Der ewige Hunger nach mehr

10. Februar 2024. Schon seit Jahrhunderten erschüttern größere und kleinere Katastrophen die fragile Beziehung zwischen Mensch, Natur und Landwirtschaft. Lothar Kittstein und Christoph Frick haben drei exemplarische Fälle herausgepickt und als Zeitbilder zu einer Collage verschnitten, in der sich nicht nur Bayern wiedererkennen können.

Von Sabine Leucht

"Land. Drei Zeitbilder aus Bayer" an den Münchner Kammerspielen © Maurice Korbel

10. Februar 2024. "Und es wird gut" sagt das Universum. Fast als habe es das Schlusswort in einem Stück von Bonn Park. Dabei ist es eine Figur in einem Gemeinschaftswerk von Christoph Frick und Lothar Kittstein, gespielt von André Benndorff als eine Art Conférencier mit Zauberer-Odeur, der sich recht spät als "Universum" outet. Und als Fritzi von dessen Erscheinung ein bisschen enttäuscht ist, sagt er: "Ich bin das Universum, das du dir verdient hast: André Benndorff".

Derlei inszenierte Ausbüx-Versuche aus den Rollen sind allerdings selten an dem Abend, der schon ausreichend Mühe hat, seinen Erzählsträngen genügend Volumen und Trennschärfe zu verpassen. Denn "Land" malt – so der Untertitel – "drei Zeitbilder aus Bayern", hängt sie aber nicht nebeneinander auf, sondern zerschnipselt sie und fügt ihre Schnipsel zu einer Collage zusammen, deren Zentrum ein rurales Thema nach dem Vorbild von Franz Xaver Kroetz' "Bauern Sterben" ist.

Verdienst ohne Rückemschmerzen

Wir schreiben das Jahr 1973. Die Ölkrise hat die Industrialisierung in der Landwirtschaft zugleich beschleunigt und gegen die Wand fahren lassen. Der Hof der Familie von Anneliese und Hermann wurde vergrößert, mit technischem Pipapo wie automatischen Gülleschiebern ausgestattet - und jetzt fehlt das Geld für das Dach und Gesellschaft für "die letzte Sau". Die Landwirts-Kinder finden Gestank wie "Schuldental" wenig attraktiv und sehnen sich nach München, Verdienst ohne Rückenschmerzen, ecstatic dancing und modischen Föhnfrisuren. Im neuen Farbfernseher begegnen Hausfrauen ihrem Gewissen in der Waschküche, der Audi 80 hält beim Bremsen die Spur und Bundespräsident Gustav Heinemann mahnt "eine tiefgreifende Änderung unserer Lebensweise" an. Denn "wir haben vieles so lange verdrängt, weil wir darin so sicher gewesen sind, dass es uns ständig besserzugehen habe."

Land2 c Maurice Korbel© Maurice Korbel

Dass das ein halbes Jahrhundert später noch erschreckend aktuell klingt, ist natürlich gewollt. Der zeitliche Zusammenfall der Bauernproteste mit der Premiere der zweiten Zusammenarbeit von Regisseur Frick und Theaterautor und Historiker Kittstein aber ist Zufall. Auch angepasst wurde da nachträglich nichts. Das Thema Nahrungsmittelproduktion war bereits gesetzt, ebenso wie die futuristisch anmutende Geschichte aus der Gegenwart, in der die Mikrobiologin und Hof-Erbin Fritzi trockenheitsresistente und besonders eiweißreiche Hirse herstellen will. Nicht ganz legal, aber in guter Absicht, denn Fritzi ist überzeugt: "Es geht nicht ohne Industrie. Aber ich zwinge sie zu tun, was richtig ist."

"Das Ende war schon oft"

Und dann geistert immer wieder eine Kinderschar mit großäugigen, auf Strumpfmasken gemalten Gesichtern durch die Szene. Es sind die Geister der Hungersnot von 1816, nachdem ein Vulkanausbruch in Indonesien zwei Sommer verdunkelt und im Mai für Schnee gesorgt hat. Jeder vermeintliche Fortschritt muss vor so etwas kapitulieren. Diese vater- und mutterlosen Kinder, in deren Gespensternachthemden bisweilen alle sechs Schauspieler schlüpfen, essen Erbrochenes und sind doch glücklich, weil sie ihr Schicksal in die Hand einer höheren Macht legen.

Sie sind Allegorien der Dankbarkeit und damit das glatte Gegenteil der Kinder der Siebziger, denen das Universum die Namen "Selbstmitleid" und "Anspruchsdenken" gibt. Und da ist was dran, nicht nur, weil Maren Solty und Elias Krischke diese Zuschreibungen mit prallem Leben füllen. Wer meint, früher war alles besser, leidet unter partieller Amnesie. Oder wie Hermann sagt: "Das Ende war schon oft".

Szenen aus zwei Jahrhunderten

Das hätte man durchaus auch ohne die litaneiartigen Fragen der Hunger-Kinder an ihren Gott begriffen, die mit ausgebreiteten Armen auf die Bühne kommen, als wären die virtuell herabfallenden Schneeflocken Sterntaler.
Unter den vielen Video-Projektionen, die die Therese-Giehse-Halle der Münchner Kammerspiele fluten, sind die ersten die schönsten. Während Marie Bonnet als Fritzi "ihr" Land betritt, zeigen Szenen aus zwei Jahrhunderten, dass es bereits eine Historie hat. Alles ist, alles wird an diesem Ort geschehen, zwischen den beiden großen Getreidesilos, die Gestein oder hartes Saatgut ausspucken.

