Die Zofen - Münchner Volkstheater
Die Helene Fischers dieser Welt
30. September 2023. Ziemlich bewegt geht es auf der Bühne des Münchner Volkstheaters zu, wo Lucia Bihler mit Jean Genet in die Saison startet. Die Schauspieler haben Poledance geübt, zeigen Spaß am Drag und wie erschöpfend es sein kann, sich fremde Gesten anzueignen. Sogar echtes Blut fließt bei der Premiere.
Von Sabine Leucht

30. September 2023. Zwei silberne Pferde auf einem silbernen Karussell. Rechts und links schimmern Showtreppen aus Lack. Dazu gibt es wabernde Vorhänge, wabernden Nebel, düster-wabernde Musik – und viel Hall auf dem Knall der Bodenluken, aus denen die Zofen steigen.
Ziemlich symmetrisch ist nicht nur Jessica Rockstrohs tolle Bühne, sondern auch das, was die beiden Zofen dann darauf tun: Mit zwei Straußenfeder-Staubwedeln die Konturen der Pferde streicheln. Nicht zärtlich, sondern eher so, als triebe sie ein anatomisches Interesse an. Und die Anatomie einer Dreier-Beziehung ist es ja auch, die Genet in seinem Stück "Die Zofen" auffächert: Ein Abhängigkeitsgeflecht aus Oben-Unten, Liebe, Hass, Neid, Geschlechterrollenübererfüllung und allem Drum und Dran.
Drei Männer, die Frauen spielen
Bloß ist nichts davon eins zu eins auf die konkrete Lebenswelt herunterzubrechen. "Für Genet ist der Theatervorgang dämonisch, der Schein, der ständig dabei ist, sich als die Realität auszugeben, muss ständig seine tiefe Irrealität aufdecken. Alles muss zum Zähneknirschen falsch sein." Dieses Sartre-Zitat im Programmheft könnte gut auch Lucia Bihler meinen. Ihre Regiesprache ist von extremer Künstlichkeit mit einer Vorliebe für Farbsymbolik, Spieluhrhaft-Mechanisches und harte Blacks. Bihler mag Wiederholungen, die Vervielfältigung von Figuren und genderqueere Besetzungen.
All das hat Genet schon 1947 in sein Stück hineingeschrieben: Drei Männer, die Frauen spielen, die den Aufstand proben, immer wieder aufs Neue. Im Münchner Volkstheater sind das Lukas Darnstädt und Jakob Immervoll als die Schwestern/Zofen Solange und Claire und Silas Breiding als ihre Madame. Sie tun das mit extrem viel Spaß am Cross-Dressing wie -Behaving und zugleich mit großer Lässigkeit.
Silberne Karusselpferde auf der schwarz glänzendem Bühne von Jessica Rockstroh © Sebastian Arlt
Kaum lassen die beiden Zofen den anfangs gezückten Staubwedel fallen, reitet eine von ihnen auf dem bislang verdeckten Drittpferd ins Rund. Mondän auf den glänzenden Metallrücken geräkelt, die rosa Korsage endet unter der Brust, die langen Schäfte der schwarzen Lackhandschuhe erst über den Ellbogen. Sie spielt die geliebt-verhasste "gnädige Frau". Und Sprache funktioniert auf allen Ebenen dieses Spiels als Platzanweiserin. Ob in einer Bemerkung wie "Ich werde schön sein. Schöner als Sie je sein werden" oder in einem Befehl wie "Silence!": Sie zementiert und vergrößert die soziale Kluft zwischen (fiktiver) Herrin und Dienerin.
Diva auf der Showtreppe
Im Spiel im Spiel wie dann auch "in echt". Es geht um Schranken, Klassen, die Selbstverständlichkeit wie die Performativität von Privilegien und die Ohnmacht derer, die die Privilegierten insgeheim bewundern. Und es geht um all das auch wieder nicht. Dieses Schillernd-Bizarre arbeitet Bihler schön heraus. Wie die Frauen einander spiegeln, umgarnen, anziehen und abstoßen, zeigt sich in Symmetrien und dem Bruch mit ihnen, im gemeinsamen melodischen Tönen und einzelnen, seltsam krähenhaften Aufschreien.
Der ganz große Auftritt aber gehört Silas Breiding als Diva auf der Showtreppe, die mit rauchiger Stimme singt und sich in den Blicken der Menge sonnt. Was für eine Schönheit, was für ein unwiderstehliches Lächeln! Sind die neuen Herrinnen die Helene Fischers dieser Welt? Konnten sie so groß werden, weil wir uns so klein machen?
Jakob Immervoll in großer Pose. © Sebastian Arlt
Derlei Fragen ploppen gelegentlich auf, aber allzu breit machen sie sich nie. Dafür ist viel zu viel aufgeboten, zum Beispiel haben die drei mit Jemima Rose Dean, Tänzerin in Richard Siegals in Köln gerade abgewickeltem Ballet of Difference, Poledance geübt. Dass Breiding, der darin so weit gekommen ist, dass er Szenenapplaus erntet, dabei bei der Premiere blutet, ist ziemlich sicher Zufall. Aber einer, der auf die unvermeidlichen Risse in der hochglanzlackierten Diven-Oberfläche verweist. Besonders schön: Das Blut verläuft so schnurgerade vom Knie hinab als wollte es eine Strumpfnaht zeichnen.
Granzdezza oder Rebellion?
