Der kaukasische Kreidekreis - Im Berliner Ensemble versenkt Michael Thalheimer Bertolt Brechts Lehre im Blut
Rührung statt Sozialismus
von Esther Slevogt
Berlin, 23. September 2017. In der Geschichte gibt's Mord, Flucht und jede Menge Unglück. Doch alles fängt sehr gepflegt an. Zu süffigen Riffs einer sanft rockenden E-Gitarre beginnt ein Mann im weißen Anzug mit dem rauchigen Pathos eines Barsängers zu singen: "In alter Zeit, in blutiger Zeit ...", fast so, als wären wir heute irgendwie weiter. Auf diesen, von Bert Wrede komponierten Tönen werden wir durch den ganzen Abend gleiten. Manchmal schwellen sie dramatisch an. Manchmal plätschern sie wie die Handlung etwas läppisch dahin. Der Schauspieler und Sänger Ingo Hülsmann steht erst noch mit dem Rücken zum Publikum und schaut auf die leere Bühne (wobei diese Leere wohl nicht ganz freiwillig ist. Ein Bühnenbild von Olaf Altmann kam, wie man hört, nicht zum Einsatz). Nur ganz hinten steht ein Gitarrist und produziert live besagte E-Gitarren Musik zu Hülsmanns manchmal provozierend laszivem Gesang.
Viehische Wesen, niedere Instinkte
Und dann kommt sie, die berühmte Geschichte vom reichen Gouverneur (Peter Luppa), dem bald unter Einsatz von viel Theaterblut die Kehle durchgeschnitten wird, seiner kaltherzigen jungen Frau und vor allem seinem neugeborenen Kind und dessen Retterin, der Magd Grusche. Grelle Figuren treten aus dem Dunkel in einen Lichtkegel in der Mitte der Bühne und fangen an, Theater zu spielen. Stumpfe, dumpfe und grobschlächtige Figuren, deren menschliche Regungen allesamt zu ziemlich niederen Instinkten verkommen sind. Egal, ob sie morden oder lieben. Die unromantisch glotzen, kreischen und stammeln. Fast viehische Wesen, die sofort nachvollziehbar machen, warum die junge Gouverneurin, von Sina Martens zunächst als blöde Hipsterzicke angelegt, beim Kontakt mit diesem Volk stets Migräne bekommt.
Rührstück
Bertolt Brecht schrieb sein Stück "Der kaukasische Kreidekreis" in den Jahren 1944/45 im kalifornischen Exil. Auf einer Collegebühne in Minnesota wurde es 1948 uraufgeführt. 1954 inszenierte Brecht die deutschsprachige Erstaufführung im Theater am Schiffbauerdamm, das er mit seinem, 1949 am Deutschen Theater gegründeten Berliner Ensemble ein halbes Jahr zuvor bezogen hatte. Das Premierendatum war auch der fünfte Jahrestag der DDR-Gründung, und das Stück liefert mit seiner saftigen Fabel triftige Begründungen, warum die alte kapitalistische Ordnung abgeschafft gehört hatte: ebenso wie das Kind in die Hände der Frau gehört, die es liebt und gedeihen lässt, statt zu seiner lieblosen leiblichen Mutter, gehören die Produktionsmittel in die Hände derer, die damit produzieren statt sie nur zu besitzen und anderer Arbeit auszubeuten.
Doch (nicht nur) diese Rahmung ist in der knapp zweistündigen Spielfassung am Berliner Ensemble des Jahres 2017 gestrichen, wo nun der Regisseur Michael Thalheimer heißt. Das Drama ist im Grunde auf das reine Rührstück der Magd Grusche reduziert, die unter Einsatz ihres Leben und ihres Glücks das Kind ihres Herren annimmt und rettet: wie sie unterwegs barmt und leidet, zittert und bebt, mit der Entscheidung hadert, ihre Liebe opfert und doch nicht anders kann.
