Trommeln in der Nacht - An den Münchner Kammerspielen reist Christopher Rüping mit Brecht in der Zeit
Unterm Papp-Mond
von Michael Stadler
München, 14. Dezember 2017. Ach, wie wäre das, wenn man die Zeit zurückdrehen könnte, um Vergangenes nochmal zu erleben. Theaterzauber, Einfühlung, Sprachkunst, Illusion. Würde man jedoch in die Zeit des jungen Bertolt Brecht reisen, zu jener Uraufführung von "Trommeln in der Nacht" am 29. September 1922 in den Kammerspielen, dann ergäbe sich nicht ganz das eskapistische Vergnügen, das man sich vielleicht wünschte. Denn Brecht war ein Revolutionär, der den Umbruch zum epischen Theater zwar erst später konsequent vollzog, aber schon einige illusionsbrechende Schrauben gegen jede billige Gefühlsduselei andrehte.
Die Sehnsucht, zurückzugehen, die Dinge verändern zu können
Der Spruch "Glotzt nicht so romantisch!" stand auf Plakaten im Zuschauerraum der Kammerspiele und ist nun erneut bei der Premiere von Christopher Rüpings Inszenierung in den heutigen Kammerspielen zu lesen. Rüping und sein Team probieren aus, wie das wäre, wenn man einfach noch mal die ersten Akte exakt genauso wie bei der Uraufführung zeigen und spielen würde. Viel ist dabei der Fantasie überlassen, weil es von damals nur einige Dokumente gibt, darunter Fotos, auf denen die Kulissen von einst zu sehen sind, die Bühnenbildner Jonathan Mertz nun nachgebaut hat. Da fahren Holzstellwände herab, und vor den gemalten Hochhäusern, die für die Großstadt Berlin stehen, zeigt sich ein bürgerliches Interieur, wie es konventioneller kaum sein könnte.
Zuvor hat Nils Kahnwald in ein Mikro noch einen Text von Lion Feuchtwanger gesprochen. In diesem beschreibt Feuchtwanger die Szenerie der "Trommel"-Uraufführung, schwärmt von dieser jungen Entdeckung Brecht. Wie sich dann das Bühnenbild vor allen Augen zusammenbaut, das hat schon einen gewissen Theaterzauber. Selbst der Papp-Mond darf nicht fehlen, ein roter Brecht-Planet.
Schon dieser Anfang ist Science-Fiction. Zeitreisen erzählen oft von der Sehnsucht, zurückzugehen und die Dinge vielleicht verändern zu können. Der Zeitreisende ist dabei ein nachhastender Umstürzler, der die Unmöglichkeit seines Unternehmens noch erkennen muss. Dinge sind passiert, Entscheidungen gefällt, rien ne va plus. Womit man bei Kragler ist, der nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft feststellen muss, dass seine Liebe Anna mit dem Kriegsgewinnler Murk verlobt ist. Ungeschehen lässt sich das nicht machen. Und doch: Magisch kehrt Anna zuletzt zu ihm zurück.
Kein Zurück ins Museum
Im Reenactment des ersten Akts lauert überall die Parodie. Denn wer so wie einst spielt, der hängt sich in einen Pathos, der spricht so artikuliert, dass es nur komisch wirken kann. Rüpings Darsteller machen das mit heiligem Ernst. Wiebke Puls gibt die Mutter sehr statisch, sehr aufrecht, sehr witzig, die Handflächen flach am schwarzen Kleid. Ihr gegenüber spielt Hannes Hellmann mit herrlich sonorem Schauspielerbass den Patriarchen, Wärme in der Stimme, Pragmatismus im Denken: Bald-Schwiegersohn Murk soll Teilhaber der väterlichen Fabrik werden, die nach dem Krieg von Geschosskörben auf die Produktion von Kinderwägen umschwenkt.
Mit seinem Menjou-Bärtchen dünstet Nils Kahnwald den Glamour eines Stummfilmhelden aus, sein Körper spricht ruhig von Murks Souveränität, während Wiebke Mollenhauer das leicht rebellische Töchterchen spielt. Es gibt bei allen eine Lust am dramatischen Sich-Platzieren im Raum, zur großen Darstellung für die letzte Reihe. Christian Löber spielt den Kriegsheimkehrer Kragler mit allem dramatischen Ernst, (fast) berührend, weil sein Pathos nur geringfügig in die Komik schwappt.
Das Zurückfantasieren führt bei Rüping nicht ins Museum, weil allein die Energie der Darsteller, der Energieaustausch mit dem Publikum erfrischend ist. Damian Rebgetz entwirft den Journalisten Babusch zudem als eine Figur, die sich von Anfang an nicht richtig einordnen lässt, ein liebenswerter Störenfried aus der Popkulturkiste, dessen musikalischen Talente sich immer mehr entfalten dürfen, weil auch die Inszenierung mit zunehmend großen Schritten ins Heute wandert. Eine Jukebox leuchtet schön, und Rebgetz singt Hits von "Billie Jean" bis "I Shot the Sheriff", um mit einer poppigen Version von "Du meine Seele, du mein Herz", ach, betörend in die Romantik einzutauchen.
