Gesichter einer Frau

3. Juni 2023. Erst nach ihrem Tod wurde sie zum Literatur-Star: die dänische Autorin Tove Ditlevsen. Zu Lebzeiten rang sie mit ihrer Rolle als Frau und Autorin, schrieb über ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu und ihre scheiternden Ehen. Ewelina Marciniak und Joanna Bednarczyk setzen ihr am Schauspiel Frankfurt ein szenisches Denkmal.

Von David Rittershaus

"Das Tove-Projekt" von Ewelina Marciniak und Joanna Bednarczyk am Schauspiel Frankfurt © Thomas Aurin

3. Juni 2023. Kürzlich erst hat das Schauspiel Frankfurt mit der Meldung für Aufmerksamkeit gesorgt, dass in der kommenden Spielzeit 2023/2024 ausschließlich Frauen auf der großen Bühne des Hauses inszenieren werden. Die historisch gewachsenen Strukturen, die eine solche Entscheidung heute weiterhin notwendig erscheinen lassen, werden aber bereits vor Beginn der nächsten Saison freigelegt. Die Premiere von "Das Tove-Projekt" befasst sich mit dem Werk und Leben der dänischen Schriftstellerin Tove Ditlevsen und lässt unter der Regie von Ewelina Marciniak erkennen, wie viele Steine Künstlerinnen in patriarchalen Gesellschaften in den Weg gelegt wurden – und werden.

Kampf um den sozialen Aufstieg

Bei Ditlevsen sind es nicht nur ihr Geschlecht und die ihr damit zugeschriebenen Rollen, die ihren Lebensweg geprägt haben. 1917 wurde sie ins Arbeitermilieu Kopenhagens geboren, und ihr früh entfachter Wunsch zu schreiben traf in diesem Umfeld auf wenig Verständnis und Unterstützung. Ihre autobiografische "Kopenhagen-Trilogie", die erst vor wenigen Jahren in deutscher Übersetzung erschien, erzählt – ähnlich wie Romane von Annie Ernaux oder Elena Ferrante – von ihrem Kampf um den sozialen Aufstieg und von den Widerständen, denen sie als Frau begegnete.

Für "Das Tove-Projekt" am Schauspiel Frankfurt hat die Dramaturgin Joanna Bednarczyk die Trilogie mit Ditlevsens Roman "Gesichter" zu einer eigenen Bearbeitung verflochten. Der Projektcharakter, den der Titel verspricht, erschließt sich im Verlauf der Aufführung, wenn sich zeigt, dass es Marciniak und ihrem Team um eine möglichst aufrichtige Auseinandersetzung mit der Person Tove Ditlevesen geht, um ernste Versuche der Annäherung.

Alltag im Vermeer-Gemälde

Gerade zu Beginn wirkt aber alles noch etwas distanziert und sperrig, scheinen die Akteur:innen die Verbindung zu den Figuren noch nicht recht gefunden zu haben. Die Welt aus Toves Kindheit wird als eine Art Tableau vivant gezeigt. Vermeers "Dienstmagd mit Milchkrug" ist unschwer als Vorlage erkennbar, mit Toves Mutter (Katharina Linder) in der Rolle der Magd. Der karge Küchenraum des Ölgemäldes wird durch zwei graue Stellwände mit Seitenfenster und einen einfachen Tisch angedeutet. Um diesen kleinen Innenraum herum ist viel leere Außenwelt zu sehen, die über die Aufführung hinweg immer erst belebt werden muss, sei es durch feinsinnigen Lichteinsatz oder neue Bühnenelemente.

tove projekt4 Thomas Aurin cSzenen einer Ehe © Thomas Aurin

Über den Boden erstreckt sich eine leicht hügelige Landschaft mit einem flachen Wasserbecken, durch das im Laufe des Abends gerne gestapft und gestolpert wird (Bühne: Ewelina Marciniak und Grzegorz Layer). In das Vermeersche Tableau treten Tove (Sarah Grunert), ihr Vater (Uwe Zerwer) und kurz darauf auch ihr Bruder Edvin (Stefan Graf) ein und lassen Toves Kindheitserinnerungen erwachen. Der Vater gesteht, dass er arbeitslos wurde, Toves Wunsch Schriftstellerin zu werden, wird als Anmaßung abgekanzelt und auch der Bruder soll sich gefälligst mit der Arbeit als Lackierer zufrieden zeigen.

Verbindung und Distanz zu den Figuren

Je weiter der Abend fortschreitet, je mehr sich Tove dem Schreiben zuwendet und sich von der Umgebung der Kindheit entfernt, desto deutlicher scheinen die Akteur:innen auf der Bühne zu den Figuren aus Toves Leben eine persönliche, emotionale Verbindung aufzubauen. Dafür fügen sie Persönliches hinzu, treten aus der Rolle heraus, sprechen das Publikum an. Am deutlichsten verhandelt Sarah Grunert ihre Annäherung an Tove, die sie verkörpern soll, deren Körper sie aber, als er von psychischer Krankheit und Drogenkonsum gezeichnet ist, nicht mehr repräsentieren kann, wie sie sagt.

tove projekt2 Thomas Aurin cFrauen Leben Spielen: Sarah Grunert, Anabel Möbius, Caroline Dietrich, Katharina Linder © Thomas Aurin

Grunert unterbricht für ihre Gedanken eine Szene, stellt sich beinahe nackt vor den ganzen Saal und spricht mit dem Publikum. Sie versucht zu erklären, was ihr an der Situation des Angesehen-Werdens Unbehagen bereitet, obwohl es doch ihr Beruf ist als Schauspielerin. Um den Zwiespalt zwischen Sichtbar-Sein-Wollen mit der Kunst und der Verletzlichkeit des Ausgesetzt-Seins geht es ihr, und da findet sie Verbindungen zu Tove. Indem sich Grunert in der Szene selbst aufs Spiel setzt, sich selbst ein Stück weit exponiert, ihre Souveränität zwischenzeitlich einbüßt, schafft sie einen wunderbar fragilen Moment, der alles etwas wanken lässt und gerade darüber an Ditlevsens Leben rührt.

