Bis ins Gebein

11. Februar 2023. Rache ist süß, aber meist brutal. Vor allem ist sie schon immer toller Theaterstoff gewesen. In einem collagenhaften Ritt durch die Literatur- und Musikgeschichte der Rache gelingt Jan Philipp Gloger auf der Basis eines Textes von Thomas Köck ein Mehr-Sparten-Theaterrausch.

Von Andreas Thamm

"vendetta vendetta" von Thomas Köck im Staatstheater Nürnberg

11. Februar 2023. Auf einer schmalen schwarzen Bühne treffen sich sieben Darstellende und die meisten von ihnen sagen denselben Satz: "Ich bin ein Mythos". Man könnte sich, bis hier hin und noch ein bisschen weiter, in einer ganz normalen Aufführung im Nürnberger Schauspiel wähnen. Wüsste man es nicht besser. Weil man sich entweder darüber informiert hat, was "vendetta, vendetta" im Nürnberger Staatstheater für ein Abend wird. Oder weil man das Ensemble gar so gut kennt, dass man direkt sieht: Das sind doch gar nicht ausschließlich Schauspielende hier.

Genau, so ist es. Bayerns größtes Dreispartenhaus – ja, ja, nicht in München, sondern in Nürnberg! – macht endlich auch mal das: gemeinsame Sache der drei Sparten. Schauspielchef Jan Philipp Gloger inszeniert mit "vendetta vendetta" einen Text von Thomas Köck, der sich mit seiner Anlage als collagenhafter Ritt durch die Literaturgeschichte der Rache hervorragend für ein interdisziplinär ambitioniertes Projekt eignet. Auf der Bühne stehen, sitzen und tanzen drei Schauspieler*innen, zwei Tänzer*innen, zwei Opernsänger*innen und als musikalischer Leiter aber aus Theaterreihen, Kostia Rapoport. Hinzu kommen ein Streichquartett, zwei Posaunen und ein Percussionist der Staatsphilharmonie.

Reichhaltige Überwältigungslawine

Das Ausmaß wird erst deutlich, nachdem sich die schwarze Wand der schmalen kammerspielhaften Bühne hebt: Ein Amphitheater über dem stetig Wolken ziehen, wird sichtbar. Und auf den Prolog folgt der biblische Ur-Rache-Mythos. Dass Oscar Alonso und Karen Mesquita hier in felliger Steinzeitkluft Kain und Abel verkörpern, versteht man allerdings erst, als eine furchteinflößende Göttin den Kain für den Mord verflucht. Bis die Comic-Keule tödlich zum Einsatz kommt, suhlte sich die Szene schon viel zu lang in klischehaftem Steinzeit-Getue.

Der mäandernd, wahllose Anfang verheißt also erst mal gar nichts Gutes für das vendetta-Wagnis. Aber ist zum Glück schnell begraben unter der reichhaltigen Überwältigungs-Lawine, die auf das Publikum zurollt. Gloger und Team haben sich mit größter Lust der Rache hingegeben. Dieses Theater soll unterhalten, verwirren, berühren, überfordern, in schneller Abfolge oder auch gleichzeitig. Jede Szene bekommt eine andere inszenatorische Farbe.

Fruchtbares Feld der Kunst

Auf die strafende Göttin und das ebenfalls lange Zwischengeplänkel über die Suche nach dem Anfang der Geschichte der Rache, folgt der banalkomische Nachbarschaftsstreit. Quasi wortlos eskaliert eine Auseinandersetzung zwischen vier Parteien in einem Treppenhaus. Was mit einer verschobenen Fußmatte begann, endet mit Atomwaffen im privaten Gebrauch. Dazwischen rutschen die Nachbarn allen Ernstes auf Bananenschalen aus. Beziehungsweise eben nicht allen Ernstes, denn hier huldigt das Ensemble dem Slapstick als virtuoser Kunst, die seichte Unterhaltung vortäuscht und in der großen Explosion, im Tod letztlich endet. Paff, Rache ist tödlich, immer und immer wieder.

Vor allem aber ist sie stets fruchtbares Feld der Kunst gewesen. Andromahi Raptis erschießt als Wedekinds Lulu, paff, den vor Wut rasenden Dr. Schön. Und schwebt nur ein paar Szenen später auf einem Halbmond und mit Strahlenkranz auf dem Kopf von der Decke und schmettert dem Publikum eine Königin der Nacht aber sowas von um die Ohren. Rachsüchtig bis ins Gebein. Und wieder im Amphitheater sitzend schlüpft sie zurück in die Rolle, die keine Rolle mehr ist: "Also privat habe ich mit Rache überhaupt null zu tun."