Aus Brecht wird eine Textfläche
Das Spiel von vorvorgestern und die Songs von gestern reiben sich in parallel gesetzten Situationen. Während sich Nils Kahnwald und Wiebke Mollenhauer beim In-die-Augen-Blicken altmodisch Zeit lassen, plaudert Damien Rebgetz hinten ins Bühnen-Off – angeblich mit einem Zuschauer, der irgendwie Backstage gelandet ist und dem er die bisherige Handlung auf Englisch erklären will, weil der Eindringling ein Ausländer ist. Der nervt so, dass Rebgetz ihn mit einem "Fuck off" wegscheucht.
Letztlich sind die Figuren Wiederkehrer, Zombie-like, auf den Spuren alter Schauspielgeister, unerlöst in der Gegenwart und mit Drive in die Zukunft, weil das Stück zur Zeit des Spartakusaufstands spielt. Damals kämpften linke Revolutionäre gegen die Regierung, was in der Besetzung des Berliner Zeitungsviertels eskalierte. Im vierten Akt stürzt die ganze Inszenierung um. Die Kulissen sind weg, monströse Konstruktionen mit Neonlampen fahren vom Bühnenhimmel und stehen als wuchtige Science-Fiction-Brummer da wie der Monolith in Kubricks "2001". Die Darsteller sprechen an Mikros gemeinsam den Text. Aus Brecht wird eine Textfläche. Christian Löber agitiert ins Publikum hinein, um sich dann doch von Anna Richtung Bett und sicheres Spießbürgerleben ziehen zu lassen.
Wir schauen mitfühlend zurück
Ach, wie wäre das, wenn man die Zeit zurückdrehen könnte und Brecht/Kragler sich doch für die Revolution entscheiden würden? Rüping und sein Team bieten ein alternatives Ende an, in einer Variante "nach Brecht", die übermorgen Premiere hat. Brecht soll sich für die Entscheidung seines Helden geschämt haben, geändert hat er jedoch nichts. In der Version "von Brecht" ziehen sich Anna und Kragler ins private Glück zurück.
Hier schleicht sich bei aller Smartness doch das Gefühl in Rüpings Inszenierung ein. Im bewussten Überschwang erklingt Smetanas "Die Moldau" zum Happy Happy End, Damien Rebgetz singt dazu vom "House of the Rising Sun". Zurück bleibt Murk, der wütend den roten Mond zerstört, während Bühnenarbeiter die Kulissen per Maschine zerstückeln. Alle Illusionen dahin. Vielleicht bringt der Sonntag für Murk was Besseres. An diesem Abend bleibt er allein zurück. Blickt uns an. Und weil wir als beharrlich romantische Glotzer besonders die Verlierer mögen, schauen wir mitfühlend zurück.
Trommeln in der Nacht
von Bertolt Brecht
Regie: Christopher Rüping, Bühne: Jonathan Mertz, Kostüme: Lene Schwind, Licht: Christian Schweig, Musik: Christoph Hart, Damian Rebgetz, Paul Hankinson, Dramaturgie: Katinka Deecke.
Mit: Christian Löber, Damian Rebgetz, Hannes Hellmann, Nils Kahnwald, Wiebke Mollenhauer, Wiebke Puls.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
"Der Abend wäre lasch und peinvoll, gäbe es nicht einige schauspielerische Glanzpunkte, und an fast allen ist Wiebke Puls beteiligt", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (16.12.2017). "Wer wie Rüping viele Haltungen vorführt, hat letztlich keine, ist also feig. Wiebke Puls ist nie feig." Wenn die Aufführung in den letzten beiden Akten "in einem nah am Kitsch angesiedelten, kaum begreifbaren Zukunftsszenario" abzusaufen drohe, behalte sie mit Grandezza die Klarheit der Sprache. "Im Grunde spielt Wiebke Puls in ihren Figuren jene Ambivalenz, auf die der Abend in Gänze zielt", so Tholl. "Nur sie macht das sehr fein, Rüping hingegen poltert."
"Vielleicht ist einiges hier um des bloßen Effektes willen so und nicht anders geworden, faszinierend aber bleibt der Abend bis zuletzt", schreibt Sabine Leucht in der taz (18.12.2017).
Rüping und seine Darsteller*innen leuchteten aus, "wie sich das Darstellen des Menschen, vor allem seiner Gefühle, in 100 Theaterjahren verändert hat", schreibt Richard Mayr in der Augsburger Allgemeinen (18.12.2017). Am Ende: "Starker Beifall für eine starke Inszenierung."
Die Gesten und Phrasen der Schauspieler seien wie ausgeschnitten, schreibt Patrick Bahners in der FAZ (20.12.2017). "Diese Zitatästhetik ist dem Collageverfahren des Textes kongenial. Wenn Wiebke Puls sich als Rabenmutter im expressionistischen Solotanz verrenkt, glaubt man sich in einen Scherenschnittfilm von Lotte Reiniger versetzt. Und man sieht: Dass es für Schauspieler in den Kammerspielen nichts mehr zu tun gebe, ist ein Gerücht." Im Gegenteil seien sie gerade hier gefragt, wo die Illusionslosigkeit als Realismus hingestellt werde, wo Handlungsmaterial sich auf Reflexe und Automatismen reduziere, aber dem Publikum die Möglichkeit eines freien Umgangs mit dem Stoff vorgeführt werden solle.