Ditlevsens Leben ist gekennzeichnet von Abhängigkeiten, von Drogen, aber auch von den Männern, die sie heiratet und sich wieder trennt. Obwohl sie es sind, die ihr nicht treu sind, obwohl Tove es ist, die mit ihren Büchern das Geld hereinbringt – und manchmal auch deshalb – werfen sie ihr vor, ihre Befindlichkeiten nicht zu berücksichtigen. Tove ist konfrontiert mit Erwartungen an sie als Frau, als Mutter, als Vertreterin des Arbeitermilieus, als Schriftstellerin. Dabei will sie eigentlich nur schreiben und lesen. Nach einer Reihe von Aufenthalten in der Psychiatrie nahm sich Tove Ditlevsen durch eine Überdosis Schlaftabletten mit 59 Jahren das Leben. "Das Tove-Projekt" ist eine mitnehmende Hommage an sie.

 

Das Tove-Projekt
nach "Kopenhagen-Trilogie" und "Gesichter" von Tove Ditlevsen in einer Bearbeitung von Joanna Bednarczyk
Regie: Ewelina Marciniak, Bühne: Ewelina Marciniak, Grzegorz Layer, Kostüme: Julia Kornacka, Musik: Jan Duszynski, Lichtdesign: Aleksandr Prowaliński, Licht: Marcel Heyde, Choreografie: Dominika Wiak, Dramaturgie: Katja Herlemann, Joanna Bednarczyk.
Mit: Sarah Grunert, Katharina Linder, Uwe Zerwer, Anabel Möbius, Stefan Graf, Caroline Dietrich, Andreas Vögler, Sebastian Kuschmann, Livia Newzella / Rebeka Turré.
Premiere am 2. Juni 2023
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

Das Heraustreten des Ensembles aus der Rolle wirke lähmend, "so sperrig wie im ersten Teil des Abends die kraus durcheinandergewirbelten Perspektiven und Ebenen", schreibt Eva-Maria Magel in der Rhein-Main-Zeitung (5.6.2023). "Es sind vielmehr die Momente, in denen mit den Mitteln des Theaters erzählt wird, in denen näher kommt, was das Leben und die Wirkung dieser Tove ausmacht." Da zeige sich das Talent für gute, große Bilder, das Marciniak und ihr Team bewiesen.

Bildstark sei die Inszenierung, sie finde aber über weite Strecke keinen theatralen Ausdruck für den psychischen Ausnahmezustand der Hauptfigur, so Shirin Sojitrawalla auf Deutschlandfunk Kultur (2.6.2023). Wenn das in einer Szene am Ende doch gelinge, sei das sehr eindrücklich. Sarah Grunerts Spiel war für die Kritikerin oft etwas zu affektiert und zu groß in der Gestik. Sie hätte sich eine ältere Darstellerin für die Rolle gewünscht.

"Es ist verblüffend, dass aus so schlanken, intensiven und spezifischen Büchern ein so breiter, zäher und allgemeiner Theaterabend werden kann“, schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (4.6.2023). Die Bühne sei zu groß für den Stoff. "Schon lange wirkte die Bühne des Schauspielhauses nicht mehr so sinnlos gewaltig wie in diesem Dreistünder, der doch ein Kammerspiel ist, wenn man ihm wohl will." Und weiter: "Das Vage von Marciniaks Bilderwelt, dazu zeitlich einigermaßen passende Kostüme von Julia Kornacka, ist aber diesmal kein Gewinn, es macht beim Zuschauen nicht wach und den Horizont nicht weit, sondern beliebig. Umso irritierender angesichts von Texten, die so überaus konkret sind, und einer beherzten Hauptdarstellerin, die erst recht überaus präsent ist, ein ganz bestimmter Mensch, Sarah Grunert, die mehr als willig ist, Tove Ditlevsen zu vertreten." 

"Sie [Ewelina Marciniak; d.Red.) macht alles sensationell – falsch", schreibt Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (5.6.2023). Marciniak und Bednarczyk täten im Mittelteil des Abends alles, um größtmögliche Verwirrung zu schaffen. "Mal ist die Perspektive die des Erinnerns in der Klinik, mal wird unmittelbar gespielt, dann wieder episch erzählt." Sarah Grunerts Monolog in Unterwäsche sei "fabelhaft langweilig". Es fehle dem Abend vor allem Ditlevsens Beschreibung ihrer Abhängigkeiten von Männern, Medikamenten und Drogen. "Warum? Weil es die mäandernde, im Ton viel zu weiche Erzählung einer feministisch grundierten Sebst(er)findung stören würde. Und so fehlt jede Not, jeder Schmerz." 

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