1984 - Berliner Ensemble
Überwachen und Strafen
19. November 2023. Big Brother lässt sich auch von Doppelgängern nicht verwirren: Luk Perceval hat es in seiner Inszenierung von George Orwells Klassiker dennoch versucht und Hauptfigur Winston Smith sogar direkt vervierfacht. Im System der Dauerbeobachtung und Verfolgung vermehrt der Trick aber bloß die Qualen.
Von Sophie Diesselhorst
19. November 2023. "Wie soll man mit der Zukunft kommunizieren? Das ist per se ein Ding der Unmöglichkeit. Entweder die Zukunft ähnelt der Gegenwart, dann wird sie ihn nicht beachten, oder sie ist anders, dann wird seine jetzige Zwangslage unverständlich sein." Mit diesem Tagebucheintrag von Winston Smith, dem Protagonisten von George Orwells “1984”, lässt Luk Perceval seine Inszenierung des Romans im Berliner Ensemble beginnen und hängt die Latte hoch.
Vierfacher Smith
Winston Smith wird von gleich vier Schauspielern verkörpert, die sich in ihrer grauen Anzugkluft möglichst ähnlich sehen und sich Winstons Text gerecht teilen. Sie werden noch weiter vervielfacht durch die verspiegelte Stellwand, die zu Anfang in einem Dreieck steht und im zweiten Teil ihr Holzgerüst nach außen kehrt. Bildlich ist die Inszenierung damit eigentlich auch schon beschrieben.
Orwell verfasste "1984" kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs und entwarf unter dem Eindruck der Nazi-Gräuel und des Stalinismus ein dystopisches Szenario, in der die Welt in drei Großreiche eingeteilt ist, die ständig miteinander im Krieg liegen und deren Bewohner:innen ansonsten keinen Kontakt miteinander haben, weil sie in totalitären Überwachungsstaaten abgeschottet werden. Winston Smith gehört zur eurasischen Mittelschicht und arbeitet im Ministerium für Wahrheit, wo Propaganda fabriziert wird. Er ist dafür zuständig, die Geschichte umzuschreiben, so dass sie auf den latenten Machterhalt von Big Brother hinausläuft, dieser unsichtbaren Instanz, deren Kamera-Augen und Mikrofon-Ohren überall sind.
Mit seiner Geliebten Julia schließt Winston sich einer vermeintlichen Untergrund-Organisation an, die sich als Erfindung eines Chefideologen namens O'Brien entpuppt. Winston und Julia werden bei einem ihrer Stelldicheins verhaftet und solange gefoltert, bis sie einander verraten, also auch noch das letzte preisgeben, was ihnen Lebens- und Widerstandskraft gegeben hat, ihre – natürlich ohnehin verbotene – Liebe.
"Lichtstrahl der Hoffnung"
"1984" ist trotz aller wichtigen Entwicklungen, die Orwell nicht vorhergesehen hat, ein ungebrochener Klassiker – seit der Roman seit dem 1. Januar 2021 gemeinfrei ist, sind allein im deutschsprachigen Raum acht Neuübersetzungen erschienen. Percevals Version basiert auf einer von ihnen (von Frank Heibert) und eilt überwiegend im Modus des inneren Monologs durch die Romanhandlung, die sie abbrechen lässt mit der Szene, in der Winston und Julia sich nach ihrem Gefängnisaufenthalt wiedertreffen, einander ihren Verrat gestehen und dann beide sagen, dass sie ihre Beziehung wieder aufnehmen wollen. Bei Orwell wird Winston zum Schluss erschossen – Perceval will ihm und Julia einen "Lichtstrahl der Hoffnung" mitgeben. Woher sie die Kraft zu einem neuen Anlauf nehmen sollen und wohin der sie führen könnte, das bleibt hier allerdings im Dunkeln.