Zart und zerreißend
Allerdings wird diese Magd von Stefanie Reinsperger gespielt, einer Schauspielerin mit archaischer, fast animalischer Wucht, auf die die berühmte Beschreibung des Regisseurs Jürgen Fehling für Heinrich George passt, der den großen Schauspieler als "mozärtlichen Elefanten" beschrieb. Wie Reinspergers Grusche mit ihrer geballten physischen Präsenz in den Abend linkisch die zärtlichsten und zartesten Momente tupft: in blauem Kittelkleid und mit überdimensionierten blonden Zöpfen. Die schönsten Szenen spielt sie mit Nico Holonics, der ihr als Verlobter Simon Chachawa ein kongenialer Partner ist: zart, zäh und herzaufschürfend. Wie beide sich erst finden und dann wieder verlieren. Wie die Verzweiflung sie zerreißt (und es anders als bei Brecht für sie auch kein Happy End geben wird).
Doch leider gießt Michael Thalheimer über alles in steter Geflissenheit sein szenisches Lieblingsdressing: Theaterblut. Auch der Kreidekreis ist später eine Blutlache. Darin steht mit schwarzer Lockenperücke blutübergossen die unverständlichste und unverstandenste Figur des Abends: Tilo Nest als Richter Azdak. Bei Brecht ein bauernschlauer Robin Hood, den die Kriegswirren ins Richteramt brachten, wo er nun die Reichen ausnimmt und den Armen zu ihrem Recht verhilft. Bei Thalheimer gibt es keine Idee für diese Figur: Er ist eine zappelige Witzfigur, deren gewichtiger Urteilsspruch daher ebenso im Nichts verpufft wie die Moral von der Geschicht', die Dramaturg Bernd Stegemann im Programmheft so ausführt: "Brechts Satz, dass die Ausbeuter nicht zu allen Zeiten mit denselben Mitteln ausbeuten, gilt heute mehr denn je. Was bei der Arbeit an der Maschine noch offensichtlich ist, ist in den neoliberalen Wohlstandszonen hinter einem dichten Schleier verschwunden." Im BE versinkt das jetzt in Theaterblut.
Der kaukasische Kreidekreis
von Bertolt Brecht
Regie: Michael Thalheimer, Kostüme: Nele Balkhausen, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Bernd Stegemann, Licht: Ulrich Eh.
Mit: Stefanie Reinsperger, Ingo Hülsmann, Tilo Nest, Nico Holonics, Sina Martens, Carina Zircher, Veit Schubert, Sascha Nathan, Peter Luppa, Kai Brückner und Kalle Kalima (Live-Musiker).
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.berliner-ensemble.de
Wuchtig gehe es zu, "hart, klar und im brutalstmöglichen Frontalangriffsstil", schreibt Peter Laudenbach (Süddeutsche Zeitung, 25.9.2017) in seiner Besprechung der Eröffnungspremieren am Berliner Ensemble. Der Tragiker Thalheimer sprenge Brechts Dialektik-Märchenonkel-Sentenzen auf und zeige "lauter ums nackte Überleben kämpfende, knapp am Rand der Vertierung verrohte Existenzen", "ein Albtraum, eine Wucht, der entschlackteste Brecht, den man sich nur wünschen kann". Fazit insgesamt: gelungener Neustart, "der Bruch zur Ära Peymann ist überdeutlich".
"Der Start unter dem neuen Intendanten Oliver Reese hat etwas von einem Muskelspiel, dem sich wie von selbst ein Werbetext unterlegt", findet Katrin Bettina Müller in der taz (25.9.2017). Schauspielerin Stefanie Reinsperger sei das Pfund, mit dem Thalheimer bei seinem Auftakt wuchern können, "eine junge Frau von unerschütterlich wirkender Kraft, mit kräftiger Statur und langen blonden Zöpfen – die dann aber doch sehr bald ins Zittern und Zagen gerät". Diese Konzentration auf einen Erzählfaden mache das Drama einerseits zugänglich, "überlässt andererseits, was es an Kontext so einzuspeisen gäbe, getrost dem Zuschauer. Der am Berliner Ensemble ja meist doch eine große Seherfahrung mitbringt. Und sich so auch im neuen BE bald zurechtfinden wird."
