Die Dichterin im Teleskop

17. März 2024. Ein steiniger Weg: raus aus dem Kopenhagener Arbeiterviertel in die Welt der Literatur. Und der Drogen. Und der enttäuschenden Männer. Tove Ditlevsen (1917–1976) hat davon in ihrer Kopenhagen-Trilogie Zeugnis abgelegt. Elsa-Sophie Jach macht das Romanwerk bühnentauglich.

Von Martin Jost

Elsa-Sophie Jach inszeniert die "Kopenhagen-Trilogie" von Tove Ditlevsen am Residenztheater in München © Birgit Hupfeld

17. März 2024. Die Bühne von Marlene Lockemann im Marstall ist ein Gerüst aus Vierkantstahl und milchweißen Kunststoffwänden. Terrassenartige Podeste bilden eine Vorbühne, aber zentral ist der weiße Würfel. Zunächst steht er für die enge Wohnung, in der sich Familie Ditlevsen auf die Füße tritt. Nie ist man allein, beklagt sich Toves großer Bruder Edvin.

Als Tove ein Poesiealbum bekommt und endlich die Gedichte zu Papier bringen kann, die ihr durch den Kopf spuken, weitet sich buchstäblich ihre Welt. Der Würfel zieht sich teleskopartig in die Breite und es zeigt sich, dass er eigentlich aus drei ineinander verschachtelten Räumen besteht. Uns schwindelt kurz. Barbara Westernachs Licht fügt mit Schattenspielen und Farben noch eine weitere Dimension hinzu.

Der lange Pfad zur Emanzipation: Tove Ditlevsten

Durch die Mechanik des Raumes fahren andererseits immer zwei Wände aufeinander zu, sperren Figuren ein und drohen, sie zu zerquetschen. Dieser Wechsel zwischen heller Weite und Platzangst ist das ideale Bild für die Höhen und Tiefen in Tove Ditlevsens Leben und außerdem eine dankbare Vorlage für die fünf Schauspieler*innen.

Die Lyrikerin und Erzählerin Tove Ditlevsen (1917–1976) gehört in ihrer Heimat Dänemark zu den bekanntesten Schriftstellerinnen. In Deutschland wurde sie durch ihre "Kopenhagen-Trilogie" (1967–1971) erst kürzlich bekannt – drei schmale Memoiren mit den Titeln "Kindheit", "Jugend" und "Abhängigkeit".

Im ersten Teil geht es um das Aufwachsen in einer armen Familie im Kopenhagener Arbeiterviertel Vesterbro. Im zweiten Buch emanzipiert sich Tove langsam von ihren Eltern und festigt den Wunsch, das Schreiben zu ihrem Beruf zu machen. Im letzten Teil wird ihr Traum Wirklichkeit: Sie veröffentlicht Bücher und kann davon leben. Sie durchlebt aber auch vier unglückliche Ehen, wird Mutter, hat Abtreibungen unter unwürdigen Bedingungen und wird süchtig nach Morphinen. Ihre Medikamentenabhängigkeit übersteht sie nur knapp.

Kopenhagen Trilogie 2 CBirgitHupfeld uDurchstreifen das Leben von Tove Ditlevsen: Max Rothbart, Cathrin Störmer, Naffie Janha und Thomas Reisinger © Birgit Hupfeld

Die drei Lebensabschnitte von Tove teilen Naffie Janha, Pia Händler und Cathrin Störmer unter sich auf. Janha spielt auch noch Toves Freundin Nina, Händler auch noch das Kindermädchen, Störmer spielt Toves Mutter und ihre Arbeitgeberin-Vermieterin. Ganz zu Anfang und zum Schluss stehen alle drei Aspekte von Tove auf der Bühne und teilen sich den Text, als käme er aus einem Mund.

Drogensucht

Thomas Reisinger und Max Rothbart teilen sich die männlichen Rollen – Vater, Bruder, Liebhaber, Ehemänner und Ärzte. Alle Figuren sind trennscharf gezeichnet, sowohl von Aino Laberenz' Kostümen als auch vom souveränen Spiel des Ensembles. Pia Händler schultert in der Mitte besonders viel Tove und man möchte sich die Augen wischen, wenn Max Rothbart sich von einem Ekelpaket in einen Liebhaber verwandelt oder zwischen dem gebrochenen Bruder Edvin und dem aufreizenden Kavalier Kurt wechselt.

Rothbart spielt auch den co-abhängigen dritten Ehemann Carl, den Tove nur heiratet, um lebenslang an ihre Drogen zu kommen. Im Text sind schlüssige Erklärungen angelegt sowohl für Toves Depression und Absturz in die Sucht als auch für die Kraft, die sie findet, um aus dem düsteren Strudel zu entkommen. Es ist ein Tauziehen zwischen dem Wunsch nach Betäubung und der Sucht nach dem Schreiben: "Nur, wenn ich schrieb, drückte ich mich selbst aus."

