Das Geschlecht der Zwiebel

16. Dezember 2023. Kim de l’Horizons preisgekröntes "Blutbuch" ist ein poetisches Plädoyer dafür, binäre Zuschreibungen aufzulösen. Die Erzählfigur sucht dafür eine Sprache: Genderfluide Identitäten brauchen neue Worte. Der israelische Regisseur Ran Chai Bar-Zvi inszeniert die deutsche Erstaufführung des Romans. Und sucht nach einer theatralen Form.

Von Jan Fischer

Kim de l'Horizons "Blutbuch", von Ran Chai Bar-Zvi inszeniert am Staatsschauspiel Hannover © Kerstin Schomburg

16. Dezember 2023. Man muss erst einmal ein paar Zwiebelschichten wegschälen, um zum Kern der Sache zu kommen. Und Zwiebelschichten gibt es einige in der deutschen Erstaufführung von Kim de l’Horizons "Blutbuch" in der Regie von Ran Chai Bar-Zvi im Schauspiel Hannover. Das geht los mit dem Vorspiel im Foyer des Ballhof, einer Drag-Show von Olympia Bukkakis, Fabian Dott und Nils Rovira-Muñoz, den dreien, die später auch die Erzählfigur der Inszenierung geben werden. In dieser Drag-Show lipdubt Bukkakis zu "Memories", und Rovira-Muñoz lässt sich in gepunktetem Badeanzug lasziv mit Wasser aus einer Gießkanne übergießen.

In Fernsehgarten-Trash-Manier

Das Vorspiel ist eher unnötig: Weder die Figuren noch die Geschichte bringt sie voran. Zwar gibt es nach schönster Fernsehgarten-Trash-Manier was zum Mitklatschen, aber mit dem Umzug vom Foyer in Richtung Bühne dauert die ganze Aktion eine gute halbe Stunde – ein Viertel der Spielzeit von "Blutbuch". Nun ja, wenigstens ist das Publikum danach gut gelaunt.

Fallhöhe gibt es dann trotzdem nicht: Zwar stirbt die Oma der Erzählfigur direkt nach dem Umzug – besonders tragisch ist das alles aber irgendwie nicht, weil immer wieder der Klamauk durchbricht. Mal muss der Lichteinsatz von den Figuren mehrmals gefordert werden, bis etwas passiert. Mal tanzt Rovira-Muñoz als Blutbuche zu "Mein Freund der Baum" über die Bühne, während Bukkakis in schönster Alexandra-Perücke den Song vor sich hin playbackt. Undsoweiter. Zwiebelschichten, wie gesagt, muss man wegschälen.

Identität ohne Bedienungsanleitung

Und dann wird’s doch interessant, denn de l’Horizons mit dem deutschen und dem schweizerischen Buchpreis ausgezeichnetes "Blutbuch" ist eine feinsinnige, poetische und gleichzeitig brutale Geschichte, die sich lohnt, erzählt zu werden: Die nicht-binäre Erzählfigur arbeitet sich in kaleidoskopartig um die Großmutter und die Blutbuche in ihrem Garten angeordneten Szenen an ihrer Identität ab, oder besser: versucht sie zu finden. Schwer, wenn es für Menschen wie sie noch nicht einmal Worte gibt. "In meiner eigenen Sprache", sagt sie einmal, "weiß ich nicht, wie ich von mir sprechen kann." Denn in der Sprache ist alles sortiert: männlich, weiblich oder, mit viel Pech, sächlich. Auf jeden Fall nicht passend für die Erzählfigur, die sich in diesen Schubladen nicht sieht. Also gibt es viele Enttäuschungen, viel Überkompensation, viel falsches Körpergefühl, toxische Zuschreibungen, Sex und Krisen – und am Ende so etwas wie eine neue Haut, oder zumindest ein neues Gefühl für die Haut, die sie sich abschälen muss, so sagt die Erzählerfigur: Zwiebelhäute.

Blutbuch 2 c Kerstin SchomburgErzählen Kim de l'Horizons feinsinnig-poetische Geschichte einer Identitätssuche: Olympia Bukkakis, Nils Rovira-Muñoz und Fabian Dott © Kerstin Schomburg

Das Bühnenbild spiegelt die binäre Sortierung wieder: Die Möbel der Oma, teilweise bei der Erzählerfigur eingezogen, sind alle zweifarbig gestrichen. Eine große Leinwand und Projektionsfläche im Bühnenhintergrund ist mal in Farbe getaucht, mal mit Filmen von Rollenmodellen angestrahlt, mal mit wirren Recherchen zwischen Judith Butler, Foucault und Blutbuchen. Schmerzhaft ist diese Geschichte einer Selbstfindung ohne die Bedienungsanleitung vordefinierter Rollen. Sie produziert aber immer wieder auch ganz wunderbare Bilder, beispielsweise als die drei Erzählfiguren sich am Kleiderschrank der Oma bedienen, sich, glücklich und zufrieden, in den ausladenden weißen Kleidern im Spiegel betrachten und endlich mal schön finden.

Genrefluides Theater für eine genderfluide Figur

Kim de l’Horizons Text, der vor tollen Sätzen strotzt ("Lass mich deine Lustzwiebel sein"), ist ein starkes Plädoyer dafür, diese ganze Sache mit den zwei Geschlechtern doch bitte endlich mal etwas lockerer zu sehen. Das Thema ist natürlich auch der Grund, weshalb Ran Chai Bar-Zvi sich in der Inszenierung durch Genres switcht, bei Drag beginnt, Klamauk findet, ein wenig Tanz einbaut: Keine Zuschreibungen, genrefluides Theater für eine genderfluide Erzählerfigur. Nur leider: So clever und verschmitzt, wie die Inszenierung vielleicht gedacht ist, ist sie nicht. Auf eine emotionale Szene folgt ein Sparwitz folgt eine Tanzszene, bei der eine große Treppe auf die Bühne gerollt wird. Dass zur Orientierung ständig in Filmmanier Musik als Stimmungsverstärker eingesetzt wird, ist auch nur bedingt hilfreich.