Land4c Maurice KorbelHungergeister aus der Vergangenheit © Maurice Korbel

Das Bühnen- und Kostüm-Bildnerteam Tewes-Findeklee ist mitverantwortlich dafür, dass jedes Zeitbild seine eigene nicht-naturalistische Gestalt bekommt. Vor allem die ins Poppige vergrößerten Siebziger-Jahre-Muster und -Farben der Bauern-Kostüme spotten jeder Urigkeit. Martin Weigels Hermann fällt dazu immer wieder in schweißtreibenden Aktionismus und scheinoptimistische Tänze – und erschlafft, sobald er nicht mehr im Fokus steht. Und Traute Hoess ist als böse Matriarchin und furchtlose Nachbarin zu derb um wahr zu sein.

Gleichgültigkeit des Universums

In ihrer brutalen Direktheit kann auch die Sprache das Vorbild Kroetz nicht verleugnen, auch wenn sie nicht an seinen Kunstdialekt heranreicht. Zumindest im Bauernstück. Ton, Temperament und Körpersprache wechseln je nach Zeit und Sujet, und zwar durchaus plakativ: Der Glaube an Gott färbt alles pathetisch ein, der an Wachstum, Rentabilitätssteigerung und eine gesunde Watschn hitzig, der an Gentechnik und Risikokapital kühl.

Und aus dem finalen "Und es wird gut" spricht keine Hoffnung wider besseres Wissen, sondern nur die Gleichgültigkeit des Universums, das an stetige Veränderung mit Drifts, Reibung, Explosionen und entsprechende Kollateralschäden gewöhnt ist. Ein paar Millionen Hunger- oder Klimatote auf einem kleinen blauen Planeten fallen da nicht ins Gewicht.

Land. Drei Zeitbilder aus Bayern
von Christoph Frick & Lothar Kittstein
Regie: Christoph Frick, Bühne und Kostüme: Jana Findeklee und Joki Tewes, Musikauswahl: Sebastian Reier, Dramaturgie: Olivia Eberth, Video: Hannah Dörr, Licht: Maximilian Kraußmüller.
Mit: André Benndorff, Traute Hoess, Elias Krischke, Marie Bonnet, Maren Solty, Martin Weigel.
Premiere am 9. Februar 2024
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

Kritikenrundschau

Von einer überraschend witzigen Rustikal-Revue schreibt Alexander Altmann im Müncher Merkur (12.2.2024). Die Konzentration des Abends auf das "Mytisch-Schicksalhafte" des Kampfes mit der Scholle überzeugt den Kritiker jedoch nicht so sehr. Denn natürlich jage diese "unterhaltsame Landpartie" ein großer Schatten: "Fast 40 Jahre ist es her, da sorgten die Kammerspiele für einen historischen Skandal mit der Uraufführung von Franz-Xaver Kroetz' ruppiger Grotestke 'Bauern sterben', die das Schicksal kleiner Landwirte vom Klassenstandpunkt aus betrachtet." Derartiges politisches Bewußtsein suche man bei Frick und Kittstein vergebens.

"Ein rasantes Stück, das von der Spielfreude der sechs Schauspielenden lebt. Alltagsszenen, fett gezeichnete Figuren, schnelle Dialoge, derbe Sprache," schreibt Rosaria Kilian in der Augburger Allgemeinen (10.2.2024) "In der Manier einer Yasmina Reza vermittelt das Stück zwischen den Genres. Kittstein gibt Franz Xaver Kroetz' 'Bauern sterben' (1985 ebenfalls in den Kammerspielen uraufgeführt) als Referenzpunkt an, hier bei 'Land' vermischen sich Bauernstück und Klima-Theater." Allerdings schafften es nicht alle Darstellenden, "die Figuren aus dem Scherenschnitt zu befreien."

"Einige der zuweilen durchaus deftigen wie brutalen Dialoge erinnern an Kroetz," schreibt Matthias Hejny in der Münchner Abendzeitung (12.2.2024). Emotionalität oder gar sentimentaler Schmelz aber seien weder die Sache des Autors noch die des Regisseurs. "Das starke Darstellerquintett  muss immer wieder, wenn es spannend wird, aus den Figuren aussteigen und gegen ein Erklärtheater anspielen, mit dem ein umfängliches Curriculum abgearbeitet wird."

"Eine Kritik an einem kapitalistischen System, das bäuerliche Betriebe zu permanenter Optimierung zwingt, deren Grenzen aber nicht zuletzt durch die Klimakatastrophe längst erreicht sind" hat Christiane Lutz gesehen und schreibt in der Süddeutschen Zeitung (14.2.2024): "Künstlerisch hingegen holpert der Abend, Szenen wirken nicht scharf gearbeitet, dann wieder sind Bezüge überbetont, Botschaften wie mit einem Ausrufezeichen versehen, was mehr an dem etwas ziellos mäandernden Regiekonzept von Christoph Frick liegt als am Text von Lothar Kittstein. Denn der hat eine Dichte und trifft immer wieder auch die poetische Grobheit eines 'Bauernstücks'. "Land" habe "als politischer Text auf alle Fälle Bühnenpotenzial". 

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