"Michael Thalheimer hat zum Eröffnungswochenende einen Brecht hingedonnert", so Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (25.9.2017). Und wieder, wie schon zwei Tage zuvor beim Caligula, dröhnen die Schauspieler, brülle es aus ihren Mündern, schreie dich der Text an. "Stefanie Reinspergers schauspielerische Naturgewalt würde doch schon ausreichen, das volle Haus zu erschüttern." Auch wenn Thalheimers Regie alte Frauenklischees bediene, "die Grusche der Reinsperger berührt tief". Fazit: "Viel schmieriges Blut, dämliche Chargen, verdrehte Kreaturen: Ein Kommentar zum Berliner Theaterleben im Herbst 2017. Hart, aber hässlich."
Doris Meierhenrich beobachtet für die Berliner Zeitung (25.9.2017), "dass das 'Kreidekreis'-Personal durch die radikal reduzierte Erzählung hetzte, krümmte, rutschte und jammerte, als wären sie alle mit Gift aufgespritzt". Man kenne Thalheimers Auffassung, dass "Gegenwärtigkeit aus einem Text springt, wenn man ihn nur in möglichst schrille Körperhaltungen zwingt", schreibt die Kritikerin. "Für Brecht allerdings ist das zu wenig. Ihm muss man mit Gedanken beikommen, nicht mit Nerven." Das "Mutter-Melodram", das Thalheimer aufführe, rückt für die Kritikerin "gefährlich nah an Bauerntheaterkitsch".
Von "einem wahren Glücksfall der neueren Brecht-Pflege" schwärmt Ronald Pohl vom Standard (26.9.2017). "Brechts verwickelte Gerechtigkeitsdebatte" werde bei Thalheimer "zur physischen Zerreißprobe erklärt". Das "stark gekürzte Stück zuckt wie ein unter Strom gesetzter Kadaver". Besondere Würdigung durch den aus Österreich angereisten Kritiker erfährt die "Österreicherin Stefanie Reinsperger" für ihre Grusche-Verkörperung.
Das "insgesamt gute Ensemble tröstet" Hubert Spiegel von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.9.2017) "nur ein wenig darüber hinweg, dass nicht recht erkennbar wird, was Thalheimer heute noch an Brechts wenig subtiler, aber keineswegs harmloser Fabel interessiert". Völlig unklar werde die Deutung mit Tilo Nest als Azdak Sein Auftritt mit Bojarenmütze solle "wohl auf den Gottesnarren abzielen, kommt aber über einen bekifften Pudel nicht hinaus". Größe gewinne die effektorientierte Inszenierung nur mit Stefanie Reinsperger als Grusche und Nico Holonics als Simon, die "um ihre aussichtslose Liebe kämpfen. Große Gefühle sogenannter kleiner Leute, ins Tragische gewendet."
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Selten eine derart karge Bühne gesehen. Wie Esther Slevogt andeutet, war das möglicherweise nicht geplant. Statt Olaf Altmanns überwältigend-schroffer Bühnenbilder, die „Medea“ in Frankfurt oder „Tartuffe“ an der Schaubühne zu besonderen Erlebnissen machten, dominieren hier Purismus und Leere. Die gewaltige Bühne ist kahl, auf Requisiten verzichten die Schauspieler bis auf das Bündel, das den kleinen Michel darstellen soll, komplett. Das Auge bekommt nichts, an dem es verweilen oder sich festhalten könnte. Der größte Teil der Bühne bleibt völlig schwarz. Nur ein schmaler Lichtkegel ist auf die Spieler gerichtet, die gerade dran sind, der Rest wartet im Hintergrund.
Der Höhe- und Schlusspunkt der Gerichtsszene versinkt in zu viel Kunstblut und Slapstick, da muss ich Esther Slevogt leider zustimmen.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/09/23/der-kaukasische-kreidekreis-energieleistung-von-stefanie-reinsperger-geht-am-berliner-ensemble-im-bruellen-unter/
(...)
