Aufstand der Wurzen

14. Januar 2024. Eine Klassiker-Überschreibung der härteren Sorte: Sivan Ben Yishai nimmt sich Henrik Ibsens einhundertvierzig Jahre altes Emanzipationsstück "Nora" vor und jätet aus, kompostiert, räumt ab. Aber ist das eine gute Idee?

Von Michael Laages

"Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert" von Sivan Ben Yishai in Hannover © Kerstin Schomburg

14. Januar 2024. Im Schreiben wie im öffentlichen Auftreten offenbart die israelische Dramatikerin Sivan Ben Yishai immer mal wieder ziemlich viel Lust an der Zerstörung. Als sie vor einiger Zeit zum Beispiel die Eröffnungsrede hielt beim "Studio Junge Regie" der Hamburger Körber-Stiftung im Thalia Theater, erklärte sie dem staunenden Publikum, dass all das, wofür junge Regisseurinnen und Regisseure, ja Theatermenschen überhaupt, Zeit und Energie des eigenen Lebens verbrauchten, letztlich völlig überflüssig sei, und dass das Theater, wie es ist und mehr oder weniger funktioniert, eigentlich abgeschafft gehöre.

Jetzt durchzieht auch Ben Yishais Ibsen-Analyse anhand der klassischen "Nora" ein ähnlich vernichtendes Kalkül – im Grunde sollte der Theater-Komplex, in dessen Zentrum das gut 140 Jahre alte Emanzipationsmodell der Marke "Nora" steht, komplett, so tief wie möglich und für alle Zeiten in der Erde vergraben und der Zersetzung preisgegeben werden.

Wie an einem toten, verfaulten Tier sollten Würmer und Maden das finale Werk verrichten – weg damit, und neues Leben her! Vermutlich auch neue Theatertexte anstelle der kompostierten alten; selbstbewusst wie immer klingt Sivan Ben Yishai dabei so, als könne "Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert" Teil dieser neuen Theater-Epoche sein. Oder zumindest den Übergang markieren.

Alles auf Null

Das ist der gedankliche Über-Überbau; und von Beginn an legt Noras Jugendfreundin Christine (an der sich im Stück der Konflikt um Noras Ausbruch aus der eigenen sozialen Familienwelt kristallisiert) diese Spur aus – alles müsse zurückgefahren werden auf Null, um neu beginnen zu können: mit dem Denken, dem Leben, dem Bewusstsein menschlichen Lebens.

Tatsächlich aber ist Ben Yishais Spiel-Ansatz im Umgang mit Ibsens Klassiker von 1879 viel einfacher – die Autorin will sich das Personal im Stück genauer angeschaut haben, genauer: die Reihe der Bediensteten im Hause Helmer.

Nora KerstinSchomburg2Ibsen-Figuren in die Enge getrieben: das Ensemble im Bühnenbild von Katja Haß © Kerstin Schomburg

Allzu genau ist sie dabei allerdings nicht vorgegangen; eher selektiv. An den beiden Männern etwa, die Noras zerfallenden Lebensentwurf begleiten, Freundin Christines ewig unerfüllter Jugendliebe Krogstad und Hausarzt Rank, zeigt Ben Yishai keinerlei Interesse; sie sind wohl auch nicht wirklich das, was die Autorin als "Nebenrollen" empfindet.

Hingegen nimmt sie den "Paketboten" ins Visier, der am Beginn des Originals (als "Stadtbote") Frau Nora die Weihnachtsgeschenke anliefert und dafür als Bezahlung "50 Öre" einfordert; Nora gibt ihm das doppelte, eine Krone, Trinkgeld inklusive … Eine eigene Geschichte hat Ibsen für die Figur nicht vorgesehen. In der überwiegenden Mehrzahl der Inszenierungen wird sie gestrichen. Hier aber streitet der Bote ums Überleben und um die Ehre: als "professioneller Schauspieler", der für eine Mini-Szene, für zwei Worte und vier Silben, Abend für Abend ins Theater kommt und auch nicht eher wieder nach Hause darf, bevor nicht der letzte Vorhang über dem letzten Applaus für Hauptfigur Nora gefallen ist.

