Welt verhunzt – rette, Kunst!

9. Oktober 2023. Bald ist's Zeit für Weihnachtsmärchen. Bamberg legt schonmal vor – hier hat Wilke Weermann die deutsche Erstaufführung der düsteren "Hänsel & Gretel"-Version von Kim de l’Horizon inszeniert. Mit Knusperhäuschen, Hexenkessel und verstärktem Personal.

Von Christian Muggenthaler

Hänsels und Gretas: Jeanne Le Moign, Ewa Rataj, Alina Rank, Wiebke Jakubicka-Yervis © Martin Kaufhold

9. Oktober 2023. Man sieht ein wildes, wüstes, offenbar zerrüttetes Land. Die Landschaft wird geprägt von zwei großen Kühltürmen. Neben diesen energieerzeugenden Burgen der Technologie steht, als Hort der Behaglichkeit, ein kleiner, alter Wohnwagen. In ihm haust eine Hexe. Der Van steht für das alte Knusperhäuschen selig. In ihm hausen dann bald aber auch Hänsel und Gretel, das altbekannte Geschwisterpaar. Auch ein kleines, buntes Planschbecken ist da, das später als Hexenkessel dienen wird.

Geplante Rätselhaftigkeit

So schaut das aus, wenn am E.T.A. Hoffmann in Bamberg Theater-Märchenstunde ist. Lara Scherpinski hat diese Bühne gebaut, die zudem geprägt ist von einigen an Masten hängenden Lautsprechern. Die sind wichtig, weil aus ihnen die Stimmen der Hexe und von den anderen seltsamen Wesen quäken, die in dieser sehr experimentellen, absurden Märchenwelt auftauchen. Manchmal sind auch Hänsel und Gretel von der Hexe besessen, sie spricht dann aus ihnen. Hänsel und Gretel wiederum treten – eine Entscheidung  von Regisseur Wilke Weermann – doppelt auf. Zwei mal Bruder, zwei mal Schwester. Gespielt von vier Schauspielerinnen. 

Sich selbst und die Welt retten – aber wie? © Martin Kaufhold

Diese Doppelung ist ein bewusst gesetztes Zeichen dafür, dass sich hier ein Theaterabend in gewollter, gezielter, geplanter Unübersichtlichkeit und Rätselhaftigkeit abspielt. Hänsel und Gretel sind schräge, buntbezopfte Wesen, die vor dem Hungertod ins Wohnwagenland geflüchtet sind hin zur Hexe, die eine schwer zu definierende Rolle spielt. Man sieht sie nicht, man hört sie nur. Hänsel und Gretel haben Hunger, weil ihre Eltern im Zwang der Optimierung des Lebens alles Leben, alle Natur und alles Essbare zerstört haben. Jetzt wollen die Geschwister diese Welt vor dem Hunger retten, da wird die Gretel zwischendurch zur kämpferischen Greta.

Postmodern, postfaktisch, posthuman

Die Welt retten kann am Ende nur noch die Echte Lungenflechte, die muss halt nur gefunden werden, gilt scheinbar schon als ausgestorben. Des weiteren kommen ins Spiel unter anderem eine Buche, Darmbakterien und ein Steinfresserschneckensteinschmätzer. Und so weiter. Man muss sich diese Handlung selbst aus einem Wortwust herausmeißeln, der da über gut eineinhalb Stunden auf der Bühne angerührt wird: Die Verzweiflung über die Verhunzung der Welt geht bei dem Stück "Hänsel & Greta & The Big Bad Witch" von Kim de l'Horizon so weit, dass durch sie alles völlig aufgeweicht ist: Handlung, Stringenz, Sprache.

Da ist alles Post. Postmodern sowieso, postfaktisch auch, Posthumanismus ist ein weiteres Zauberwort im Zauberland. Was auch heißt: In der präsentierten Geschichte ist schlussendlich alles brutal egal. Die Problemstellungen der Welt sind eine solche Last geworden, dass unter ihr das Fundament einer irgendwie dramatischen Handlung oder auch nur geordneten Sprechens völlig zusammengebrochen ist. Das Stück atmet die Verzweiflung einer historischen Phase, in der so gut wie nichts mehr zu gehen scheint. "Knoppers Knoppers Knäuschen / Wer frisset an mein fitty fatty Bäuschen?", begrüßt die Hexe die Geschwister – und in dem Stil geht's dann dahin.

Haensel Greta c Kaufhold3Auf der Suche nach der Echten Lungenflechte © Martin Kaufhold

Es stellt sich immer mal wieder die Frage, inwieweit ein Text einem Publikum entgegenkommen sollte und wie weit sich das Publikum zum Text hin bemühen muss. Kurt Schwitters, Herbert Achternbusch, Werner Schwab und viele andere Sprachakrobaten stellen solche Aufgaben, aber sie belasten ihre Wortschwälle nicht gleichzeitig auch noch mit massivem Sendungsbewusstsein und mindestens Weltrettungsauftrag; das wird dann insgesamt ein bisschen viel. Es stellt sich zudem die Frage, ob es sinnvoller ist, das eigene erkennbar große Schreibtalent in den Dienst eines Texts zu stellen oder aber den Text in den Dienst des eigenen Schreibtalents, was immer ein bisschen eitel wirkt.