Der Fokus der Inszenierung liegt auf einer psychologischen Nahaufnahme von Winston, dessen vier Darsteller Paul Herwig, Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar und Veit Schubert virtuos zusammenspielen. In seinen souveränen Momenten redet Winston mit vier Stimmen, die ruhig voneinander abnehmen und einander bekräftigen. Je ängstlicher oder wütender er wird, desto stärker gerät diese Ordnung durcheinander, bis Winston in der Folterkammer schließlich fast überhaupt nicht mehr zu verstehen ist, weil die vier Männer einander nur noch überbrüllen. Sie leihen auch O'Brien ihre Stimmen – ihn, der für die hermetische Macht steht, sprechen sie im Chor und machen ihn dadurch glatt und unangreifbar.
Stelldichein hinter der Stellwand
Auch Julia hat zwar vier in beige Trenchcoats gekleidete Darstellerinnen, spricht aber nur mit einer einzelnen Stimme, der von Pauline Knof. Die anderen drei Julias treten stets als Chor auf und singen liturgisch anmutende korsische Volkslieder, die wohl eine schöne Ahnung der verlorenen Vergangenheit symbolisieren sollen. Julia ist stärker als Winston, weil sie sich anders als er nicht in einer Gegen-Ideologie verstrickt und ihm auch nur widerwillig in den Widerstand folgt. Sie will einfach nur leben, das aber unbedingt. Ihr erstes Stelldichein haben sie hinter der Bühnenstellwand, so dass wir sie nur hören, und auf einmal werden sie kurz ganz frei in ihrem Spiel – erlöst von den Blicken von Big Brother, den in diesem Fall wir als Publikum zu repräsentieren scheinen.
Aber warum Winston eigentlich so einen Hass auf Big Brother hat, das müssen wir uns selbst zusammenreimen. Nicht, dass die politische Dimension von Orwells Roman nicht augenfällig genug wäre – aber Perceval scheint sich einfach nicht besonders dafür zu interessieren, obwohl die Inszenierung auf technischer Ebene durchaus so tut, als ob: Zum Beispiel lesen die Schauspieler:innen alle wie ferngesteuert ihren Text von einem mitten im Publikum stehenden Teleprompter ab, man kann also kontrollieren, was sie sagen und ob sie es richtig sagen.
Stimmen im Surround Sound
Außerdem wird bisweilen ein bisschen Immersion angetäuscht, wenn die Stimmen der Spieler:innen auf einmal im Surround Sound ausgespielt werden, also nicht mehr von der Bühne kommen, sondern von hinter, über, neben uns. Auch wir sind umzingelt und werden in unserer vermeintlich mächtigen, "überwachenden" Zuschauer:innenposition kurz verunsichert.
Doch die politische Dimension des Romans verebbt in solchen Spielereien, die mit dem Bühnengeschehen nicht viel zu tun haben. Womit wir beim Anfangsproblem aus Winstons Tagebuch wären: Die Kommunikation mit der Zukunft, unserer Gegenwart, funktioniert hier nicht so wirklich. Und bei aller Freiheit der Kunst, sich gegen aktuelle Bezüge zu entscheiden, ist es dieser Tage doch auch etwas irritierend, dass die in den "Hass-Ritualen" gepflegte antisemitische Dämonisierung eines angeblichen jüdischen Verschwörers gegen Big Brother so völlig ausgespart wird.
1984
von George Orwell
Übersetzung: Frank Heibert
Regie: Luk Perceval, Bühne: Philip Bussmann, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Musik: Rainer Süssmilch, Choreografie: Ted Stoffer, Licht: Rainer Caspar, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Paul Herwig, Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar, Veit Schubert, Pauline Knof, Ella Kastner, Hannah Rogler, Franziska Winkler, Annunziata Matteucci, Philippa Otto.
Premiere am 18. November 2023
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.berliner-ensemble.de
Kritikenrundschau
Perceval mache, was mit Orwells Roman "vermutlich noch nie getan worden ist", findet Barbara Behrendt auf rbb24 (19.11.2023): "Er lässt die Gesellschaftskritik links liegen und stellt die Frage, nach welchen Prinzipien der Mensch seine Realität formt: nach denen der Angst und des Hasses – oder nach denen des Vertrauens und der Liebe." Dabei sei es "kunstvoll", wie "präzise die Männer miteinander sprechen, sich musikalisch ins Wort fallen und kleine Choreografien formen". Die "große Erschütterung" von Orwells Dystopie bleibe aber aus, Perceval ende stattdessen mit "Menschenfreundlichkeit", so die Kritikerin.