Kopenhagen Trilogie 3 CBirgitHupfeld uMax Rothbart, Pia Händler und Musiker Samuel Wootton auf der Bühne von Marlene Lockemann © Birgit Hupfeld

Unter den Angriffen der Mutter auf ihr Selbstwertgefühl und in der von Klassenunterschieden geprägten Welt hat Tove gelernt, dass Gefühle zu zeigen eine Schwäche ist. "Ständig stößt man gegen seine Kindheit und tut sich weh", sagt sie einmal. Lieber bleibt sie ungerührt im Angesicht von Krankheit, Scheidungen, Fremdgehen und Tod. Literatur ist ihr die liebste Art, mit der Wirklichkeit umzugehen und sie sich zugleich vom Leib zu halten.

Dass Tove Ditlevsens Memoiren in erster Linie ein literarisches Produkt sind, unterstreicht auch die Bühnenfassung. Oft spricht Tove den Text der Erzählerin. Statt eines naturalistischen Dialogs mit den anwesenden Figuren durchbricht sie die Vierte Wand und berichtet, was passiert. Solche Verfremdungen halten uns auf Abstand zu der Welt, die sie bewohnt.

Als sie sich selbst in eine Entzugsklinik einweist, kommt eine Leinwand aus dem Himmel und sperrt uns aus. In der Projektion sehen wir live, was sich unmittelbar hinter der Leinwand abspielt. So sind wir einerseits noch stärker vom Geschehen abgetrennt, andererseits rückt Kameramann Niels Voges Tove derart auf die Pelle, dass wir ihr in dieser entscheidenden Episode so nahe kommen wie nie.

Aufbruch ins Morgen

Samuel Wootton vertont den ganzen Abend live mit elektronischer Musik. Der Soundtrack verstummt praktisch nie. Manchmal untermalt er leise Gefühle, dann treibt er laut zum Showdown. Mit Schreibmaschine, Klingel und raschelnder Folie ist Wootton außerdem Geräuschemacher. Er steuert viel zum Stück bei, nicht zuletzt Humor, aber ein bisschen weniger Musik wäre für die Wirkung mehr gewesen.

Elsa-Sophie Jach hat einen konzentrierten Abend aus prägnanten Bildern geschaffen, der wie ein Rausch vergeht. Kater eingeschlossen. Nach ihrem Entzug hält Tove sich von Carl fern und fängt mit Victor, Ehemann Nummer Vier, ein neues Leben an. Die Raffungen im Stück gegenüber der Vorlage treten hier besonders zutage: Toves Leben nach der Abhängigkeit wird so geradlinig erzählt, dass es fast ein Happy End ist. "Morgen", sagt sie zum Schluss, "Morgen werde ich wieder mit dem Schreiben anfangen."

 

Die Kopenhagen-Trilogie
nach den Romanen "Kindheit" – "Jugend" – "Abhängigkeit" von Tove Ditlevsen
Für die Bühne bearbeitet von Tom Silkeberg, mit einem Videoprolog aus "Gesichter"
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Inszenierung und Fassung: Elsa-Sophie Jach, Bühne: Marlene Lockemann, Kostüme: Aino Laberenz, Komposition und Musikalische Leitung: Samuel Wootton, Video: Jonas Alsleben, Licht: Barbara Westernach, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Naffie Janha, Pia Händler, Cathrin Störmer, Thomas Reisinger, Max Rothbart. Live-Musik Samuel Wootton.
Premiere am 16. März 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Mehr zum Werk von Tove Ditlevsen:

  • Im Juni 2023 zeigte Ewelina Marciniak in Frankfurt Das Tove-Projekt, ebenfalls nach der "Kopenhagen-Trilogie" und "Gesichter" von Tove Ditlevsen

 

Kritikenrundschau

Elsa-Sophie Jach inszeniere diese Romanadaption "mitreißend und stürmisch", schreibt Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (€ | 18.3.2024). "Neben Tove Ditlevsen macht sie den Raum – den gedanklichen und den – zum zweiten Protagonisten des Abends."

Im Residenztheater "treiben Spitzenschauspieler unseren Puls nach oben" und "balancieren auf des Messers Schneide, nämlich auf dem schmalen Grat zwischen psychologischem Einfühlungstheater und künstlicher Stilisierung", schreibt Alexander Altmann im Münchner Merkur (18.3.2024). Kleiner Einwand: "Durch ihre Konzentration auf hochkarätiges Schauspieler-Theater verzichtet Regisseurin Elsa-Sophie Jach freilich auf einen dezidierten Deutungsansatz."

"Keimfreies Theater" hat Michael Stadler von der Abendzeitung (18.3.2024) gesehen. Die "Lakonie von Ditlevsens Prosa überträgt sich in der Inszenierung jedoch kaum. Der Tonfall wirkt oftmals überdramatisch, theatralisch aufgeregt; darunter pulsiert immer wieder die vom Bühnenrand live eingespielte Elektromusik von Samuel Wootton, der zudem verschiedene Geräuschkulissen erzeugt."

Elsa-Sophie Jach arbeite "musikalisch rhythmisiert", die minimalistische Bühne" sei "in ständiger Bewegung" und "wie von Geisterhand gesteuert" öffneten sie sich zu "unterschiedlichsten leeren Räumen" – "mal beengend, dann wieder zum Guckkasten geweitet. Durch diese abstrakte Installation konzentriert sich die Aufmerksamkeit ganz auf die überwältigende Sprachkraft der Autorin – und auf die großartigen Schauspieler-Leistungen." So berichtet Barbara Reitter im Donau Kurier (18.3.2024).

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