Die Inszenierung erzählt Kim de l’Horizons Geschichte auf einer anderen Ebene nach und unterbricht dabei immer wieder den Erzählfluss. Sie hat ihre Stärken: Olympia Bukkakis nimmt das Publikum in der Drag-Show für sich ein, und ja, auch Sparwitze können witzig sein. Nur fügt sich das alles nicht zusammen – während die Erzählfigur nach einer Identität für sich sucht, sucht die Inszenierung nach einer eigenen. Und findet sie am Ende nicht.

Blutbuch
Von Kim de l’Horizon
Regie, Bühne und Musik: Ran Chai Bar-zvi, Bühne Mitarbeit: Margarete Albinger, Kostüme: Rahel Künzi, Video: Pata Popov, Dramaturgie: Michael Letmathe.
Mit: Olympia Bukkakis, Fabian Dott, Nils Rovira-Muñoz.
Premiere am 15. Dezember 2023.
Dauer: Zwei Stunden, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

"Am Ende folgen minutenlanger, tobender Applaus und Standing Ovations", berichtet Svenja Estner im NDR (16.12.2023). Das Theaterstück "Blutbuch" könne für sich selbst stehen. "Aus dem Stoff, aus dem Leben von Kim de l'Horizon gewebt und durch die Erlebnisse der Schauspielenden angereichert, schafft es die Aufführung für einen Moment, dass das Publikum und die Darstellenden zu einer Community verschmelzen."

Monologische Texte auf mehrere Sprecher:innen aufzuteilen und so "Multiperspektivität zu suggerieren", beobachtet Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (17.12.2023) als eine "merkwürdige Vorliebe des zeitgenössischen Theaters". Das Hannoveraner "Blutbuch" macht hier keine Ausnahme: Die drei "Kims" auf der Bühne inszeniert Ran Chai Bar-zvi "wie eine verschworene Gemeinschaft mit gleichen Zielen, Absichten und Kostümen", bemerkt Briegleb: "Das entspricht nicht wirklich der Atmosphäre des isolierten Kampfes um Selbstbestimmung, von dem das Buch handelt." Zwar ließen einzelne Szenen "die Zerrissenheit zwischen fremden Ansprüchen und eigenen Vorstellungen in ihrem universellen Charakter" nachempfinden, doch bleibe "dieser Abend über das Non-Binäre im Kern doch recht eitel".

Kim de l’Horizons Text sei "ein Aufschrei, eine Anklage und eine Befreiung", er richte sich gegen den "Kokon aus Schweigen, Scham und Scheinheiligkeit" – und darin folge ihm das Theater, schreibt Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (18.12.2023). Nach Verzögerungen in Zürich, wo man sich die Uraufführung gesichert hatte, komme Hannover nun zuerst zum Zug. Ran Chai Bar-zvi, der zusammen mit Michael Lemathe die Spielfassung geschrieben hat, präsentiere kurze Szenen, in denen es vornehmlich um Fragen des Begehrens gehe, sowie anklagende, fragende, verzweifelte Monologe, die vom queeren Leben in der Gegenwart handelten. Der Regisseur bringe all diese Stränge mit viel Stilgefühl und einem guten Gefühl für Timing zusammen. Einige Kürzungen hätten gut getan, so Meyer-Arlt, aber "die Inszenierung und eigentliche Uraufführung ist dem Buch sehr gerecht geworden".

In den kurze Szenen gehe es "vornehmlich um Fragen des Begehrens geht, sowie anklagende, fragende, verzweifelte Monologe, die vom queeren Leben in der Gegenwart handeln", so die Neue Presse aus Hannover (18.12.2023). Ran Chai Bar-zvi bringe das "mit viel Stilgefühl und einem guten Gefühl für Timing zusammen". "Blutbuch" sei ein ungewöhnliches Buch mit drastischen Elementen, vielen spannenden Perspektivverschiebungen, erstaunlich poetischen Passagen und dem merklichen Bestreben neu und anders zu erzählen. "Die Inszenierung und eigentliche Uraufführung ist dem Buch sehr gerecht geworden."

"Dieses ausufernde 'Blutbuch' auf eineinhalb Stunden einzukochen, ist natürlich ein Unterfangen, das dann doch im Widerspruch zu der verästelten Erzählung steht", schreibt Andreas Schnell im nd (21.12.2023). "Sehenswert ist der Abend dennoch, auch wenn ihm am Ende vielleicht ein wenig die Puste ausgeht. Wo das Buch bisweilen ermüdet, sind hier wesentliche Aspekte und Erzählstränge sichtbar, machen Lust, sich noch einmal in den Text zu vertiefen."

 

 

Kommentare  
Blutbuch, Hannover: Sehenswert
Glückwunsch zu der gelungenen theatralischen Umsetzung des Buches!!! Es ist immer ein schwieriges Unterfangen, eine Roman auf die Bühne zu bringen - hier ist eine super Inszenierung gelungen. Das Publikum hat das genauso empfungen, sonst wäre so ein rauschender Applaus wohl nicht erfolgt. Glückwunsch auch an die tollen Schauspieler. Dank dem Schauspiel Hannover für die Beschäftigung mit der Theamatik, vielleicht hätte dies schon viel eher erfolgen können. Nachdenklich das Theater zu Verlassen und mehr Verständnis für betroffene Gruppen entwickelt zu haben, was kann Theater mehr erreichen? Absolut sehenswert!
Kommentar schreiben