Alice under Ground - Christian Weise radikalisiert Lewis Carroll für Erwachsene
Grinsekaters Gemetzel in der Kanalisation
von Nikolaus Merck
Berlin, 30. September 2009. Es geht los wie weiland das "Wunschkonzert" vom alten Kroetz. Eine Frau kommt vom Einkaufen nach Hause; Waschmaschine, Spülstein, Badewanne, Kühlschrank – alles steht auf hab Acht. Wie Giftgas legt sich ihre Einsamkeit unsichtbar und erstickend auf die Szene. Joghurt mit abgelaufenem Verfallsdatum raus aus dem Kühlschrank, man meint: dutzendweise – neues Joghurt rein. Ein bisschen Röcke-lupfendes Aerobic, das Studium der Gebrauchsanweisung des Backofens. Französisch: nein, versteh ich nicht; Englisch: nein, Chinesisch: ja. So gehen hier die kleinen Scherze.
Der Anfang ist die Prunk- und Solostrecke für Anne Tismer. Sie spielt die 30-Jährige, so sagt es das Programm, vom Prenzlauer Berg, schwer Hartz IV-verdächtig und, man wird es am Ende erleben, suizidgefährdet. Tismer hält sich steif in der Körpermitte, beugt den Oberkörper leicht nach vorne, das Gesicht ist, wie seit Nora gewohnt, von unrührbarer Erdenferne, die Beine trippeln, laufen, hasten, als säße in ihnen ein eigner, mit dem Tismer-Rest nicht verbundener Motor.
Durchs Toilettenrohr in den freien Fall
Nach dem Joghurt wird's impressionabel. Blutig und Cellophan-verpackt purzelt das Kaninchen (Sebastian Arranz) mannsgroß aus dem Kühlschrank. Die Haltbarkeit läuft heute ab. Panik beim Karnickel, Abgang durch die Toilettenspülung, Alice hintendrein, per Filmanimation verfolgen wir ihren Weg durchs Rohr in den freien Fall. Wie Julia Oschatz und Ralf Arndt ihre kleinen, auf eine rohe Wand aus Türen und Klappen projizierten Filmsequenzen in den Lauf der Dinge eingepasst haben, ist bemerkenswert. Sowohl die Strichmännchen-Ästhetik der animierten Bilder, als auch das Wie ihres Einsatzes: ausgerechnet im kleinen und armen Ballhaus Ost findet man Wegweisendes zur sinnstiftenden Vermählung von Film und Theater.
Inzwischen ist Anne Tismers angeprollte Alice mit ungepflegtem Haar und stoischem Dulderinnen-Blick im Wunderland irgendwo weit unter der Kanalisation, gelandet. Allerlei merkwürdiges Volk wird ihr hier begegnen. Singende Gestalten wie der Undurchdringliche, das "Ranicki-Ei", der die begriffliche Erläuterung von "I want to hold your hand" hegelianisch auflädt. Oder Osterhase, ein Suffkopp, und Klapperstorch, ein Rollstuhlfahrer mit 20 Dioptrien und zwei Beinprothesen im Storchenlook. Ein merkwürdiges Paar: Der Osterhase (Christoph Tomanek) bräsig und schrebergarten-gestählt, der Oststorch (Catherine Stoyan) von der Rhetorik her gesehen leise gefährlich.
Kontaktgestörte Engel in der Wanne
Und tiefer, noch tiefer sinkt Alice in ihren Traum. Dann begegnet sie der Sixtinischen Madonna als Travestie-Show mit wagnerianisch schwerer Madonna (Christoph Tomanek) und einem kindlich kreischenden, körperlich indes mannstarkem Jesuskind (Hans-Jochen Menzel). Die Badewanne, in der kontaktgestörte Engel lümmeln, spielt eine Rolle, ebenso wie ein schweres Kochbuch, mit dem die Madonna ihren Jesus blutig prügelt.
Wie überhaupt je länger, je mehr die zweideutigen, von Schlangen und Nestern, Haaren und Spritzen handelnden Träume zunehmen, bis sie am Ende in die Gewalt-Fantasien – oder die Gewalt selber – in Form der von Lewis Carroll bekannten, aber bei Christian Weise radikalisierten Gerichtsverhandlung kulminieren. Alle Kränkungen, die Alice zuvor von den schrägen Gesellen im Wunderland ihrer Träume erdulden musste – und das wird, trotz sprachlicher Zuspitzung, Lewis Carroll durchaus gerecht – rächt sie jetzt mit unnachgiebiger Grausamkeit.
Während das Kaninchen in masochistischen Wahn verfällt und sich selber in Pfanne und Ofen brät, reißt der grinsende Kater (Hannes Benecke) dem Puppendoktor-Teddybär das Herz heraus und bringt den Osterhasen elektrisch zu Tode. Gerade macht sich Alice autoaggressiv am eigenen Unterarm schneidend zu schaffen, da erwacht sie aus ihrem Traum.
Bildstark und witzig, aber zu lang
"Alice under Ground", für das Christian Weise textfassungs- wie regiemäßig verantwortlich zeichnet, ist ein überraschend bildstarker und einfallsreicher Abend. Mit einem einfachen, aber funktionalen Bühnenbild und famosen, witzigen Schauspielern. Wobei der Star Anne Tismer, obschon dauernd auf der Bühne, es versteht, sich unauffällig wie im Hintergrund zu halten.
