Vor diesem Rock bin ich ein Nichts!

3. Dezember 2023. Von Haute Couture bis Billigmarke: Elfriede Jelinek schaut mit "Das Licht im Kasten" in die Modewelt und findet den menschlichen Abgrund. Und Regisseurin Pia Richter hat in Tübingen dafür Sprache und Atmosphäre parat.

Von Verena Großkreutz

Elfriede Jelineks "Das Licht im Kasten" in der Regie von Pia Richter in Tübingen © Metz

3. Dezember 2023. Mode ist Inszenierung – ob auf dem Laufsteg oder am eigenen Körper. Deshalb als Thema bestens geeignet für die Theaterbühne. Das hat die große Elfriede Jelinek in ihrem 2017 uraufgeführten Stück "Das Licht im Kasten" sprachgewaltig ein für alle Mal klargemacht. Ein grandioser Gedankenstrom-Text über die Welt der Mode und alles damit Zusammenhängende.

Die Mode avanciert darin zur Metapher für die existenziellen Grundfragen unseres Seins und unserer Zeit. Ein unterhaltsamer Text, witzig, bedrückend, schockierend in seinem plötzlichen Umswitchen vom wortspielerischen Ego-Parlando ins reale Grauen: in die ausbeuterischen, tödlichen Produktionsbedingungen ferner Länder, die Kleidung für uns bezahlbar machen, und in andere mörderische, perfide Kreisläufe, wie jene der Einweg-Wegwerf-Mode, die "im besten Fall jetzt in Afrika in andrer Form einen andren Körper ziert und in einem sinkenden Nachen zu uns zurückgeschickt wird".

Der Zirkus der schönen Klamotten

Pia Richter hat Jelineks Meisterinnentext jetzt am Landestheater Tübingen auf dessen kleiner Werkstatt-Bühne inszeniert. Eine Arbeit, die dem Text den roten Teppich ausrollt. Ihn wirken lässt ohne viel Brimborium. Die offene Textfläche, die Jelinek den Regieführenden bereitstellt, hat Richter in die Sphäre der Modegeschäfte überführt – ob Haute Couture oder Billigstmarke. Das in schrillem Pink und Orange gehaltene Bühnenbild von Lise Kruse bietet vor allem durch die seitlich positionierten, vier freistehenden hohen Umkleide-Rundkabinen Spielraum im besten Sinne, denn hinter deren Vorhänge lässt sich prima verschwinden und wieder auftauchen. Ein bisschen Zirkusatmosphäre liegt auch in der Luft, durch Auftrittsvorhänge an der Hinterbühne und ein rundes Treppenpodest in der Mitte, auf dem immer wieder posiert oder zur Schau gestellt wird.

Licht3 MetzPasst fast wie angegossen: Lucas Riedle, Dennis Junge und Insa Jebens spielen und sprechen Elfriede Jelineks Kleiderweltkaskaden © Metz

Richter hat den Text sauber in zehn Szenen gegliedert (plus Pro- und Epilog) und auf drei Frauen und zwei Männer aufgeteilt. Die spielen allerlei skurrile Persönlichkeiten und tippeln auch mal als lebendig gewordene Prada- oder Gucci-Tasche über die Bühne. Die Fäden des Abends hält der "zynische Verkäufer" in der Hand (Lucas Riedle), der zu Beginn – die Arme schwer behängt mit Designer-Handtaschen – von den anderen (noch weitgehend Unbekleideten) beäugt und gierig bedrängt wird wie eine Göttergestalt. Mode als Fetisch.

Auf den Werbefotos ist es hübscher

Da ist die "Junge Frau beladen mit Einkaufstüten" (Solveig Eger), deren sexuell aufgeladene Kaufrausch-Glücksgefühle sich schnell in wild-wütende Verzweiflung verwandeln: weil das Kaufobjekt am Werbefoto-Model-Körper eben besser aussieht als am eigenen. "Zum Nichts" sei sie geworden "vor diesem Rock", schreit sie. Ein "Mann mit Sparzwang" (Dennis Junge) wühlt in Billig-Kleiderhaufen, zieht schichtend immergleiche blaue Shirts über seinen Körper, bis er aussieht wie ein Michelin-Männchen und ihn der Verkäufer wegträgt wie eine Schaufensterpuppe. Ein langhaariger, messianischer "Nudist", nur bekleidet mit einem blauen Puschel-Slip, predigt: "In die Natur können Sie zwar gehen, aber Sie können sie nicht tragen."