"Percevals Inszenierung am Berliner Ensemble verzichtet auf jede aktuelle Anspielung", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (19.11.2023). Er zeige "in einem sparsamen Arrangement ein Alptraumszenario, so grau wie der November in Berlin". Doch das "Knarzen der Drehbühne" habe auch "etwas Beruhigendes": "Die Schreie der Winston-Männer, ihre Verrenkungen, die aufgerissenen Münder – all das schwächt die Fiktion des grenzenlosen Totalitarismus ab." Es brauche "keine Theaterdramaturgie", um im Moment "von Krieg und ausgesucht brutaler Gewalt" zu handeln: "Da muss man nur aufs Handy schauen und mit den Menschen im Foyer sprechen."
"Big-Brother-Bilder braucht es hier gar nicht mehr, ebenso wenig wie Zeichen realen Lebens, denn alles ist bereits nur noch eine Sphäre immaterieller Stimmen und Gedanken", berichtet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (19.11.2023). Seiner "asketischen, auf wenige Stilmittel, vor allem aber auf den Chor der Schauspieler konzentrierten Inszenierung" merke man einen "dezidiert aktuellen Zugriff" indes "kaum an". Zu erleben sei eine "raffinierte, vielstimmige Inszenierung", die allerdings auch "in gepflegter Schönheit über dem Boden" schwebe.
Percevals Inszenierung versammle "kluge Kunstgriffe", die sich allerdings nach einer Weile "erschöpfen", so Tom Mustroph in der taz (19.11.2023). Der Regisseur persifliere "einerseits das Totalitäre, das von außen gesehen oft unfreiwillig komisch" wirke. Er "nascht aber auch von dessen Bombast und verfällt später in einen distanziert-warnenden Duktus". Der Abend sei "alles in allem eine schwankende Fahrt in unsicheren Gefilden".
"Absolut brillant!", jubelt Micha Hölzen von Radio Eins (20.11.2023). "1984 am BE ist eine Inszenierung, die sich ganz auf die Kraft der Sprache verlässt und die elementaren Mittel des Theaters mit wirklich beeindruckender Präzision einsetzt. Kein Schnickschnack, Stimmungen, die nur durch gut gesetzte Beleuchtung, das Spiel von Licht und Schatten erzeugt werden und eine Schauspiel-Truppe, die eine durch und durch überzeugende Darbietung abliefert."
Perceval entscheide sich nicht für die realistische Roman-Bebilderung, sondern für eine sehr bildstarke Parabel, so Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (27.11.2023). "Statt in der Tristesse der Kriegsmangelwirtschaft des Romans bewegen sich auf der BE-Bühne vier Herren in grauen Anzügen zwischen zwei im spitzen Winkel aufeinander zulaufenden Spiegelwänden." Die Pointe sei, dass Big Brother, den sie fürchten und hassen, reine Fiktion ist. "Der Überwachungsstaat kann sich die Mühe der Repression sparen, wenn seine Bürger ihn so restlos internalisiert haben, dass sie sich kaum noch von ihm unterscheiden können."
"In Percevals sorgfältiger Regie verhört ein Einzelner (oder die geknechtete Masse) sich selbst", schreibt ein begeisterter Peter Kümmel in Die Zeit (23.11.2023). 1984 sei ein Fest fürs Auge und das Ohr – "es kommt auf jedes Wort an, und keines geht verloren". Das Verlies sei ist ein Menschenkopf. "Der auf dem Spiel steht."
Perceval zeige eine raffiniert verschachtelte, meditative Installation über die Themen Sein und Schein, schreibt Irene Bazinger in der FAZ (22.11.2023). Er lasse seine Hauptfigur mit all ihren Abspaltungen virtuos ins Leere laufen. "Von dort aber hat sie uns nichts zu sagen, auch wenn das effektvoll choreographiert und schön anzusehen ist: Es fehlt ihr der Schrei, der uns erschüttern könnte."