Nora als Theater-Unternehmerin

Ein Hundeleben im Theater – Ben Yishai führt mit dieser Geschichte vom Kampf ums Selbstwertgefühl auch zurück in die Zeit der Uraufführung: Die Darstellerin der Nora wird hier zur Unternehmerin, die Ibsens Emanzipations-Phantasie zu vermarkten beginnt. Der Darsteller von Gatte Torvald Helmer ist zwar Teil vom Geschäftsmodell, spielt aber eigentlich keine Rolle; besser: eine Nebenrolle; auch er.

Indem sie Ibsens Nora-Figur in Gestalt der Nora-Darstellerin zur Kultur-Kapitalistin überformt, ist natürlich auch die Emanzipation im Eimer – in einer zentralen Szene beginnt der Paketbote ernsthaft die Aufführung zu stören. Nora, der Star, behauptet nun, vom Kollegen Darsteller angegriffen worden zu sein und ruft die Polizei. "MeToo" als perfide Waffe – die zerstörte Frau (die in Ibsens Original zum Fanal der Emanzipation werden soll) ist jetzt zur Täterin geworden, zur Zerstörerin fremder Existenzen; von der (vielleicht) "Feministin" zum menschenverachtenden Monstrum. Und es braucht nur noch eine weitere Nebenrollen-Geschichte, um den Aufstand der Kleindarsteller zu initiieren.

Nora KerstinSchomburg 1Streiten für die Ehre der Nebendarsteller: Irene Kugler, Tabitha Frehner, Nellie Fischer-Benson, Torben Kessler und Sebastian Nakajew © Kerstin Schomburg

Annemarie, das alte Kindermädchen, das schon Nora selber betreute und sich nun Noras Kinder kümmert, hat eine extrem dramatische Lebensgeschichte – sie verließ das eigene Kind, die eigene Familie, um bei Helmers "in Dienst" zu treten. Aber auch das ist kein Thema für Nora, die Theater-Unternehmerin.

All diese Nebenrollen, auch die Haushaltshilfe Helene sowie eine Menge mehr an herbei imaginiertem Haus-Personal, von den Köchen bis zur Pilates-Therapeutin, streicht sie und schmeißt sie raus. Da besetzen die das Haus Helmer, das "Herrenhaus", das schon die ganze Zeit auf der Bühne von Katja Haß kreist. Immer, sagt Freundin Christine, habe die Geschichte vor allem von diesem Haus der Macht gehandelt – nun wird es besetzt und zerstört.

Nur im Zerstören produktiv

Der Aufstand der "Wurzen" (so nennt der Theater-Slang miniaturisierte oder stumme Rollen auf der Bühne) ist sicher eine starke, aber nicht wirklich durchdachte Idee. Denn wo führt sie hin? Hier schon mal zu keiner wirklich anderen Nora; die Kopie, sagt eine der Nebenrollen, ist sogar schlimmer als das Original … Und was bitte passiert, wenn demnächst alle Nebendarstellerinnen und Nebendarsteller eines großen Shakespeare-Dramas eigene Rollen-Profile beanspruchen? Wird dann auch dort nurmehr kompostiert?

Nicht mal der Nora-Komplex wird ja konsequent "umgeschrieben", siehe Krogstad und Rank. Dass Ben Yishai viele Kern-Motive der Nora-Fabel ignorieren wollen würde, war absehbar; aber Nora als Theater-Unternehmerin, die Mitarbeiter entlässt, ersetzt Ibsens Dramaturgie halt nur sehr bedingt. Ben Yishais Phantasie ist hier nur im Zerstören produktiv. Es läuft auf der Bühne zudem ziemlich ungeordnet durcheinander.

Die Uraufführung von Marie Bues in Hannover ist zweifellos stark in der Formung des Kollektivs und schmerzhaft in der Demontage des Heldinnen- und Mythen-Modells Marke Nora – aber der knappe Abend zerfasert zusehends und scheint bald nur noch aus lauter losen Enden zu bestehen. Überall ist viel Behauptung, aber szenisch sichtbar nicht viel mehr als Oberfläche. Vielleicht ist diese Nora-Variante ja kein wirklich starkes Stück; der nächste Versuch wird demnächst am Deutschen Theater in Berlin zu begutachten sein.

