Gemeinschaft gelingt, wenn man andere aushält

1. Oktober 2022. Die Neue Bühne Senftenberg geht zum Spielzeitauftakt mit einem "FestSpiel" raus in die Gartenstadt Marga und zeigt an verfallenen Orten wie im Haupthaus eindrücklich Sehnsüchte nach Heimat, Geborgenheit und Harmonie.

Von Michael Bartsch

"Utopia" beim "FestSpiel" in Senftenberg © Steffen Rasche

1. Oktober 2022. Spielzeiteröffnung nach Senftenberger Art. Exkursionen in die Umgebung gehören seit den GlückAufFesten des bis 2014 amtierenden Intendanten Sewan Latschinian zum Ritual. Unter seinem Nach-Nachfolger Daniel Ris heißt das bis zum 9. Oktober dauernde Auftaktspektakel "FestSpiel" und trägt das derzeit häufiger strapazierte Motto "Neue Heimat".

Der erste Teil des Kombi-Abends führt nach dem Begrüßungssekt per Bus freilich erst einmal in die alte Heimat. Nach Marga im Ortsteil Brieske nämlich, eine Werkssiedlung von 1907, die sich mit Dresden-Hellerau um den Ruf streitet, die älteste deutsche Gartenstadt zu sein. Einer von drei wählbaren Spielorten (parallel wird in der Kirche Miru Miroslava Svolikovas "Gott ist drei Frauen (Gi3F)" und in der Turnhalle das Rechercheprojekt "Neue Heimat Senftenberg" gespielt) ist das imposante Zechenhaus der ehemaligen Brikettfabrik am Rande des Lausitzer Kohlereviers. Seit der Übernahme durch den Landkreis im April dieses Jahres steht es vor dem Ausbau zu einer Kulturstätte.

Neue Heimat, alte Kneipe

Vorerst aber bietet der morbide Charme der Eingangshalle die ideale Kulisse für ein Stück des russisch-ukrainischen Autors Mikhail Durnenkov, das nun wirklich nach einem Ort der Bindung und der Ruhe, nach Heimat sucht. Aufführungen des knapp 43-jährigen Durnenkov verbot das Moskauer Verbrecherregime, er erhielt Berufsverbot, wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und floh nach Finnland.

Eine Kneipe, eher eine Stampe mit schlechtem Bier aus Gurkengläsern fürs schlichte Volk, heißt ausgerechnet "Utopia" und gibt auch dem Stück den Namen. Kirill, ein neureicher Emporkömmling nach dem Zerfall der Sowjetunion, will die Erinnerung an die hier verbrachten Stunden während seines Studiums restaurieren und steckt Geld in das Lokal. Aber nur, um es genauso schmierig wiedererstehen zu lassen, wie es vor 15 Jahren war.

Der trunksüchtige Wirt Ljöscha, seine getrennte Frau Nadja und ihr drogenabhängiger geckenhafter Sohn Jura rappeln sich wieder auf und finden so eine gemeinsame Aufgabe und zu neuer Disziplin. Eigene Ideen dürfen sie aber nicht entwickeln, die "Utopia" zu ihrem Objekt machen würden. Denn der "Boss" Kirill hat das Sagen und lädt auch nur Freunde ein, die gleichfalls "das Sagen haben", aber offenbar dem Scheinidyll der alten Sowjetunion nachtrauern.

Kein Raum für Träume und Schwächen

In einfacher, fast proletarischer Sprache hat Durnenkov eine Parabel auf die Kollision von kapitalistischem Effizienzdenken mit diffusen unkalkulierbaren Emotionen geschrieben. Das Geschäft verträgt keine menschlichen Schwächen, und denen erliegt die labile Familie am Ende wieder. Boss Kirill aber auch, als er beinahe sozialutopisch die Kneipe als Ort der Gemeinschaft beschwört. "Mir geht's gut, aber ich fühle nichts", muss er resigniert gestehen, während kurz darauf die in Esoterikwahn verfallende Nadja das "Utopia" mit der "heilenden Flamme" anzündet und ihren eingeschlossenen Ljöscha darin verbrennen lässt.

Zupackend, zuweilen hart folgen die vier Spieler dem intensiven Text. So hart, dass Patrick Gees als Sohn Jura bei einer Rauferei mit seinem Vater gegen den gekachelten Sockel geschleudert wird und eine echte Wunde am Kopf erleidet. Mit einem Verband spielte er bravourös zu Ende. Gleichzeitig lassen sie die verborgenen Sehnsüchte erkennen und packen so das aufgeschlossene Publikum. Mehr als eine Metalltreppe und den kahlen Raum haben sie nicht als Bühne, und sie benötigen neben sparsamsten Requisiten auch nicht mehr.