Thalheimers erster Brecht am BE ist keine Offenbarung, aber ein ziemlich starker Auftakt.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/09/24/blutende-welt/
https://daskulturblog.com/2017/09/23/der-kaukasische-kreidekreis-energieleistung-von-stefanie-reinsperger-geht-am-berliner-ensemble-im-bruellen-unter/comment-page-1/#comment-678
Nichts gegen etwas E-Gitarren-Wumme, doch wenn diese fast das ganze Stück durchzieht und die Spieler über lange Phasen zwingt, ihren Text zu brüllen - oder ihrerseits ein Mikrofon zu nutzen, dann schmerzt das fast schon.
Dabei sind es doch so tolle Spieler: in den wenigen stillen Momenten kann man das spüren - und mit der Thalheimer-typischen Texttreue ahnen, welche Kraft dem Stück als solchem innewohnt. Insofern: bitte mehr Vertrauen auf Sprache und Ensemble!
Um Missverständnissen vorzubeugen: nach meiner Meinung ist die Inszenierung besser gelungen als die beiden Molieres an der Schaubühne.
Sicherlich spielt Stefanie Reinspergers eine hervorragende Grusche. Das erwarte ich nicht anders. Auch Anna Graenzer oder die junge Carmen Maja Antoni waren hervorragend.
Ekkehard Schall hatte den Azdak ähnlich irre angelegt. Körperflüssigkeiten bis in die vierte Reihe inklusive ;).
Es bleibt dabei, die Frage ob der alte BB fürs 21. Jahrhundert taugt wird erst nach 2024 geklärt.
Bei Thalheimer wird der Brechtsche Kreidekreis gewaltig, zugleich aber genial gegen den Strich gebürstet, so dass auch von den anderen „Eigenarten des Berliner Ensembles“ wie Vergnügen an der dialektischen Betrachtungsweise oder einem Diskurs über gesellschaftliche Konflikte und deren Veränderbarkeit nix übrigbleibt.
Die Kürzungen verschaffen der Inszenierung einen bei Brecht nicht vorgesehenen dramatischen Höhepunkt:. Um ihren Verlobten Simon nicht zu verlieren, beteuert Grusche ihm gegenüber angesichts des Kindes: „Meines ist es nicht.“, um im nächsten Moment beim Erscheinen der Gouverneursfrau aufzuheulen: „Es ist meins.“
Insgesamt ein sehr gelungener Theaterabend mit einem durch die Bank wunderbaren Ensemble, angeführt von der Brachialwumme Stefanie Reinsberger über Sascha Nathan als Bruder oder Bauersfrau, die Schwiegermutter Peter Luppa, die Panzerreiterin Carina Zichner und, und bis hin zum coolen Sänger und Erzähler Ingo Hülsmann. Auch Sina Martens war nicht schlecht, aber sie kann mehr. Wo ist das – von mir ersehnte – Stück, in dem auch sie mal so richtig glänzen kann?
Im Heinrich Breloers Dokumentation über das BE wird eine Probenszene nachgestellt, in der die Grusche mit dem kleinen Säugling Michel den alten Bauern um Milch bittet. Er verlangt drei Piaster für einen „Spritzer“. „Die Milch hat aufgeschlagen.“ Die Darstellerin der Grusche zeigt Verständnis, wenn der Bauer noch alle seine Ziegen hätte und sie nicht von den Soldaten geraubt worden wären, dann könnte er auch großzügiger sein. Brecht ergänzt, dass sich die Menschen ändern, wenn die Verhältnisse geändert werden. „Das bürgerliche Geschwätz vom Charakter, der immer wieder durchschlägt, wie der Fettfleck in der Hose, ist totaler Blödsinn.“ Wenig später legt die Grusche den kleinen Michel vor der Schwelle eines Hause nieder und wartet, bis die Bauersfrau herauskommt und das Bündel findet. „Ich hätt dich gern weiter gehabt, weil deine Nase so klein ist, aber es geht nicht.“
Weniger theatralisch hat Paula Banholzer ihren Sohn Frank in Kimratshofen in Pflege gegeben. Der Vater Bertolt Brecht hat sich wenig und wenn, dann nur aus der Ferne, gekümmert. Dies hatte nichts mit persönlicher Verantwortung zu tun, die Verhältnisse waren halt so!