Vendetta1 1000 KonradFerstererBums, tot!  -  (Liegend: der Schauspieler Tjark Bernau, tanzend: die Tänzerin Karen Mesquita. Im Hintergrund: Mitglieder der Staatsphilharmonie Nürnberg) © Konrad Fersterer

Wer fehlt noch? Justus Pfankuch gibt einen leidenschaftlich rächenden Michael Kohlhaas nach Kleist. Tjark Bernau steigert sich von null auf hundert in den "Wenn-ihr-uns-stecht"-Shylock, was dem daran anschließenden Meta-Diskurs einen politischen Turn gibt, der in einem von Elina Schkolnik verfassten Monolog mündet, in dem sich die Schauspielerin der Vorstellung hingibt, die ehemaligen Hitlerjungen und BDM-Mädels von der Haltestelle vor dem  Seniorenheim abzuschlachten wie der Bärenjude es in Quentin Tarrantinos Film Inglourious Basterds vorgemacht hat. Ein drastischer Moment der Inszenierung, der sich anschleicht und mit perfekt präzisierter Wucht zuschlägt.

Und immer braucht es den geschändeten Frauenkörper

Insgesamt gewinnen die anfangs für überflüssig gehaltenen Momente im Diskurs zwischen den Auftretenden jetzt an Kontext und Witz. Während der Bassbariton Wonyong Kang La Vendetta aus der Hochzeit des Figaro singt, hebt der Rest der Besetzung lustig diffamierende Pappschilder in seinem Rücken in die Höhe: "Sprechen statt singen", steht da unter anderem. Die Leichtigkeit solcher Einfälle existiert unverkrampft neben dem intellektuellen Komplex eines feministischen Blicks auf all die Mythen. Raptis: "Erst nach dem Geschehen kommen die kleinen Männer und wollen Rache üben." Immer brauche es den geschändeten Frauenkörper – gerade in der Oper, da könne sie, der Gag wird mitgenommen, ein Lied von singen.

Der Text und was in Nürnberg daraus entstanden ist, will diese Rachekontinuitäten aufzeigen. Für die Beweisführung braucht es oft nur das kurze Zitat: Elektra und Klytämnestra sitzen beim Griechen, aha jaja, paff, tot. Medea zieht auf der Suche nach ihren Kindern, die auch ein Shitstormchor sind, durch den Hausflur, aha okay.  Insgesamt hat Jan Philipp Gloger Themen und Personal, das in dieser Form erstmals zusammenarbeitet, eindrucksvoll zu einem, wie ein Knallfrosch wild prasselnden Abend zusammengeschnürt und dem Schauspiel mit Staatsballett und Staatsphilharmonie, die in dieser Besprechung hier viel zu kurz kommen, unwahrscheinliche Kraft und Dynamik verliehen. Hätte Gloger noch eine Person mit strengem Rotstift an seiner Seite gehabt, es wäre eine Rakete von Abend geworden. Aber auch so: Ein Rausch, ein absolutes Erlebnis.

 

vendetta vendetta
von Thomas Köck
Regie: Jan Philipp Gloger, Musikalische Leitung: Kostia Rapoport, Bühne: Marie Roth, Kostüme: Franziska Bornkamm, Anna Lechner, Choreografie: Oscar Alonso, Karen Mesquita, Licht-Desgin: Frank Laubenheimer, Dramaturgie: Fabian Schmidtlein, Dramaturgische Beratung: Georg Holzer, Künstlerische Produktionsleitung: Greta Călinescu.
Mit: Oscar Alonso, Tjark Bernau, Wonyong Kang, Karen Mesquita, Justus Pfankuch, Andromahi Raptis, Elina Schkolnik, Kostia Rapoport, Staatsphilharmonie Nürnberg, Chor des Staatstheaters Nürnberg.
Premiere am 10. Februar 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de

Kritikenrundschau

Einen "ebenso unterhaltsamen wie tiefgängigen Reigen aus Arien und Szenen" habe Jan Philipp Gloger vorgelegt, urteilt Florian Welle in der Süddeutschen Zeitung (12.2.2023). Mit Köcks Text stelle er die Frage, "was man unter Rache eigentlich versteht? Welche Rolle spielt sie heute noch, wo doch längst alles gesetzlich geregelt scheint? Beginnt sie mit einer Beleidigung, einer Verletzung oder doch mit der Unmöglichkeit zu verzeihen?" Die "besondere Energie" von Glogers Inszenierung entstehe "durch die spannungsgeladene Interaktion aller Mitwirkenden". Nur mit dem "Mittelschichtschor" gegen Ende franse die "bis dahin konsistente Inszenierung" merkwürdig aus, so der Kritiker.

"Die Idee war - gut. Aber wo ist das Stück?", fragt Wulf Ebersberger in der Nürnberger Zeitung (13.2.2023). Es sei ein "gewollt bunter Abend" von einiger "Überfrachtung": "Shakespeares Shylock und Schönbergs Lulu, Elektra und Kill Bill, ein kurzes Ballett aus Eugen Onegin und bitte noch Beethovens Streicher, als Zeichen der gescheiterten Aufklärung. Es ist einfach zu viel - und dann doch nur ein Theater der Dramaturgie, ein inszeniertes Programmheft", findet der Kritiker.

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