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Ungewöhnlich ist die Lesart von Luk Perceval: er konzentriert sich weniger auf die Gesellschaftsbeschreibung als auf die Figur von Winston Smith. Bei Orwell ist diese Figur ein Mitläufer aus der „Äußeren Partei“, der die Aufgabe hat, historische Fakten in den Archiven so anzupassen, dass sie für das jeweilige Zeitgeist-Narrativ der Big Brother-Narrativ passen. Dieser Hintergrund spielt in der Inszenierung am Berliner Ensemble keine Rolle. Hier erleben wir Smith als einen x-beliebigen Büro-Angestellten im grauen Anzug und vor allem als hochgradig neurotische, verängstigte und verunsicherte Figur. Bis auf Julia (gespielt von Pauline Knof und drei Sängerinnen) sind alle anderen Figuren des Romans, selbst O´Brien, der ihn in die Falle lockt und foltert, nur Stimmen im Kopf des auf vier Spieler aufgesplitteten Winston.
In der ersten Hälfte betont Perceval das Tragikomische an Winstons Persönlichkeitsstruktur: wenn sich das Quartett unsicher an Julia heranmacht, werden die gehemmten Annäherungsversuche zur Slapstick-Nummer. Der „1984“-Abend scheint in ganz unerwartete Bahnen abzudriften, durchaus zur Freude großer Teile des vor sich hinglucksenden Publikums, das auf düstere Endzeit-Visionen eingestellt war.
Einen kleinen Gag gönnen sich Perceval und sein Team auch während der Pause: das Publikum kann entweder im Saal bleiben oder durchs Foyer flanieren. Vor der Indoktrination durch lange Polit-Monologe, die im bewährten Ping-Pong vom Teleprompter abgelesen werden und über Lautsprecher nach draußen übertragen werden, gibt es kein Entkommen.
Schöne Akzente setzt an diesem Abend der dreiköpfige Frauen-Chor um Annunziata Matteucci. Der für die Musik verantwortliche Rainer Süßmilch erklärt im Programmheft, dass sie auf fast vergessene Gesänge aus Italien und Korsika spezialisiert ist. Ihre Melodien, die sich durch den Abend ziehen, klingen fast wie lateinische Choräle und geben der oft zur Komik neigenden Inszenierung eine archaisch-tragische Note.
Nach seinem hölzernen Einstand am Berliner Ensemble mit Lion Feuchtwangers „Exil“ gelingt dem belgischen Altmeister Luk Perceval mit „1984“ ein über weite Strecken kurzweiliger und sehenswerter Theaterabend, der einen ungewöhnlichen Blick auf den Klassiker wirft.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/11/18/1984-berliner-ensemble-kritik/
Womit wir zurück sind beim Grundproblem: In seinem Eifer, den Stoff umzukrempeln, ihn in ein enges Interpretationskorsett zu zwängen, hat dieser Abend keine nerven und wohl auch kein Interesse daran, unklare Frage zu beantworten oder gar zu stellen, Widersprüche aufzulösen. er gefällt sich zu sehr in seiner Idee der Gemachtheit von Wirklichkeit im Denken des Einzelnen, ohne über das Verhältnis einer solchen Innenwelt zu einem „Außen“ zu reflektieren oder gar die Konsequenzen einer solchen Sicht zu bedenken in einer Gegenwart, die solche Themen gerade mit existenziellen Auswirkungen verhandelt. In einer Zeit, in der autoritäre Bewegungen ihre Chance sehen, die Demokratie in ihren Grundfesten anzugreifen, in der Wahrheit und Wirklichkeit zu bloßen Meinungen degradiert und die Existenz einer verifizierbaren Realität zunehmend geleugnet werden, ist eine solche individualisierte, psychologisierte und im Kern entpolitisierte Lesart dieses Schlüsseltexts ders 20. Jahrhunderts, im besten Fall irritierend, im schlimmeren durchaus hochproblematisch.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2024/01/07/totalitarismus-als-hirngespinst/