Überhaupt geht es zwar um Formkorsette an diesem Abend, um die Aneignung von Gesten der Güte, Grandezza oder Rebellion und die Erschöpfung, die sie nach sich zieht. Er selbst aber ist bis zur Albernheit spielerisch und viel weniger konzeptuell als frühere Bihler-Arbeiten wie etwa die zum Theatertreffen eingeladene Burgtheater-Inszenierung Die Eingeborenen von Maria Blut, in der sich ein ganzes Dorf dem Faschismus ergibt. Dabei sind auch die Zofen und ihre gnädige Frau eine Schicksalsgemeinschaft, aber mehr im beckettschen Sinne. Man sieht das in exakt getimten, fast clownesken Szenen wie jener, in der eine Tasse mit vergiftetem Liindenblütentee in einem perfekten Kreis von Hand zu Hand geht.
Keine neue Genet-Deutung ist dem kleinsten der drei großen Münchner Theater hier zum Spielzeit-Auftakt gelungen. Und man geht danach auch nicht auf die Straße und ruft nach der Revolution. Aber eine eigentümliche Existenzial-Groteske mit Platz für Zart-Trauriges. So kann's weitergehen.
Die Zofen
von Jean Genet
Aus dem Französischen von Simon Werle
Regie: Lucia Bihler, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüme: Leonie Falke, Musik: Jakob Suske Outside Eye: Paulina Alpen, Tanztraining: Jemima Rose Dean, Licht: Björn Gerum, Dramaturgie: Rose Reiter.
Mit Silas Breiding, Lukas Darnstädt, Jakob Immervoll.
Premiere am 29. September 2023
Dauer: 1 Stunde, 40 Minuten, keine Pause
www.muenchner-volkstheater.de
Kritikenrundschau
In der Frage, ob durch die Crossgender-Besetzung "der Blick auf das Wesentliche" freigeschaltet wird, ist sich Kritiker Martin Pesl unsicher, berichtet er auf Deutschlandfunk Kultur (29.9.2023). Im ersten Teil, im Spiel im Spiel, standen für ihn zu sehr "das Seufzen und die Ohnmachtsanfälle, die drohen", im Vordergrund – die Tatsache, dass die Schauspieler Männer sind, die Frauen spielen, wurde sehr zelebriert, fragt man den Kritiker. Der Abend werde aber im Verlauf immer dichter. Mit Silas Breiding als gnädige Frau komme ein "Comic relief" ins Spiel, mit "richtiger Show". Die Regisseurin halte sich im zweiten Teil merklich zurück und überlasse ihren "fantastischen" Schauspieler:innen das Feld. Bihler habe erkannt, dass das ein Schauspieler:innen-Abend ist. Durch Lichtreflexionen werde das Publikum so geblendet, dass das Zuschauen zu einer "körperlichen Erfahrung" werde - das gebe diesem Abend gegen Ende hin eine "tragische Stärke".
Der Abend bleibe "immer an der Oberfläche" der "Abgründe", die Genets Stück enthalte, schreibt Sabine Busch-Frank in der Mittelbayrischen Zeitung (2.10.2023). Er spiele "weder die toxische, auch inzestuöse Beziehung zwischen den Schwestern aus", noch wage er, "die unüberwindliche Klassenschranke zwischen Dienerinnen und die Gnädige zu legen", urteilt die Kritikerin. "Viel mehr sind alle drei Darsteller, in phantastisch androgyne Kleider von Leonie Falke gehüllt, Stars in dieser Manege. … Gekonnt schwingen sie sich an den Pool Dance Stangen empor, strahlende Sterne der Nacht. Sie schwitzen – und bleiben doch immer clean."
Lucia Bihler wähle einen hoch konzentrierten, optisch wuchtigen und stark stilisierten Zugriff auf den Stoff, schreibt Michael Schleicher vom Münchner Merkur (1.10.2023). “Dadurch betont die Regisseurin die Künstlichkeit aller Verhältnisse, letztlich also auch deren Veränderbarkeit.“ Zwischenzeitlich drohe der Abend zu verflachen ("viel Futter fürs Auge, gewiss, aber recht wenig fürs Hirn"), aber dann rücke Bihler die Gewalt in den Fokus. Der knallig-grelle Abend ende mit einer traurig-leisen Erkenntnis.
Christiane Lutz von der Süddeutschen Zeitung (3.10.2023) lobt die Stückauswahl: "Das Klassen- und Klassismus-Stück 'Die Zofen', 1947 uraufgeführt, ist natürlich brandaktuell in einer westlichen Welt, die wieder voller dienstbarer Geister ist: Reinigungskräfte, Au-Pairs, Lieferservice- und Paketboten." Und Lucia Bihler sei als Meisterin des somnambulen Zwischenzustands und der formstrengen Groteske eine ideale Regisseurin für den Stoff. Unter der schillernden Oberfläche ihrer Inszenierung blitze es nur umso abgründiger hervor, "nichts als Glitzer auf der Grausamkeit".
Als "glamourös und artifiziell" beschreibt Teresa Grenzmann in der FAZ (4.10.2023) diesen Abend, den sie im luxuriösen Milieu des Unereichbaren angesiedelt sieht. "All dieser Luxus atmet Entbehrung, in jeder der hundert starken, konzentrierten Minuten, in jedem Moment des Rituals, das mit den Identitäten spielt, in jedem x-beinigen Gehorsam vor der Gnade einer Herrschaft, die per se in Abhängigkeit versetzt, in jedem Erschrecken voreinander und damit: vor sich selbst und der gesellschaftlichen Gefangenschaft."
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