Der Regen weint mit

Wilke Weermann bemüht sich redlich, aus Kim de l'Horizons Vorlage eine Bühnenfassung zu erarbeiten, die funktioniert. Eine Schneise durch den sehr wortreichen Mischmasch zu schlagen. Die Ausstattung hilft dabei, das Sounddesign von Constantin John nur bedingt, weil es die ohnehin schwierigen Texte akustisch streckenweise noch schwerer verstehbar macht. Weermann nutzt viel Phantasie, Ironie und Projektionen, um einen Fluss in die Sache zu bekommen; das gelingt schon auch mal, etwa wenn die beiden Hänsels trauern, weil die beiden Gretas nicht da sind: Schön tränenselig ist das, wie sie da im weinenden Regen sitzen.

Haensel Greta c Kaufhold6Verloren in der Scheinwelt des Knusperhäuschens © Martin Kaufhold

Der wortreiche Abend wird immer dann besonders gut, wenn gerade mal nicht gesprochen wird. Wenn Bilder entstehen. Wenn Theater ist. Wenn man irgendwo hingreifen, begreifen kann. Die Schauspielerinnen Wiebke Jakubicka-Yervis, Jeanne Le Moign, Alina Rank und Ewa Rataj hauen sich ihrerseits rein, um die menschlichen Facetten der Figuren herauszuarbeiten. So begegnet man einer deutschen Erstaufführung, bei der sich alle inklusive Publikum ganz schön anstrengen müssen, um Bühnenliteratur nicht allein Literatur sein, sondern auch Bühne werden zu lassen.

Hänsel & Greta & The Big Bad Witch
von Kim de l’Horizon
Regie: Wilke Weermann, Ausstattung: Lara Scherpinski , Musik und Sounddesign: Constantin John, Dramaturgie: Armin Breidenbach.
Mit: Wiebke Jakubicka-Yervis, Jeanne Le Moign, Alina Rank, Ewa Rataj.
Premiere am 8. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

theater.bamberg.de

 

Kritikenrundschau

"'Hänsel & Greta & The Big Bad Witch' ist ein wild wuchernder Text, verzweigt in zig Assoziationen, verstiegen, verwegen“, schreibt Christoph Leibold vom Bayerischen Rundfunk (9.10.2023). "Bei einem Stück, das sowieso schon Bedeutungseben über Bedeutungseben stapelt, will einem dazu allerdings partout kein schlauer Gedanke einfallen, wieso die Titelfiguren auch noch gedoppelt werden müssen." Immerhin: Dem "symbiotisch harmonierende Schauspielerinnenquartett", das auch Pflanzen und Kleinstlebewesen spielend Leben einhauche, folge man gern auch auf die "die abstrusesten inszenatorischen Abwege".

Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (9.10.2023) stört sich nicht daran, dass einem manches nicht sofort einleuchte. "[D]enn die Wirkmächtigkeit dieses Textes liegt in ganz anderen Sphären, liegt in einem riesigen Assoziationsangebot, angereichert mit einem oft sehr schrägen, aber stets großartigen Humor." Und weiter: "Der Regisseur Wilke Weermann ist der fabelhaft richtige, um Kim de L'Horizons 'Hänsel & Greta' auf die Bühne zu bringen, weil er völlig unerschrocken an den Text herangeht und dessen Eigenarten nimmt, wie sie kommen, um sie dann in einen (bis auf wenige etwas stillstehende Momente) lustigen und auch zauberhaften Abend zu übertragen. Er hat dabei aber auch Hilfe: vier sehr muntere Schauspielerinnen." Der Kritiker sah "ein Öko-Drama, ein Märchen-Stück, eine großartige Fabuliererei und etwas, was einem sehr unmittelbar nahegehen kann".

"Kim de l’Horizon ist keiner aus der Familie Schlaumeier, deren schriftstellernde Mitglieder derzeit Weltuntergangsvisionen im Dutzend auf die Bühnen wuchten. Am Ende seines Stücks müsse der Mensch zwar der Flechte weichen, "dass aber dieser Abgesang derart frech, verspielt und sogar ziemlich komisch sein kann, war bisher nie und nirgends zu ahnen", so Michael Laages vom Deutschlandfunk (9.10.2023)

"Das kratzt in seinen schlechteren Momenten hart an der Grenze zum Infantilen, entfaltet aber oft genau einen eigentümlichen sprachästhetischen Reiz, schreibt Christoph Hägele vom Fränkischen Tag (9.10.2023). Kim de l’Horizon wolle das Denken von den Ketten der althergebrachten Erzählungen und Interpretationsmuster befreien. Zum anderen dekonstruiere Kim de l’Horizon den narzisstischen Mythos vom revolutionären Einzelsubjekt. Über das Ich triumphiere das Wir. Regisseur Wilke Weermann finde gerade für diese Gedanken eine reizvolle Form, indem er Hänsel und Greta als Doppelgänger ihrer selbst auftreten lasse. Dennoch: "Zu viel ist zu laut und zu atemlos, zu sehr auf Überwältigung schielend."

Kommentare  
Hänsel und Greta, Bamberg: Junges Publikum
Sehr gut, dass nachtkritik sich jetzt um Aufführungen für junges Publikum kümmert. Das ist doch der Weg, da ist noch Leben, der Rest verkrustet doch zunehmend.
Hänsel und Greta, Bamberg: Mash-Up
Gute Beschreibung der Textvorlage als Mash-up aus dem Grimms Märchen-Klassiker, Gedanken zur Klimakrise und Schnipseln der feministischen Technoscience-Philosophin Donna Haraway. Die Berner Uraufführung hatte mit denselben Problemen zu kämpfen und endete auch als hektisches Wimmelbild: https://daskulturblog.com/2023/05/09/hansel-greta-the-big-bad-witch-theater-kritik/
Hänsel und Greta, Bamberg: Missverständnis
zu #1: Mit Sicherheit ist das kein Text für sogenanntes "junges Publikum".
Kommentar schreiben