Sie lieben und verzweifeln

5. Oktober 2023. Leander Haußmann und das inklusive Ensemble RambaZamba landeten im letzten Jahr mit "Einer flog über das Kuckucksnest" einen Hit. Ihre zweite gemeinsame Arbeit startet gewohnt heiter, doch dann greift die Intimitätskoordinatorin ein.

Von Christine Wahl

"Läuft!", eine kollektive Recherche von RambaZamba und Leander Haußmann © Andi Weiland

5. Oktober 2023. "Läuft". Das hätte sich eigentlich schon für den ersten Abend als Motto angeboten, den das inklusive RambaZamba-Theater mit dem Regisseur Leander Haußmann realisiert hat: Einer flog über das Kuckucksnest vor ziemlich genau einem Jahr. Denn ganz gleich, ob das Ensemble dort den Bühnen-HipHop neu erfand, als Kiez-Gang in einem Video-Ausflug einen eifrig-unterbelichteten Volkspolizisten alias Detlev Buck alt aussehen ließ oder im Direktvergleich gegen die Hollywood-Ikone Jack Nicholson antrat, die überlebensgroß über diverse Leinwände flimmerte: Es lief einfach – und zwar so grandios, dass man beim Verlassen des Theaters nicht wusste, ob man sich in diesem Fall wirklich ein Sequel wünschen soll. Wäre ja bei weitem nicht der erste Fortsetzungsversuch, der dramatisch aus der Spur geriete.

Rainer Werner und seine Crew

Aber: "Läuft" – als "Kollektive Recherche" gelabelt – bleibt von der ersten Minute an absolut souverän on track. Und zwar deshalb, weil sich Haußmann gar nicht erst hineinbegibt in Sequel- und Neuauflagenverdachtszonen. Dass hier etwas ganz anderes läuft als ein "Kuckucksnest"-Aufguss, wird schon in der Eingangssequenz klar, in der eine gewichtig dröhnende Konserven-Stimme die "Unsterblichkeit des Theaters" verkündet und die "Sehnsucht nach Verwandlung" als "elementaren Trieb des Menschen" beschwört.

"Max Reinhardt", klärt Jonas Sippel auf – mit erhobenem Zeigefinger, aber ohne falsche Ehrfurcht. Schließlich ist er seinerseits kein Geringerer als der "Rainer Werner", und mit so einem Fassbinder-Ego im Gepäck lässt es sich nicht nur auf den dröhnenden Max erhaben herunterschauen durch die gelb verspiegelte Sonnenbrille. Auch die restlichen Kolleginnen und Kollegen, die sich rampensäuisch beim Regiemacho "Rainer" anzudienen versuchen, haben mit einer lakonischen Abfuhr zu rechnen. Am härtesten trifft es Robin Krakowski, der in Ermangelung anderer Betätigungsfelder die Verantwortung für den Getränkeservice am Bühnen-Set an sich gerissen hat und jede Servierdienstleistung mit einem akrobatischen Top-Act kombiniert. Krakowski findet sich dafür schneller, als er denken kann, draußen vor der Tür wieder.

LÄUFTMit Karla Sengteller, Samuel Koch, Robin Krakowski & dem RambaZamba-EnsembleRegie: Leander HaußmannNach Einer flog über das Kuckucksnest" arbeitet Leander Haußmann zumzweiten Mal am RZt. Der Regisseur, bekannt u. a. für die Filme Sonnenallee,Herr Lehmann, Hotel Lux, Stasikomödie und NVA sowie für Inszenierungenan der Volksbühne am Rosa Luxemburgplatz, am Thalia Theater Hamburg,Gesher Theater Tel Aviv, Burgtheater Wien und Berliner Ensemble, begibtsich mit der Stückentwicklung „LÄUFT!" zusammen mit seinenDarsteller*innen auf die Suche nach dem Glück. Wird alles gut, wenn diegeltenden Floskeln versagen? Eine kollektive Recherche.++ am 02.10.2023 in Berlin (Berlin).Foto: Andi Weiland | RambaZamba TheaterKein Drama ohne Opfer © Andi Weiland

Das ist natürlich ein super Trick, das semantische Feld des Abends erst mal aus berufenem Munde irgendwo weiträumig zwischen "Theater", "Trieb", "Sehnsucht", "Verwandlung" und "Unsterblichkeit" abstecken zu lassen. Welche Idee sollte in einer "Kollektiven Recherche" unter Theaterleuten je das Bühnenlicht erblicken, die da nicht hineinpassen? Also läuft es bei "Läuft" auf den verschiedensten Ebenen.

Liebe ist hier unerwünscht

Und es funktioniert mit einer breiten Varianz von Theaterformen – siehe etwa Nele Winklers leitmotivische Showtanz-Choreo mit Clownsnase – genauso hervorragend wie mit Metatheater: Sehr lustig, wenn Franziska Kleinert mit einem T-Shirt, auf dem weithin sichtbar "Intimacy-Coach" geschrieben steht, buchstäblich resolut hineinschreitet in Zweierszenen, in denen das mit der Identifikation der Schauspielerin mit ihrer Rolle ausnahmsweise wirklich mal geklappt hat. Die wunderbar aufgedrehte Karla Sengteller, der hier derart in ein authentisches love interest hineingepfuscht wird, dürfte sich jedenfalls bis jetzt nicht erholt haben vom eklatanten Sensibilitätsmangel in der eigenen Branche.