 

Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert
von Sivan Ben Yishai
Uraufführung
Regie: Marie Bues, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Sophie Klenk-Wulff, Musik: Christine Hasler, Video: Mirko Borscht, Bewegung: Bahar Meric, Licht: Hendrik Möschler, Dramaturgie: Nora Khuon.
Mit: Florence Adjidome, Cino Djavid, Nellie Fischer-Benson, Tabitha Frehner, Torben Kessler, Irene Kugler, Birte Leest, Sebastian Nakajew.
Premiere am 13. Januar 2024
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

Mit "hinreißender Leichtigkeit" verhandelten Ben Yishai und Bues "derzeit so opportune Themen" wie Diversität, weiße Privilegien oder intersektionalen Feminismus, schreibt Stefan Gohlisch in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (15.1.2024). Die Autorin krieche in die letzten Winkel von Ibsens Herrenhaus, das für ein patriarchales System stehe, "inspiziert Ecken und Kanten, wirbelt Staub und Muff auf". Am Schluss werde eine Utopie von Gleichberechtigung und Nächstenliebe greifbar.

Das Ben Yishai'sche Herrenhaus entfalte nur geringen Sog, diagnostiziert Michael Kaminski in der Deutschen Bühne (14.1.24). "Schon klar, dass im adretten Puppenheim auch weibliches Bürgertum Herrschaft ausübt. Der faszinierende Gedanke freilich, es zum Einsturz zu bringen, auf dass aus seinen Trümmern und Verwesung das neue Leben in einer klassenlosen und von den Zwängen des Kapitalismus freien Gesellschaft aufkeime, bleibt blass." Regisseurin Marie Bues nähere sich in ihrer Umsetzung des Textes "einer Sozial- und Politrevue", so der Kritiker weiter. "Das hat etwas vom Agitprop sozialistischer US-Musicals der 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts à la Marc Blitzstein."

 

