Willkommen im Metaverse

22. September 2023. In ihrem neuen Stück geht Sibylle Berg einmal mehr voll auf die Zwölf der Dystopie: Die KI regiert, weil der Mensch ihr die Macht überlassen hat. Am Berliner Ensemble inszeniert Max Lindemann die Uraufführung mit genderfluider KI und Blockflöten.

Von Sophie Diesselhorst

"Es kann doch nur noch besser werden" am Berliner Ensemble © JR / Berliner Ensemble

22. September 2023. Die Dystopie ist überall. Ob man sich nun entscheidet, zuhause auf dem Sofa zu bleiben und Netflix zu gucken, oder ob man sich aufrafft, ins Theater zu gehen: Es ist kein Entkommen. Immerhin ist Sibylle Berg keine Trittbrettfahrerin, sondern das dystopische Szenario ist schon länger ihr Spezialgebiet. Bereits in ihren letzten Romanen "GRM" und "RCE" war die Menschheit von der Auslöschung bedroht, auch in ihren Theaterstücken variiert sie das Thema schon seit Jahren.

Drei gegen drei

Es überrascht also nicht, dass Bergs neues Stück wieder ein Untergangsszenario ist – eine Textfläche, in der zwei Charaktere namens "Person" und "AI" um die Redezeit konkurrieren, wobei die Machtverhältnisse eigentlich von Anfang an klar sind: Gegen "AI" hat "Person" keine Chance, auch wenn "Person" beziehungsweise ihre "Elterngeneration" "AI" anno dazumal, also kurz vor heute, erfunden hat.

Max Lindemann hat die beiden Sprecher:innen in seiner Uraufführung im Neuen Haus des Berliner Ensembles jeweils verdreifacht, was dem Text guttut und zugleich seiner Eigenlogik folgt: Die Punchlines fliegen uns nur so um die Ohren und kommen dadurch noch besser zur Geltung, dass die Konkurrenzverhältnisse verstärkt werden. Drei gegen drei und jede:r für sich selbst allein.

Laufen, Winken, Schauen

Die Drehbühne dreht und dreht sich, während sich auf den beiden großen Videoscreens in ihrem Hintergrund erstaunlich wenig tut: In dieser Welt, in der Digital und Analog im schlechtestmöglichen aller Metaverses verschmolzen sind, geht nicht mehr viel – zumindest auf dem Level, auf dem "Person" sich befindet. Und wir wohnen ihrem weiteren Niedergang bei.

Es kann doch nur noch besser werden4 1200 JR Berliner Ensemble uKI gegen Mensch: Meo Wulf, Amelie Willberg, Perra Inmunda hier, Lili Epply, Jonathan Kempf, Nina Bruns da
© JR / Berliner Ensemble

Wirken die drei "Person"-Darsteller:innen in Max Lindemanns Inszenierung anfangs noch wie fröhliche Untote, die immerhin soweit bei physischen Kräften sind, dass sie die im von den Künstlichen Intelligenzen regierten System verfügten Alltagschoreographien (Laufen, Winken, no bad feelings in der unterhaltsamen Erinnerung an ihre einigermaßen normalmenschlichen Kindheiten und die verhängnisvollen Lebensentscheidungen ihrer Eltern) souverän performen können, geht es im Folgenden ihren Körpern an den Kragen.

Auch die Kunst haben sie geklaut

Nachdem sie ein Level heruntergestuft worden sind, müssen sie für jeden Shot der ungesunden künstlichen Ernährung, die sie zum Überleben brauchen, ein Körperteil lassen. Die Dystopie wird hiermit handfest – und Sibylle Berg erweist sich in ihrer Detailverliebtheit als Meisterin des Genres. Alles fliegt auseinander, was nicht dazu führt, dass das Bild verwischt: Im Gegenteil, hier wird genau hineingezoomt in katastrophische Situationen, in denen zum Beispiel die Stadt, in der "Person" lebt, plötzlich von Wasserwerfern geflutet wird, eine Maßnahme, die mutmaßlich zum Tod der meisten ihrer Bewohner führt. Die restlichen hausen danach wie Ratten in feuchten Kellern und fristen ihr stets bedrohtes Leben als Clickworker oder auch "AI-Darsteller".

