Die letzte Karawanserei - Am Münchner Metropoltheater entdeckt Jochen Schölch die Zeitlosigkeit von Ariane Mnouchkines Szenen von Flucht und Entmenschlichung
Träume ohne Gnade
von Sabine Leucht
München, 2. Juni 2016. Den Schlussapplaus holen sich die Schauspieler in neuen Rollen ab. Eine raue Coverversion von Simon & Garfunkels "Sound of Silence" beschwert die Stille. Und durch den bühnenbreiten Vorhang auf der Bühne des Metropoltheaters schimmern zehn gesichtslose bunte Schemen. Es ist ein Überraschungsmoment, wenn auf einen Schlag zehn Menschen hinter ihnen hervortreten, um dann sehr ernst und in starren Posen die ersten Klatscher zu provozieren. Ihre sanft folklorisierten Gewänder haben sie mittlerweile gegen schwarze Alltagskleidung getauscht, in der sie wirken wie Puppenspieler, die gerne unsichtbar bleiben.
Wiederkehrende Überfahrt
Und was die zehn zuvor gut zweieinhalb Stunden lang gezeigt haben, war tatsächlich demonstrativ größer als sie, verzweifelter und geschundener, aber auch kälter und böser – und ganz selten auch mal märchenhaft. Denn Jochen Schölch, dieser Münchner Meister der sparsamen Mittel, hat sich ein wenig anstecken lassen von dem Original, das er für seine Verhältnisse erstaunlich opulent wiederbelebt hat.
Ariane Mnouchkines "Die letzte Karawanserei" kam zwischen 2003 und 2006 in mehreren bis zu siebenstündigen Versionen heraus. Rund 4000 Interviews mit Flüchtlingen waren in diese Theater- und Film-Inszenierungen eingegangen, von deren zirzensischem Zauber sich im Netz überzeugen kann, wer Mnouchkines fabelhaftes Théâtre du Soleil noch nie gesehen hat. Die Wellen, in denen die Flüchtlinge auf der Überfahrt nach Frankreich oder Australien ums Überleben kämpfen, sind hier so naiv wie wirkungsvoll aus luftbewegten grauen Tüchern.
Märchen, Illusionen, Peitschenhiebe
Im Metropoltheater sind die Wellen schäumende Schwarzweißfilm-Ungetüme. Laut überbrüllen sie die Schreie derer, die eine Art abgebrochenen Riesenmastkorb mit Menschen darin von links nach rechts und zurück über die Bühne ziehen. So wie sich die EU das heute wohl gerne zwischen der Türkei und Griechenland vorstellt. Und weil diese Wellen in einem auf Gaze projizierten Film brüllen und die eigentliche Szene live dahinter entsteht, sieht es bei deren Zurückweichen manchmal so aus, als würde das Meer sie verschlingen. Bis einer wirklich in der Tiefe des Bildes verloren geht und das Volk an einem Ufer gegen das am anderen die Waffe erhebt. Krieg liegt in der Luft, Krieg zwischen Völkern und Nationen, Männern und Frauen, Gesetzen und Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten.
In seiner Kompilation von Mnouchkines moderner Odyssee behält Schölch deren episodisches Erzählen bei: Oft sehr kurze, durch Blacks getrennte Szenen von unterschiedlichen Orten und Zeiten verdichten sich zu einer erschreckend aktuell wirkenden Geschichte der geradezu systematischen Entmenschlichung. Zwischen Kabul, Moskau, Teheran und Georgien in den Jahren 2000 bis 2003 mögen die Methoden, die zu ihr führten, jeweils verschieden gewesen sein. Und das Auffanglager im Calais von 2002 ist nicht identisch mit Idomeni und Co. Damals wie heute aber wachsen dort Zäune, damals wie heute finden Schleuser die Löcher darin und halten die Hand auf, sind Frauen Handelsware und Väter bereit, für die von Verboten, Peitschenschlägen und Bomben verstellte Zukunft ihrer Kinder alles zu opfern.