Kommentare  
Nora / Herrenhaus, Hannover: Frisch und intelligent kompostiert
Als die Hamburger vor 130 Jahren partout nicht akzeptieren wollten, dass Nora am Ende nicht nur den Ehemann, sondern auch noch ihre Kinder verlassen sollte, haben sie etwas übersehen. Wenn Nora bleiben würde, müsste ja auch ihre Kinderfrau weiterhin getrennt von ihren eigenen Kindern im Haus von Thorvald und Nora Helmer weiterleben. Doch an das Kindermädchen (wunderbar gespielt von Irene Kugler) wird – kümmert sich keiner. Sie ist – wie die anderen Service-Leute, Dienstboten, Angestellten – die auch heute noch vielen emanzipierten Frauen und „liberalen Haushalten“ das Leben erleichtern – unsichtbar. Sie spielen Nebenrollen, sind – so glauben die Herrschaften – im Grunde verzichtbar, sind austauschbar, häufig auch noch „undankbar“. In der bemerkenswerten Neu-Schreibung von Nora´s Puppenheim begehren sie auf. Sie wollen gehört, sie wollen sichtbar werden. Sie besetzen das Puppenheim. Als Torben Kessler, der in Hannover gegen die Wegrationalisierung der kleinsten Nebenrolle („ein Bote“) kämpft, der erfolgreichen Nora zu sehr auf die Pelle rückt, dreht sie durch. Die zu Ibsens Zeiten übliche „Hysterie“ wird hier zu einem woken und feministischen Aufschrei. Sie fühlt sich von der toxischen Männlichkeit bedroht. Und das auch noch in ihrem eigenen Haus. Hier gibt es Szenenapplaus bei der Hannoveraner Premiere. Zu Recht? Missverständlich? Warum kommt dieser hysterische Monolog so gut an? Bitte selber hingehen. Sivan Ben Yishai hat im Auftrag des Schauspielhauses Hannover ein intelligentes, freches und unterhaltsames Stück geschrieben. Keine x-te Ibsen „Überschreibung“. Das bringt nichts (mehr). Nein, neu geschrieben, frisch kompostiert.
Nora / Herrenhaus, Hannover: Anderer Blick
Michael Laages charakterisiert Stück und Inszenierung als „Aufstand der Wurzen“, doch dann verlässt er die von ihm selbst gelegte Spur, nämlich genau diesen politischen Akzent zum Ausgangspunkt der Rezension zu nehmen und thematisiert statt dessen Sivan Ben Yishai poetologischen Angriff auf das herkömmliche Theater. Davon ausgehend kritisiert er Stück und Inszenierung. Wo käme man denn hin, wenn etwa Shakespeares Nebendarsteller „eigene Rollenprofile beanspruchen“ würden. Ein kleines Lob für das Ensemble ringt Laages sich immerhin noch ab.
Ich werfe einen anderen Blick auf Stück und Inszenierung. Das Schauspiel Hannover war ausverkauft, ein buntes und vielfältiges Publikum quer durch alle Altersgruppen erlebte einen anregenden und lebendigen Theaterabend, der lediglich zum Ende hin etwas deklamatorisch deklarativ wurde.
Natürlich ist es keine neue Idee von Ben Yishai, Figuren in einem Stück gegen diejenigen auftreten zu lassen, die diese Figuren geschrieben haben. Etwa bei Prirandello oder Woody Allen. Hier wird dieser Ansatz noch erweitert, indem der Figur „ein Paketbote“ und dem sie verkörpernden Schauspieler (als zweite Figur) breiten Raum gegeben werden. Torben Kessler gestaltet diese Figuren körperlich höchst intensiv aus. In seiner Karikatur der um ihre zwei Worte ringenden Figur des Schauspielers ist zugleich immer dessen Leiden an seiner Existenz als in prekären Verhältnissen arbeitender Mensch zu spüren.
Die anderen Figuren, die Ben Yishai aufgreift und überschreibt, verdeutlichen ihre marginale Existenz, indem sie ihre Auftritte mit Hinweisen auf die Regieanweisungen und die Seitenzahlen in einer Textfassung Ibsens herausstellen. Diese Figuren haben keine Biografie, sie sind wenig mehr als Staffage und Stichwortgeber für Helmer und Nora.
Immer wieder wird deutlich, dass Noras – und Helmers – Existenz abhängt von der Ökonomie ihres „ganzen Hauses“, von der Care Arbeit der Namenlosen. Und diese prekären Existenzen und marginalisierten Figuren revoltieren.
Natürlich ist es nichts Neues zu erfahren, dass Frauen aus marginalisierten Verhältnissen für die Familien in den Oberschichten der Zentren arbeiten. Das gilt etwa für Filipinas, die die Kinder der europäischen Expats in Asien und in den Golfstaaten betreuen und deren eigene Kinder zu Hause zurückbleiben müssen.
Hier ist es Annemarie, das siebzigjährigen „Kinder-MÄDCHEN“ der Helmers. Irene Kuglers intensiv ergreifende Darstellung dieser Figur geht weit über das Stück hinaus.
Und dann öffnet Ben Yishai eine weitere Ebene. Nora als feministische Ikone – Laages spricht von einem „gut 140 Jahre alte[n] Emanzipationsmodell“ wird als Erfolgsstück auf den Bühnen der Welt herausgestellt. Und ein derartiger Erfolg auf den Märkten verlangt unternehmerische Logik, so dass Nora zur Unternehmerin wird, die im Konfliktfall auch ihre „Mitspieler“ entlassen "muss".
Markant die Passage, in der Nora, ringend mit den Bezeichnungen, von den „Dienern“ oder „Bediensteten“ sich zu der Formulierung von den „Dienstleistern“ vortastet. „Haushaltsnahe Dienstleistungen“ heißt das in der Steuererklärung.
Birte Leests Nora zeigt insbesondere in ihrer Rolle als Unternehmerin sehr hohe Präsenz, ein großes Maß an Nuancen in ihrer Ausdrucks- und Gestaltungskraft. Die drei hier namentlich erwähnten Schauspielerinnen und Schauspieler sind Teil eines achtköpfigen Ensembles, das mit großer Präzision und großer Spielfreude auch und besonders in den chorischen Passagen Stück und Inszenierung zu einem Ereignis werden lassen. Selbstverständlich werden die Schauspielenden im Programmheft nicht mit ihren Rollen, sondern alphabetisch als Ensemble herausgestellt.
Der Abend zeigt das Potenzial eines Stückes, das hinter den Kulissen des Dramas "Nora" auch die zugrundeliegende "Labora" betrachtet – ein sehr bemühtes Wortspiel, ich weiß.
Nora / Herrenhaus, Hannover: Etwas Sauertöpfisches
Herr Laages, ich freue mich oft über Ihre Kritiken. Aber diesmal sehe ich etwas Sauertöpfisches in ihrem Text. Ja, es gibt viel zu viele gegenwärtige Überschreibungen, die arrogant und naiv sind. Aber Frau Ben Yishais Text ist keine erhabene Geste, sondern er geht der Vorlage fundiert nach. Der Abend ist wunderbar dramatisch und heiter. Gratuliere.
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