Ein bedrohlich-merkwürdiges Wesen in grob-löchrig gestricktem, schäbigst-schickem Pulli mit riesigen Fäustlingen taucht auf, quasselt – mal in freundlichem Mädchentonfall, mal mit tiefgetunter Psychostimme – den später kollabierenden Verkäufer hinterm Umkleide-Vorhang zu: über die Herstellungskosten ihres Kleidungsstücks und vieles andere. Eine "mittelalte Frau" in extravagantem Kleid aus rosa Plastiktüten (Sabine Weithöner) sinniert übers Älterwerden, den Tod und die Kleidung, die sie im Sarg tragen wird. Als lebendig gewordene (Freiheits?-)Statue mit Kissen-Heiligenschein und Bettdecken-Mantel philosophiert eine andere über die müllproduzierenden, absurden Finessen des Onlinekaufs (Insa Jebens).

Kleidung ist Schrift

Jelineks Text wird vom exzellenten, spielfreudig miteinander agierenden Ensemble von Anfang bis Ende dieses kurzweiligen Abends präzise artikuliert performt. Und so stimmig die Kostüme wie Perücken (Retrofrisuren von Vokuhila, Minipli, Bob, Hippie-Langhaar bis streng onduliert) sind, so passend ist auch der Soundtrack (der vom klassisch-modernen Streichquartett bis zu Indiepop reicht). Und was trifft die Jelinek'sche Sprachmusik besser, als alles in einem Sprechchor-Finale aufgehen zu lassen? "Die Kleidung ist Schrift", heißt es da, "der Mensch wird durch sie umschrieben, als wagte man sich nicht an seinen lavaheißen Kern heran". Was für ein großer Satz!

 

Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!)
von Elfriede Jelinek
Regie: Pia Richter, Bühne & Kostüme: Lise Kruse, Dramaturgie: Thomas Gipfel.
Mit: Solveig Eger, Insa Jebens, Dennis Junge, Lucas Riedle, Sabine Weithöner.
Premiere am 2. Dezember 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.landestheater-tuebingen.de

 Kritikenrundschau

Von einer frappierende Assoziations- und Gedankenflut spricht Thomas Morawitzky im Reutlinger Generalanzeiger ( 5.12.2023). Regisseurin Pia Richter habe den Text über die Abgründe zeitgenössischer Mode-Obzessionen zwar um einige Seiten gekürzt. Dennoch bleibe viel "Spott, viele Gefühlslagen, Tiefschürfendes, Oberflächliches, ein Hauch von Wahnsinn." Zuletzt versammeln sich alle Facetten des Wahns zum Chor auf der Bühne, blicken ins Publikum, beklagen noch einmal ihr Menschsein, ihre Vergänglichkeit, und empfehlen die Verwendung des kleineren Lichtkästchens, das jeder längst bei sich trägt: 'Dort können Sie auch bestellen - und los, in den Warenkorb'."

"Schauspieler und Kostüme machen etwas her," schreibt Justine Konradt im Schwäbischen Tageblatt (5.12.2023). Die langen belehrenden Monologe ziehen das Stück zu ihrem Bedauern leider in die Länge und bremsen es aus."Sicher: Eine Balance zwischen Komik und Ernsthaftigkeit, zwischen energetischen und unaufgeregten Szenen ist kein schlechtes Konzept. Da das Stück aber von keinem Spannungsbogen lebt und die Monologe in ihrer Länge und Anzahl den Dialogen überlegen sind, wird der Abend vor allem gen Ende etwas zäh. Hier hätte man sich von der Regisseurin etwas mehr Mut gewünscht."

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