei, die Einschreibung des Gefühls von Fremdheit in den Kampf um die korrekten Worte sowie auf Verschränkungen, die die Schauspielerinnen vor ganz besonders große Herausforderungen bei Timing und Abstimmung stellen. Diese meistern sie aber genauso gut wie die vielen Stimmungswechsel: "Wir" Mehrheitsgesellschafter im Publikum bekommen: Angst, Melancholie, Wut, ja auch Euphorie (yeah, EU-Osterweiterung, endlich legale Ausbeutung von Billiglöhnern!). Das volle Programm – wobei Rahel Weiss aus der runden Teamleistung mit besonderer Wucht und Verve aus dem Ensemble heraussticht.

Voller (überraschender) Wechsel sind auch die Themen. Als es vom Czandelier durch die Bühnenbretter scheinbar hinab in die Gitter der Unterkonstruktion geht, folgt statt der erwarteten Abstiegsfortsetzung ein Exkurs über das Schaumbad – wer dazu Zugang hat, wer von "denen" unter welchen Bedingungen geduldet wird (exaltiertes Leiden wäre gut). Das Trio mixt derweil lustvoll einen "Schaumi-Schaumi"-Mix, feiert eine Feel-Good-Orgie, die wiederum nahtlos ins Putzen der nackten und tristen Bühne übergeht.

Wer erntet was von wem?

In den Katakomben dieser Bühne filmen die Schauspielerinnen dann Gegenstände auf dem Boden, wie man sie aus Großraumbüros kennt – passend zur Putzgeschichte der Mutter. Dann filmen sie einen Glaskasten mit Spargel, Deutschlands "Gemüse-Dandy Number One". Durch dessen Erde stößt Rahel Weiss energisch ihren Kopf – um "unsere" Nasen darauf zu stoßen, wie und von wem er geerntet wird.

Das mündet allerdings nicht ins erhoffte actionreiche Grande Finale. Stattdessen überrascht das Stück zum Schluss mit einer historischen Einordnung über osteuropäische Einwanderung in preußischer Zeit und ein wohlfeiles Plädoyer zur Solidarität mit allen Zuwanderern – das wirkt allerdings inhaltlich etwas angeklebt (der Vollständigkeit halber) und inszenatorisch zäh. "Unserem" Schlussapplaus tut es allerdings keinen Abbruch.

Juices
von Ewe Benbenek
Uraufführung
Regie: Kamila Polívková, Bühne & Kostüme: Antonín Šilar, Licht: Ronny Bergmann, Musikalische Leitung: Peter Fasching, Dramaturgie: Dominika Široká.
Mit: Antoinette Ullrich, Rahel Weiss, Maria Munkert.
Premiere am 17. Juni 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

Der Text habe etwas von einem Rondo, etwas Mantraartiges, findet Björn Hayer im Deutschlandfunk Kultur (17.6.2023). Inhaltlich gehe es um das Gefühl des Abgehängt-Seins, das Gefühl zu fallen. Auf der Bühne stehe ein in drei Frauen aufgespaltenes "Ich, das sich sucht". Der Regie gelinge es zunehmend, Akzente zu setzen und Bilder zu erschaffen, die stimmig aufgehen.

In der taz (20.6.2023) schreibt Björn Hayer dann noch einmal auf: Mit ihren "Bildern setzt die Regie präzise Akzente, verhilft dem Text zu einer wuchtigen Präsenz, dessen mitreißender Fluss aus Traumata, Hoffnungen und Illusionen ansonsten kaum einen Halt zulässt". Um Entwicklung in der Migrationspolitik "in Kunst zu übersetzen, ohne die Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren, bedarf es eines genauen Gespürs. Das Nationaltheater stellt es unter Beweis, mit einem Vibrato, das zutiefst bewegt!"

"Ein Stück möchte man 'Juices' – gemeint sind die Säfte Blut, Schweiß und Tränen polnischer Gastarbeit – selbst mit Texflächenerfahrung auch in postdramatischen Zeiten nicht nennen", findet hingegen Ralf-Carl Langhals im Mannheimer Morgen (19.6.2023). Das Problem bestehe darin, das sich die lyrische Absicht nie zu dadaistischer Qualität aufzuschwingen vermöge und stattdessen in hölzern klapperndem Gestammel verheddere. Für die drei Situationen, die sich herausschälten,fänden  Regisseurin Kamila Polívková und vor allem Antonin Silar (Bühne, Kostüm, Video) ansprechende Bilder. Der finale Ritt durch die Geschichte sei "historisch wie politisch leider so flach und gefährlich halbwahr, dass er jedem bierseligen Stammtisch zur fragwürdigen Ehre gereichen würde".

Einen "Teufelskreis aus Ängsten" hat Manfred Ofer erlebt, wie er in der Rheinpfalz (19.6.2023) schreibt: "die permanente Angst vor der plötzlichen Rückkehr nach ganz unten". Das Gefühl wegen eines vermeintlichen Mangels an Fähigkeiten, wie zum Beispiel eine Sprache korrekt zu sprechen, gebildet oder assimiliert zu sein, zu scheitern – das sei es, was mit 'Hängen! gemeint ist. "Was, wenn die Kraft schwindet und man fällt?" Das fühle sich bitter an., auch vor der Bühne. So werde es zu einer körperlichen Erfahrung, dass da trotz Job und Karriere keine Ruhe, keine Sicherheit in Sicht ist.

Das "hoch motivierte Schauspielerinnen-Trio" flöße "dem papier-trockenen Wortgeklingel mit Herzblut den Saft" ein, "den Ewe Benbenek vergessen hat, als sie ihr Werk 'Juices' (Säfte) nannte und dabei nur Tränen und Schweiß im Sinn hatte", urteilt Monika Frank in der Rhein-Neckar-Zeitung (21.6.2023). Im zähen Ringen um den verbalen Neuanfang würden die Einwände und vernichtenden Urteile böswilliger Kritiker und Kritikerinnen vorweggenommen, ebenso die eigenen Skrupel, das Schicksal der Eltern als "working-class-porn" auszubeuten. Regisseurin Polivkova konzentriere sich auf Sprache und Personenführung, "ohne großen Ehrgeiz, mit spektakulären szenischen Einfällen zu glänzen".

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