"Ein Stück mit Musik für diverse Leute" nennt Sibylle Berg es im Untertitel, und da schleicht sich auf einmal ein utopisches Moment ein: Denn an die "diversen Leute" glaubt sie, und das tut auch diese Inszenierung, die die drei machtvollen Vertreter:innen der "AI" als genderfluide Wesen mit erstaunlichen Fähigkeiten porträtiert. Im bisweilen zu Einzel-Tracks anschwellenden Soundteppich von Olan!, der der Inszenierung einen guten Drive gibt, singen und tanzen sie. Sie spielen Blockflöte und sie tragen ihre Erkenntnisse in gebundener Sprache vor. Auch die Kunst haben sie den Menschen geklaut. Und sogar die Selbstironie.

Es kann doch nur noch besser werden2 1200 JR Berliner Ensemble uWo sind bloß all die Menschen hin? © JR / Berliner Ensemble

An ihre Sexy-Alien-Kostüme sind Extra-Körperteile montiert, wie Trophäen ihrer Mission, den Planeten Erde von der zerstörerischen Spezies Mensch zu befreien. Die Klimakrise und eine von ihr bedingte Verschiebung globaler Machtverhältnisse kommen übrigens nur am Rande vor, wenn afrikanische und asiatische Touristen gegen Ende des Stücks in den Ruinen Europas umherwaten. Aber auch ihnen wird es an den Kragen gehen.

"Es kann doch nur noch besser werden" – was dieser Satz bedeutet, kommt sehr drauf an, wann er gesagt wird. In Sibylle Bergs Stück erst ganz am Ende, wenn für die Menschheit schon alles verloren ist. Trotzdem steckt in dem Text und seiner sehr auf menschliche Unterhaltungsbedürfnisse zugeschnittenen Uraufführungsinszenierung irgendwie auch noch die Hoffnung, dass der Groschen ein bisschen früher fällt.

 

Es kann doch nur noch besser werden
von Sibylle Berg
Uraufführung
Regie: Max Lindemann, Ausstattung: Sita Messer, Musik: Olan!, Video: Jo Jakob Hübner, Licht: Steffen Heinke, Dramaturgie: Karolin Trachte.
Mit: Nina Bruns, Lili Epply, Jonathan Kempf, Amelie Willberg, Perra Inmunda, Olan!, Meo Wulf.
Premiere am 21. September 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

Mit Ironie oder heiterem Augenzwinkern inszeniert, könnte man den Bergschen Übertreibungsgrotesken bei aller Jammerei so mache Wahrheit abringen. Doch Regisseur Max Lindemann nehme Sibylle Berg viel zu ernst, so Barbara Behrendt vom RBB (22.9.2023). Nach drei Minuten gehe das Interesse an den menschlichen Heulbojen schon zu Ende. "Das führt zum einen dazu, dass Bergs überspitzte Gesellschaftskritik mitunter ultra-konservativ daherkommt. Zum anderen, schlimmer noch, macht es, dass uns diese zombieartigen Jammerlappen auf der Bühne herzlich wenig angehen."

Es mache Spaß, der Drag-KI beim Stöckeln, beim Blockflöten-Playback und beim Nachspielen absurder Social-Media-Phänomene zuzuschauen, schreibt Georg Kasch in der Morgenpost (22.9.2023). "Nur ist das, was die Figuren von sich geben, zunehmend ermüdend. In ihren motorisierten Gesten und ihrem ausdrucksarmen Sprechen, das wirkt, als entschwinde beständig alles Individuelle aus ihnen, verheddert sich kein Interesse, kein Mitleid, keine Erkenntnis. Die Welt ist schlecht und wird immer schlechter – ist das wirklich ein Handlungsgerüst für 80 Minuten?"