Gerade fand am Robert-Koch-Institut in Berlin der Kongress „Armut und Gesundheit“ statt. Erwachsene mit niedrigem Einkommen haben eine deutlich geringere Lebenserwartung als solche mit hohem Einkommen, wurde berichtet. Dies hängt sehr wahrscheinlich mit wesentlich häufigeren chronischen Herz-Kreislauf- und Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes zusammen. Bereits Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozialen Status haben deutlich mehr Risikofaktoren wie Bewegungsmangel, starkes Übergewicht und Rauchen.
Das bürgerliche Geschwätz von der eigenen Verantwortung für Leben und Gesundheit ist totaler Blödsinn, die kranke Gesellschaft hat Schuld!
Im „Galilei“ hat sich Brecht eines Besseren besonnen: „Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch, als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein.“ Die Armen, die Benachteiligten müssen in Bewegung kommen und denken lernen. Nicht auf die Veränderung der Verhältnisse als den Deus ex machina warten, sondern mit Bildungshunger, Wissensdurst und Tatendrang zuallererst sich selbst ändern, für sich selbst Verantwortung übernehmen!
@17 Hallo Wolfgang, danke für Ihre/deine Einlassung, hätte ich jetzt gar nicht so damit gerechnet auf dem Theater-Portal nachtkritik. „In Bewegung kommen und denken lernen“, ein Appell an die „Campagnabauern“ als Repräsentanten aller Benachteiligten, ist ein Zitat aus Brechts „Leben des Galilei“. Ich habe mich dezidiert auf Bewegungsmangel, starkes Übergewicht und Rauchen bezogen und nicht auf psychische Krankheiten wie Depressionen. Psychische Krankheiten werden auch in der Pressemitteilung des Robert-Koch-Institutes bei dem Thema nicht erwähnt (https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GesundAZ/Content/A/Armut/Presse-Statement_Kongress_2018.html).
Ich verstehe durchaus, dass Menschen – vor allem durch Einsamkeit - in einen Zustand geistiger Verkümmerung geraten können, mit Selbstzweifel, Aggression, Verachtung.
An anderer Stelle wurde bei nachtkritik gerade ein Kommentar von Michael Wolf zu „rechtschaffenen Ritualen“ kontrovers diskutiert. Im Raum stand, dass es sich bei vollmundigen Erklärungen vor allem um Sprechblasen, um folgenlose Lippenbekenntnisse handelt.
„Unsere Gesellschaft ist eine plurale Versammlung. Viele unterschiedliche Interessen treffen aufeinander und finden sich oft im Dazwischen. Demokratie muss täglich neu verhandelt werden – aber immer unter einer Voraussetzung: Es geht um Alle, um jede*n Einzelne*n als Wesen der vielen Möglichkeiten!“ So heißt es in der Erklärung der Vielen.
Als einfacher Theaterbesucher habe ich bei nachtkritik schon mehrfach für mehr Mittun, für mehr Partizipation, mehr Teilhabe, mehr Diskussionsmöglichkeiten, mehr Interaktion im Theater plädiert. Wie schön wäre es, wenn auch Menschen, die aufgrund von Arbeitslosigkeit, Armut oder Einsamkeit unter geistiger Verkümmerung, Selbstzweifel, Aggression, Verachtung leiden, eine solche Teilhabe vom Theater fordern und diese sich ins Zeug legen, damit sich jede*r Einzelne wieder „als Wesen der vielen Möglichkeiten“ begreifen kann.
Immerhin sind wir so ins Gespräch gekommen.
Die Erklärung der Vielen finde ich erstmal gut, es ist aber in meinen Augen nicht mehr als eine Setzung resp. eine Art Selbstversicherung. Über Ursachen, weshalb die Vielen möglicherweise bald von den (noch) nicht ganz so Vielen eingeholt/überholt werden, habe ich nichts gefunden. Über Strategien, die Ursachen zu bekämpfen erst recht nicht. Deshalb kann ich den Aufruf nicht als politisch begreifen. Es sind gute Wünsche, verpackt in Mahnungen, die da sagen, hoffentlich wird es nicht schlimmer, zwischen den Zeilen die Hoffnung, möge doch alles so bleiben, wie es ist. - Bleiben Sie wachsam. Herzlich, W.