Damals wie heute bringt man den heimischen Krieg mit in die neue Heimat und verbreitet in der alten die Mär vom tollen Europa, wo man praktisch überall und sofort "an der Champs-Élysées" wohnt, wo doch in Wahrheit gelangweilte Asylprüferinnen das Loch in der eigenen Lebensgeschichte finden, das es nie gab.
Heimat-Fieberkurve
Bald stilisiert, bald mit großen Gefühlen, rund um eine einfache multifunktionale Holzbank oder in Beinahe-Überwältigungs-Ästhetik spielen alle im Ensemble so präzise Rolle um Rolle, dass man keinen einzeln hervorheben möchte. Sie spielen sadistische afghanische Mullahs, unberechenbare Zuhälter, Mütter, die ihre Töchter verkaufen und eine Babuschka, die ihrer Retterin ins Gesicht spuckt, weil sie Tschetschenin ist. Schölchs "Karawanserei" fächert die Vielfalt von Fluchtgründen ebenso auf wie die Fieberkurve der Heimatliebe und verschont uns weder mit blutenden Beinstümpfen noch mit der am Strick baumelnden Leiche einer Frau, die es wagte, im Land der Taliban einen Liebsten zu haben.
Neben vielen traumschönen Bildern ohne Gnade zeigt der Metropol-Chef aber auch, wie der Sufi-Dichter Rumi – auch er ein Flüchtling – schon im 13. Jahrhundert viele der heute virulenten Grausamkeiten antizipierte. Dass wir darüber entsetzt und traurig sein dürfen, ist die Botschaft dieses Abends. Deshalb scheut er vor Pathos nicht zurück. Das kann man kitschig finden – zumal auch Eleni Karaindrous' Musik mit Sitar und Streichern nicht eben dezent aufspielt. Doch Schölch weiß, wie man immer gerade rechtzeitig dem Betroffenheitsschwulst ausweicht – und sein Publikum dennoch berührt.
Die letzte Karawanserei
nach Ariane Mnouchkine
Deutsche Erstaufführung
Regie: Jochen Schölch,
Bühne: Thomas Flach, Kostüme: Sanna Dembowski, Musik: Eleni Karaindrou, Licht: Hans-Peter Boden,
Video: Daniel Holzberg, Dramaturgie: Katharina Schöfl, Maske: Nicole Weinfurtner, Regieassistenz: Domagoj Maslov.
Mit: Butz Buse, Vanessa Eckart, Lilly Forgách, Marc-Philipp Kochendörfer, Patrick Nellessen, James Newton, Sophie Rogall, Hubert Schedlbauer, Dascha von Waberer, Eli Wasserscheid.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause.
www.metropoltheater.com
"Überraschend großes Kino", freut sich Mathias Hejny von der Abendzeitung München (3.6.2016). Jochen Schölch könne das technisch aufwändige Spektakel ebenso wie die szenische Miniatur. Das Ergebnis sei ein Theaterabenteuer über die Abgründe des Menschseins hinweg, "das ebenso betört wie bestürzt, tiefe Emotion wagt und doch kitschfrei bleibt“. "All das wird von einem zehnköpfigen Ensemble in fast 40 Rollen gnadenlos präzise auf den Punkt gespielt."
Christiane Lutz schreibt auf der Website der Süddeutschen Zeitung (5.6.2016): "Kühne Künstler" seien hier am Werk, leider münde diese Kühnheit nicht immer in "geglückten Szenen". Jochen Schölch habe, selten genug käme so etwas vor, "richtige Szenen statt dokumentarischem Monologisieren inszeniert". Es gäbe sogar "handelnde und sprechende Figuren, die jetzt gerade fühlen und nicht nur darüber berichten". Alles sei konkret und es "wieder einmal erstaunlich, was dieses winzige Theater aus Bühne und Technik herauszuholen vermag". Allerdings: "Wie jeder Versuch einer Abbildung riskiert auch diese Inszenierung, dass das entstehende Bild zu schwach oder, und das ist hier der Fall, viel zu überladen sein kann." Es entstünden leider zu viele plakative Momente, hart am Kitsch vorbeischrammend. "Weniger ist manchmal mehr."
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Höchst kann man "Frei nach Le Théâtre du Soleil" schreiben.