Dörfliche Diaspora und der Gefühlsstau der "Über Menschen“

Mit ähnlich reduzierter Ausstattung bei intensivstem Spiel kommt auch Juli Zehs "Über Menschen" anschließend im warmen Haupthaus aus. In der präzise beobachtenden Romanvorlage von 2020 sucht eine junge Berlinerin namens Dora ja nun wirklich eine neue Heimat im brandenburgischen Dorf Bracken, das auch gleich nebenan liegen könnte. Der "Nachbar zur Rechten", der "Dorfnazi" mit Spitznamen Gote ist nur der extremste Einwohner einer frustrierten Dorfgesellschaft, der im Zuge der Wegrationalisierung des Vertrauten im Namen des Fortschritts die alte Heimat abhanden zu kommen droht.

Schon die auf Theatersätze sensibel getrimmte Bühnenfassung von Karoline Felsmann verdient Beachtung. Am unerschöpflichen Sprachwitz Juli Zehs kann man sich jedenfalls ungekürzt delektieren. Alle Spieler fungieren auch als Erzähler, reden von sich zuweilen in der dritten Person. Weiß bekritzelte dunkle Bühnenportale bilden den Rahmen, und eine graue Wand lädt zu Kreidezeichnungen ein, die naturalistische Requisiten außer ein paar Gartenstühlen und Herz-Luftballons entbehrlich machen.

Schwarzweißmustern aber folgt die Inszenierung gerade nicht. Denn Hausregisseurin Elina Finkel gelingt eine facettenreiche Figurenführung, die agitationsfrei sowohl Distanzierung als auch Verständnis nahelegt. Anfangs steht die Gruppe der Dörfler gegen die "Neue", dann lösen sich die Konfrontationen immer mehr in eine Ausleuchtung der Individuen auf. Dieses Lösen der verschiedenen Zwiebelhäute überfordert ja auch die Zentralfigur Dora, und Marianne Helene Jordan im blauen Jeansanzug lässt diesen Selbstorientierungsprozess treffend miterleben.

Einwohner wie Tom und Steffen sind nach gängigen Rastern rassistische Hasser. Aber nicht einmal "Gote", wegen einer Messerattacke gegen Linke vorbestraft, erscheint als unverbesserlicher Nazi. Matthias Manz trifft die Mischung aus generalfrustriertem Wüterich und dem Wunschbild des hilfsbereiten Nachbarn genau. Nach seinem Autounfall leistet ihm Dora die letzten Dienste.

Begreifen, nicht zuerst verurteilen

Gezeigt werden keine Sympathieträger, aber Empathie fordernde überforderte Typen. "Versteht uns doch endlich", scheinen sie nach Hilfe zu rufen. Vielleicht etwas idealisierend auch von der Autorin, sie so als Produkte der Verhältnisse speziell auf dem Lande und frei von Fanatismus darzustellen. Die Inszenierung bringt einen jedenfalls dazu, die Hybris moralischer Überlegenheit als "Gift, das die ganze Menschheit zerfrisst" gleichfalls in Frage zu stellen.

Die in beiden Stücken der Heimatfestspiele spürbare Sehnsucht nach stabilisierender Gemeinschaft erfüllte sich für die Senftenberger Theatergemeinde zumindest teilweise. Zur kulinarischen und musikalischen Pause zwischen beiden Teilen und zur Premierenfeier im neuen Café war eine Atmosphäre spürbar, wie sie gespreizte und zum prinzipiellen Naserümpfen neigende Großstädter nicht mehr entfalten.

Utopia (Deutsche Erstaufführung)
von Mikhail Durnenkov. Aus dem Russischen übertragen von Elina Finkel
Regie: Catharina Fillers, Raum und Kostüme: Maria Wolgast, Musik: Matthias Bernhold, Dramaturgie:  Johann Pfeiffer.
Mit: Anna Schönberg, Daniel Borgwardt, Erik Brünner, Patrick Gees.
Premiere am 30. September 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Über Menschen
nach dem Roman von Juli Zeh, Bühnenfassung von Karoline Felsmann
Regie: Elina Finkel, Bühnen- und Kostümbild: Norbert Bellen, Dramaturgie: Karoline Felsmann.
Mit: Marianne Helene Jordan, Clara Luna Deina, Matthias Manz, Tom Bartels, Robert Eder, Roland Kurzweg.
Premiere am 30. September 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-senftenberg.de

 

Kritikenrundschau

Marianne Helene Jordan halte die verschiedenen Stränge zusammen und das Stück am Laufen. "Und die Regisseurin setzt auf eine heikle, aber funktionierende Mischung, treffen doch idyllische Kreidezeichnungen in Doras Haus auf das 'Horst-Wessel-Lied'", schreibt Ute Grundmann von der Lausitzer Rundschau (4.10.2022) über die Produktion "Über Menschen".

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