Glotzt nicht so romantisch auf diesen Brecht! - weiter lesen auf Augsburger-Allgemeine: http://www.augsburger-allgemeine.de/kultur/Glotzt-nicht-so-romantisch-auf-diesen-Brecht-id43569161.html
Glotzt nicht so romantisch auf diesen Brecht! - weiter lesen auf Augsburger-Allgemeine: http://www.augsburger-allgemeine.de/kultur/Glotzt-nicht-so-romantisch-auf-diesen-Brecht-id43569161.html
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Doch scheint Christopher Rüping ein Regisseur mit sehr, sehr vielen Ideen zu sein, die er alle in einer Inszenierung unterbringen muss. Das schadet dem Abend. Die vielen Performance-Einlagen nerven mich. Der Abend zerfleddert, verkommt zur Verfremdungseffekthascherei. Weniger wäre (wieder mal) mehr gewesen. So gab's doch viel "Durchfall" (Zitat).
die (traditionell konservative) bewahrung und pflege von kunstwerten (brechts stücke) und erkennen der (zeitlosen) substanz, welche für gegenwart und zukunft allerbestens als erkennungsbasis taugen.
ich lese es als versöhnungsvorschlag gegen jedes fundamentale "entweder oder", welches durch die heutige gesellschaft als pseudo-moralischer hype der polarisierung wabert und scheinbar jede (konservative=erhaltenswerte konserve) rückerinnerung als fortschritts-vernichtung stigmatisiert und jede geschichtsschreibung damit karikiert.
"Das Zurückfantasieren führt bei Rüping nicht ins Museum, weil allein die Energie der Darsteller, der Energieaustausch mit dem Publikum erfrischend ist."
genau: es ist die gegenwärtige energie und deren aktiver und lebendiger austausch (ohne romantisches glotzen), welcher hellwach die große verbindung allen menschlichen seins beschreibt und NICHT die heute praktizierten (ideologischen) kämpfe einer totalen ausschließlichkeit, welche die unsinnig lächerliche konfrontation zwischen tradition und avantgarde befeuert - völlig jenseits vom verständnis von WERTEN und lediglich populären parolen verpflichtet, welche wie ein diktat "sieger und verlierer" verkünden will ohne dabei nach dem "preis" zu fragen bzw. diesen benennt.
dabei wäre doch genau dies die "preisfrage", wenn die "trommeln in der nacht" unsere fantasien zwischen "revolution" oder "restauration" abwägen lassen, so als sei dies jemals eine mögliche entscheidung und nicht nur eine simple populistische haltung, der wir uns gedankenlos unterwerfen sollen ... und dies einfach auch noch OHNE emanzipierte ENERGIE
(Welche Kritiken sind hiermit genau gemeint? Etwas ratlos, freundlich grüßend, Christian Rakow / Redaktion)
In ihrem Eifer, in den historischen Stoff einzusteigen, verlieren sich Rüping und sein Team in einem Museum. Das Theater kommt viel zu kurz.
Das gilt leider auch für die späteren Akte des Dramas: der Abend zerfasert zur müden Performance.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/01/01/trommeln-in-der-nacht-christopher-rueping-reist-an-den-muenchner-kammerspielen-mit-zwei-brecht-versionen-ins-theatermuseum/
Christopher Rüpings Trommeln in der Nacht ist eine Meditation, eine Reflexion, ein Experiment über das Labor Theater. eines, das Zeiten, Ästhetiken miteinander verschränkt, ineinander kippen lässt, das Extreme sucht und Zwischenräume findet. Das sich die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung, der politischen Macht der Bühne stellt, sie aber nicht beantwortet. Oder besser: verschiedene Antwortmöglichkeiten anbietet. Das das „romantische Glotzen“ des Zuschauers zerlegt und wieder zusammenfügt als eine von vielen Optionen. Das Gestern und Heute konfrontiert und viel Dazwischen, Realität und Kunst miteinander reagieren lässt und doch die Wirklichlkeit weit draußen lässt, wodurch sie erst recht hineinkommt. Die Fragen, die er bei Brecht findet oder vermutet, sind heutige: Wo steht die Kunst, das Theater in unruhigen Zeiten, wo wir, die Zuschauer*innen, die doch auch Handelnde sein könnten? Ist das Bett, in das Kragler und Anna bei Brecht fliehen, nicht unser Theatersessel? Das Spotlight landet auf uns, dem Zuschauenden, sich unterhalten lassen Wollenden. Was machen wir damit? Die Optionen liegen vor uns. „Du musst dich entscheiden“, raunen die Revolutions-Roboter Kragler zu. Und sprechen doch zu uns, die wir auf der eigentlichen Bühne sitzen. Denn wir sind real, alles andere ist Theater.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/05/12/alles-theater/