Einziges Manko: mit zwei Stunden ist der Abend zu lang. Allzu sehr dehnt sich die Revue merkwürdiger Geschöpfe (trotz fantasievoller Kostüme von Daria Kornysheva) im Mittelteil. Dass hier die Gewalt sich zusammenbraut, merkt der leicht angestrengte Zuschauer nicht. Das ist schade, dennoch handelt es sich bei "Alice under Ground" um einen der gelungenen Abende im Berliner Off.
Alice under Ground
nach Lewis Carroll / Christian Weise
Bühnenfassung von Anne Tismer und Christian Weise nach einer Vorlage von Soeren Voima
Regie: Christian Weise, Bühne: Jan Freese, Kostüme: Daria Kornysheva, Musik: Jens Dohle, Animationsfilme: Julia Oschatz, Video: Ralf Arndt.
Mit: Sebastian Arranz, Hannes Benecke, Okka Hungerbühler, Hans-Jochen Menzel, Catherine Stoyan, Anne Tismer, Christoph Tomanek.
www.ballhausost.de
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Die ähnliche Inszenierung von Weise mit gleicher Dramaturgie, Musik, Video, Kostüme und z.T. gleichen Schauspielern (Catherine Stoyan) lief schon einmal in Halle/Saale am neuen theater.
Leider ist dies dort gefloppt... Aber bin umso gespannter wie es im Ballhaus ankommt.
Es beginnt mit dem Höschen, das Alice bei Heimkehr unterm Rock weg in die Waschtrommel tut. Ihr Traum beginnt, nachdem sie sich Sündenfall-gemäß einen Apfel zu essen anschickt, wie sie es auch im Traum später immer wieder tut. Dann Anspielungen auf Amstetten, Kellerlöcher, alkoholisierte Väter, die mit Gute-Nacht-Geschichten ans Bett kommen, die man nicht hören will. Ein aufdringlich werdender Teddy erläutert die Körperbehaarungszonen, nennt Alice "Püppchen", greift ihr zwischen die Beine und droht, seine Spritze einzusetzen. Immer wieder wird ihr, wachsend, schrumpfend, Gliedmaßen-verlierend, der eigene Körper fremd. Zwei Schulkinder wollen in Alice (mit langem Hals) unbedingt eine Schlange sehen, verführen kann man sie zu nichts mehr, weil sie zwischen YouTube und YouPorn schon längst alles kennen. Während Alice noch das zauberhaft idyllische Kitschlandschaftsbild anstaunt, sagt sie über ihre Freundinnen: "'N paar von denen werden auch ganz schöne Säue". Wenn sie Klapperstorch und Osterhase ganz rational die Geschlechtsverkehrsmechanik erläutert, witzeln diese: "Die glaubt wohl noch an den Weihnachtsmann", so als gäbe es heute gar keinen normalen sexuellen Vorgang ohne Perversionsabdriftungen mehr; gleichzeitig erzählt die Szene auch etwas über Frühaufgeklärtheit. Und der Grinsekater empfiehlt der vom Wege abgekommenen Alice, einfach auf dem Strich zu gehen.
Mag sein, dass dieser Abend einiges, was bei Caroll noch latent und wohl dosiert mitgegeben wird, auf etwas überdeutlich plumpe Weise ausspielt. Gedankenloser, nachlässiger oder harmloser Trash ist "Alice under ground" aber mitnichten, vielmehr ideensprühend, stimmig in den Details und wie oben beschrieben mit wirklich sinnig eingesetzten Videos in Bastelästhetik, in denen etwa virtueller Videokörper und Real-Gesicht zusammenfinden – eine surreale Coming-of-age-Geschichte über das nicht ganz leichte Aufwachsen in einer tendenziell übersexualisierten Gesellschaft.
Ape, um es kurz auszudrücken: diese Art von Theater gefällt mir nicht. Über die dargebotene Komik kann ich beim besten Willen nicht lachen - falls Sie das können, ist das freilich zu begrüßen. Die Gedanken und Einfälle sind mir einfach zu leicht, eine intellektuelle Anstrengung ist kaum erkennbar. Gewiss, es gibt einige gute Szenen (z.B. das Rutschen durch die Kanalisation in die Traumwelt, das Ei-Ranicki, die behinderte Frau mit der langen Pappnase), aber insgesamt ist mir das zu dünn und niveauarm, um einen Theaterabend zu füllen. Und angesichts des Grinsekaters wird über ein Grinsen ohne Kater reflektiert. Ich frage mich nur, was derartige Passagen sollen, und es gibt viele davon. Und deshalb muss ich leider sagen: früher hat mir Frau Tismer sehr gefallen - heute allerdings nicht mehr.
was ich auch vom ansatz her reaktiionär fand (ja, ich weiß, altmodische kategorie in unseren entideologisierten zeiten) war die tatsache, dass sich der abend mühelos als fortsetzung von ostermeiers kroetz-inszenierung "wunschkonzert" lesen liess und ich mich immer gefragt habe, warum nicht mal im freien theater eine alleinstehende frau ohne festen partner ein grundsätzlich erfülltes leben zugestanden wird, sondern immer diese frustrierten hascherl allein solche träume (als metaphern für das nichtgelebte leben) untergejubelt werden. tendenziell ist das sexistisch.