Überhaupt wird sich, apropos Metatheater, viel – und durchaus liebevoll – lustig gemacht über die allenthalben angesagten Diskurse: "Dürfen Rollstuhlfahrer:innen nur von Rollstuhlfahrer:innen gespielt werden?" Mit Ironie und Sachkunde entlangdiskutiert am Lee-Strasberg'schen Method Acting, mündet diese Frage fast in eine eigene Plotline dieses Abends.

LÄUFTMit Karla Sengteller, Samuel Koch, Robin Krakowski & dem RambaZamba-EnsembleRegie: Leander HaußmannNach Einer flog über das Kuckucksnest" arbeitet Leander Haußmann zumzweiten Mal am RZt. Der Regisseur, bekannt u. a. für die Filme Sonnenallee,Herr Lehmann, Hotel Lux, Stasikomödie und NVA sowie für Inszenierungenan der Volksbühne am Rosa Luxemburgplatz, am Thalia Theater Hamburg,Gesher Theater Tel Aviv, Burgtheater Wien und Berliner Ensemble, begibtsich mit der Stückentwicklung „LÄUFT!" zusammen mit seinenDarsteller*innen auf die Suche nach dem Glück. Wird alles gut, wenn diegeltenden Floskeln versagen? Eine kollektive Recherche.++ am 02.10.2023 in Berlin (Berlin).Foto: Andi Weiland | RambaZamba TheaterZum Tanzen aufgelegt © Andi Weiland

Das wirklich Erstaunliche aber ist, dass es "Läuft" gelingt, hinter der satten Bühnenparty mit Live-Video und Soundtrack immer wieder etwas anderes aufscheinen zu lassen – und zwar deutlich pathosfreier als vom großen Max aus der Konserve zu Beginn beschworen. Samuel Koch – Ensemblemitglied des Nationaltheaters Mannheim und dort zuletzt in tragender Rolle in Sivan Ben Yishais Mülheim-Gewinner-Stück Wounds Are Forever zu sehen – hält, was er tatsächlich auch im Leben jenseits der Bühne tut, Motivationsvorträge. Und zieht dabei, genau wie die anderen Spielerinnen und Spieler, immer wieder den Verklärungsschleier von der romantischen Idee der glücklichen Selbsterfindung im Spiel: Da wird, ganz beiläufig (um aus gegebenem Anlass die Kitsch-Vokabel "authentisch" zu vermeiden) immer wieder auch die Verzweiflung des Performenmüssens sichtbar, dies- wie jenseits der Bühne.

Detlev Buck schaut auch vorbei

Im letzten Drittel gibt's dann übrigens doch noch mal eine (Video-)Reminiszenz ans "Kuckucksnest" – Detlev Buck, der neben anderer Branchenprominenz von Ilse Ritter über Rainald Grebe bis zu Angela Winkler oder Klaus Lederer im Parkett sitzt, inklusive. Und es ist, dies nur am Rande, nicht etwa so, dass der Abend an diesem Punkt rein inhaltlich nicht auch schon hätte als beendet erklärt werden können. Aber dass "Läuft" hier natürlich immer auch "Lass laufen" heißt, ist ja wohl Ehrensache! Und: Fortsetzung folgt, das gilt als versprochen.

 

Läuft!
Kollektive Recherche
Regie und Bühne: Leander Haußmann, Kostüme: Beatrix Brandler, Videoprojektionen und Visualisierungen: Marco Casiglieri, Licht: Andrei Albu, Ton: Anton Seidlitz, Videotechnik: Martin Wolter, Regieassistenz: Michael Geißelbrecht, Stuntkoordination: Claudia Heinz, Anon Mall
Mit: Christian Behrendt, Lioba Breitsprecher, Heiko Fechner, Franziska Kleinert, Samuel Koch, Robin Krakowski, Dirk Nadler, Karla Sengteller, Jonas Sippel, Sebastian Urbanski, Nele Winkler.
Premiere am 4. Oktober 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.rambazamba-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Haußmann scheint viel Spaß mit der theaterfeindlichen Woke-Polizei zu haben", entnimmt Peter Laudenbach für die Süddeutsche Zeitung (5.10.2023) diesem Abend am RambaZamba, das für ihn das "anarchischste Theater Berlins" ist. Den "unvermeidlichen Erfolg der Show" trage die Inszenierung bereits in ihrem Titel: "Läuft".

"Haußmann plädiert in seiner hart erarbeiteten Gelassenheit für das Risiko des Lebens, für das Spielen und das Theater", schreibt ein rundum begeisterter Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (5.10.2023). "Weg mit den übertriebenen Rücksichten, Selbstbeschränkungen und Triggerwarnungen! Traut und mutet euch was zu! Seid freundlich und empathisch miteinander, dann wird es keine Missverständnisse geben. Und wenn doch, dann kann man um Entschuldigung bitten." Final gibt der Kritiker zu Protokoll: "Glück gefunden."

"Es wirkt, als hätten Haußmann und das RambaZamba einander gesucht und gefunden", schreibt ein bestens unterhaltener Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (6.10.2023). Zwar hänge der Abend im letzten Drittel etwas durch und blieben die RambaZamba-Spieler etwas unterbeschäftigt, "[a]ber der Drive stimmt, der Witz, die Energie". Kasch schließt: "Und wenn am Ende nur alles Theater war, dann wurde doch zwischendrin sehr viel übers Leben erzählt und unsere merkwürdigen Rollen darin.“

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