In der Süddeutschen Zeitung (23.9.2023) schreibt Peter Laudenbach. "Sibylle Berg, die literarische Fachkraft für hardcore-kapitalistische Dystopien am Rand der Apokalypse, hat ihren Zettelkasten ausgekippt. Aus den übrig gebliebenen Notizen über die letzten Tage der konsumdegenerierten Menschheit ist ein kleiner Text entstanden, in dem sich KI und Polizeistaat gute Nacht sagen. Das ist, wie immer bei Sibylle Berg, ziemlich lustig, klug und beschwingt von erfrischendem Hass: Wenn irgendwer eine Saison in der Hölle verdient hat, dann die wohlstandsverwahrlosten, empathiefreien Egoshooter aus dem Kreativ- und Marketing-Prekariat, denen völlig zu Recht Frau Bergs ganze Verachtung gilt."

Mit der kleinen Inszenierung von Max Lindemann (und der fetten elektronischen Live-Musik von Olan!) könne sich das Publikum schon mal auf die Adaption von Bergs jüngstem dystopischen Wälzer "RCE" einschwingen, die in der Spielzeit noch folgt, so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (25.9.2023, online 24.9.2023). "Was bleibt übrig, wenn wir unsere Lebensfunktionen Stück für Stück der Kontrolle einer deutlich kompetenteren künstlichen Vernunft überlassen? Am Anfang sehen die posthumanen Zombies noch ganz zufrieden aus mit ihrer Smartphone-Schnittstelle, aber dann."

Im Tagesspiegel (24.9.2023) bespricht Christine Wahl die neue "Sibylle-Berg-Dystopie mit angestammten Ingredienzien bei gewohnt hoher Bonmot-Dichte". Zu entdecken gebe es mit Max Lindemann "einen jungen Regisseur, der dem Untergangsszenario eine einfallsreiche, gewitzte und im besten Sinne quietschbunte Inszenierung abgewonnen hat".

 

Kommentare  
Es kann …, Berlin: Galliger Humor
Sibylle Berg arbeitet sich wieder an ihren großen Themen ab: dem Rausch des neoliberalen Turbokapitalismus, der so schön glitzert und so viele Verheißungen hat, aber für viele doch nur ein endloses Hamsterrad bedeutet, in dem sie sich drehen und nicht aus ihrem prekären Status herauskommen. Wir befinden uns in einem „Prima Leben“, das Tech-Giganten wie Elon und die KI den Menschen versprochen haben. Doch schon bald wird alles immer schlechter: die Versprechen stellen sich als reines Marketing heraus, die namenlose „Person“ landet schließlich in einem Downgrade der Basisversion, dem „Weniger prima Leben“. Aus der quietschbunten Bühne wird eine trostlose, überschwemmte Kloake.

Bekannte Motive wie die aus der VR China berüchtigten Verhaltenspunkte oder die Not auf dem Mietmarkt, über den Frau Berg zuletzt auch in vielen Social Media-Posts berichtete, collagiert Berg zu einer gewohnt pessimistischen Zustandsbeschreibung mit dem üblichen schwarzen Humor.

Vom Live-Musiker Olan! begleitet bieten die beiden Trios ("Person" vs. "AI") eine muntere, trotz aller Dystopie gut gelaunte Performance, in der sich Songs und Spielszenen unterhaltsam mischen. Ein in sich runder, kleiner, nur 80 Minuten kurzer Abend, der vom Premierenpublikum mit viel Beifall aufgenommen wurde. Sicher wird Sibylle Bergs galliger Humor zu guten Auslastungs- und Verkaufszahlen führen, die Intendant Oliver Reese immer so stolz verkündet.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/09/22/es-kann-doch-nur-noch-besser-werden-berliner-ensemble-kritik/
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