Im Programmheft des Kaukasischen Kreidekreises am BE sieht der Dramaturg Bernd Stegemann den Ausgangspunkt - und es ist ganz explizit auch der Endpunkt - des Stücks in der Eigentumsfrage: „Dass da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind,…“
Erstaunlich ist Stegemanns Resignation: “Wie sie für unsere Zeit, die um ein vielfaches weiter in der Naturalisierung des Unrechts fortgeschritten ist, überhaupt noch zu stellen ist, vermag niemand zu sagen. Dass das Theater hierfür eine Bühne hatte, galt zumindest für vergangene Zeiten.“
Ja nun, er ist der Theatermann, er ist der Dramaturg, er müsste dafür sorgen, dass seine Einlassungen nicht im Programmheft verschwinden, sondern zum Programm von Inszenierungen werden. Er müsste den Intendanten von den Eigenarten des BE überzeugen, die „Gesellschaft als veränderbar darzustellen“ und „die dialektische Betrachtungsweise zum Vergnügen zu machen“.
Dabei ist es nicht richtig, dass unser Rechtssystem das Eigentum heilig spricht und damit unangreifbar macht. Artikel 14 des Grundgesetzes (GG) gewährleistet zwar Eigentum und Erbrecht, bestimmt aber gesetzliche Schranken. „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Enteignung zum „Wohle der Allgemeinheit“ ist zulässig. Artikel 15 GG ermöglicht die „Vergesellschaftung“ von Eigentum.
In der Medizin ist die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) aus einem Dornröschenschlaf erwacht und musste entdecken, dass die Ökonomisierung das Patientenwohl gefährdet. Ökonomisierung bezeichnet dabei eine Entwicklung, bei der betriebswirtschaftliche Erwägungen – jenseits ihrer Dienstfunktion – zunehmende Definitionsmacht über individuelle und institutionelle Handlungsziele in der Patientenversorgung gewinnen.
In ihrem Elfenbeinturm mag die AWMF wohl nicht so recht zu überblicken, dass die medizinische Versorgung ein lukrativer Markt ist und den derzeit herrschenden Bedingungen der Marktwirtschaft, also der optimierenden Gewinnerzielung, unterworfen wird.
Damit stellt sich die weitaus größere Aufgabe, die Marktwirtschaft in den Dienst des Menschenwohls, den Dienst des Allgemeinwohls zu stellen. In der Tat besteht eine enorme Nachlässigkeit der Gesetzgeber, die Allgemeinwohl-Verpflichtung der Privateigentümer zu detaillieren. Selbst bei Gesetzesverletzungen von Eigentümern und Unternehmen handeln die Institutionen nur zögerlich und unzureichend. Statt die Vermögensbasis der Gesellschaft zu verbreitern, existiert eine seit Jahrzehnten zunehmende, mittlerweile groteske Vermögenskonzentration weltweit. Die Konsequenz ist absehbar, dass auch in westlichen Ländern die Mehrheit der Gesellschaft sich keinen angemessenen Wohnraum mehr leisten kann und insbesondere von Altersarmut jenseits des Arbeitslebens bedroht wird.
Das Problem liegt weniger in einer Verblendung durch die symbolische Ordnung der moralischen und sozialen Systeme, die Stegemann ausmacht, sondern darin, dass auch die weitaus meisten Habenixe selbst das Allgemeinwohl aus dem Blick verloren haben und allein ihrem egoistischen Individualismus folgen.
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ein heutiges Theater die Eigentumsfrage wieder thematisieren kann, eher in einer klaren, epischen, diskursiv nüchternen – einer Brechtschen - Weise als mit Exzessen von Theaterblut , wie stets bei Thalheimer.
In den letzten Wochen ist die Frage des Eigentums an Wohnungen zu einem heißen Thema der Berliner, ja der bundesdeutschen Gesellschaft geworden, diesbezügliche Podiumsdiskussionen erreichen Teilnehmerzahlen wie Theaterabende.