Scully und Mulder im Malersaal

von Alexander Kohlmann

Hamburg, 18. September 2016. Das nackte Gehirn liegt in einer Schale mit Flüssigkeit und lebt. Solange es mit einer Nährstofflösung und mit Kochsalz versorgt wird, stirbt es nicht, erklärt die Neurobiologin Irini Skaliora nüchtern. Wenn der Körper längst gestorben ist und man dann mit einem unendlich feinen elektronischen Messer das Gewebe in verschiedene Schichten zerschneide, seien sogar Aktivitäten messbar. Wie kommunizieren die Zellen miteinander? Was für komplexe Strukturen und Verbindungen entstehen im Gehirn ohne Körper? Ob sie schon einmal probiert habe, LSD in die Schale mit dem Solo-Hirn zu kippen, will an dieser Stelle der Zweifler Felix Hasler wissen. Nein. Schade. Schon Gehirne mit Körper melden unter Drogeneinfluss ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Da wäre es doch spannend gewesen zu erfahren, wie das bei einem Gehirn ohne Körper aussieht – Bewusstsein pur im Drogenrausch?

Im Operationssaal

Zum Glück handelt es sich bei den Organen, die Irini Skaliora auf den Videobildern seziert, nur um Mäusehirne. Die drei Spieler auf der Bühne aber sind, wie fast immer bei Rimini Protokoll, echte "Experten des Alltags". Unter beweglichen OP-Lampen und mittels ausfahrbaren Leinwänden spüren sie im leergeräumten Malersaal der Frage nach, wie unser Bewusstsein funktioniert: Was passiert im Gehirn, wenn wir "ich" sind? Konsens herrscht darüber, dass es die eine objektive Wahrnehmung eines Ereignisses nicht gibt. Das Gehirn montiert immer und fügt unsere Sinneseindrücke wie in einem Puzzle zusammen.

Während Skaliora von ihren Mäuse-Hirnen erzählt, bauen ihre beiden Mitspieler vor einer Kamera eine Realität zusammen. Ihren Hörsaal an der Uni, die Labortische, sie selbst in einer kleinen Papier-Kulisse des Malersaals – alles groß projiziert auf eine Leinwand, die von der Decke herunter fährt. Später springt Skaliora vor einer Greenscreen-Wand in eine künstliche Realität. Wie eine Mikrozelle kann sie so in persona die bunten Verknüpfungen des Mäusehirns untersuchen. Erforschen, wo es blinkt, wie die Zellen miteinander Kontakt aufnehmen – und komplexe Systembilder erstellen. Aber ist das alles dann schon die Erklärung? Für unsere Träume und Gedanken? Für das Bewusstsein?

brainprojects18 560 christian bartsch uIrini Skaliora und Felix Hasler in der schönen neuen Welt © Christian Bartsch

Felix Hasler glaubt nicht daran. Der Neurobiologie-Skeptiker verwickelt sich immer wieder in respektvolle Wort-Scharmützel mit seiner Bühnenpartnerin: Wissen wir das wirklich? Ja, nein, vielleicht. Dass auch seine eigene Biografie, so wie er sie selbst vor Augen sieht, nur das Resultat einer Konstruktion ist, bezweifelt dagegen niemand. Vor der kleinen Kamera wird der Scherenschnitt des beschaulichen Liechtenstein aufgebaut. Hasler beamt sich per Greenscreen in seine Heimat, wo er Freude daran gefunden hat, mit bewusstseinserweiternden Substanzen zu forschen. Einmal sei einer seiner Probanden nach einem Test aus dem Kernspintomograph gefahren worden und habe berauscht berichtet: "Ich habe gerade Gott gesehen." Aufgeregt habe Hasler die Aufnahmen durchleuchtet, "doch die Hirnaktivitäten waren absolut normal." Gott zeigte sich nicht unter den Bedingungen der wissenschaftlichen Forschung. Eine Erkenntnis ist das, über die die Kollegin Skaliora dann doch mal lachen muss, an diesem Abend, dessen Erkenntniswert allgemein erstaunlich dünn ist.

Fast alles, was die beiden Wissenschaftler berichten, weiß, wer die in schöner Regelmäßigkeit im "Spiegel" und anderen Magazinen erscheinenden populärwissenschaftlichen Abhandlungen zur Hirnforschung verfolgt hat – Hirnforschung ist "in" in unserer post-religiösen Zeit. Auch der Versuch, den wissenschaftlichen Minimal-Diskurs mit einem persönlichen Einzelschicksal zu kontrastieren, erscheint seltsam aufgesetzt. Lobna Allamii stellt sich selbst als Ikone wider Willen vor. Bei den Protesten im Gezi-Park erlitt die junge Frau 2013 schwerste Hirnverletzungen, als Polizisten mit Tränengas-Patronen in die Menge schossen. Lange lag sie im Koma und musste nach ihrem Erwachen von der Sprache bis hin zu normalsten Alltagsdingen alles neu erlernen. Ihre Schilderungen berühren – und sie würden das auch ohne den Papp-Nachbau des Gezi-Parks vor der Mini-Kamera. Die Fragen der beiden Wissenschaftler an die Patientin erscheinen dagegen seltsam unmotiviert: "War das ein Schicksalsschlag? Woran hast Du dich erinnert?"

Es gibt Menschen, die führen mit einem halben Gehirn ein komplett normales Leben. Ein Beamter in Frankreich hat praktisch gar kein Gehirn und lebt offenbar ohne besondere Auffälligkeiten. Warum? Das wissen wir nicht. Ob wir die Antworten auf diese und andere Fragen denn unbedingt immer im Gehirn suchen müssen, fragt Skeptiker Hasler ganz zum Schluss. "Aber wo sollen wir denn sonst suchen?" antwortet Skaliora. Sympathisch ist es durchaus, wie die beiden Helden des Alltags streiten: Mulder und Scully im Malersaal.

brainprojects23 560 christian bartsch uLobna Allamii sucht die richtigen Pillen © Christian Bartsch

Für eine zweistündige Performance irgendwo zwischen ARD-Bildungsprogramm und GEO-Spezial fällt der Erkenntnisgewinn dann allerdings doch ein wenig mager aus, vor allem wenn man noch die faszinierend mehrdimensionale "Weltklimakonferenz" vor Augen hat, die Rimini Protokoll zuletzt am Schauspielhaus installierten. Ein ähnliches Übermaß an wissenschaftlichem Input und ästhetischen Gestaltungswillen hätte man sich auch für das Projekt Hirnforschung gewünscht.

 

Brain Projects
Konzept, Text, Regie: Helgard Haug & Daniel Wetzel
Bühne: Heike Gallmeier, Musik/ Komposition: Barbara Morgenstern, Dramaturgie: Jörg Bochow, Video: Marc Jungreithmeier, Video-Animation: Grit Schuster, Recherche/ Dramaturgie-Assistenz: Linn Günther.
Mit: Lobna Allamii, Felix Hasler, Irini Skaliora.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Mit filmtechnischen Bühnentricks wie Bluescreen und Computereinspielungen spielerisch aufgepeppt" addierten sich hier drei komplementäre Standpunkte "durch die netten Persönlichkeiten zu einem charmanten Geschichtenabend", der aber inhaltlich wenig interessante Fragen zu den alten Hirnkontroversen stelle, geschweige denn sie beantworte, schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (20.9.2016): "Gibt es einen freien Willen - und wo finden wir ihn in unserem grauen Zellenschwamm? Wo ist der Ort von Geist und Ich? Und woher kommt menschliches Bewusstsein eigentlich?" Für "die Generation von Schulkindern, die im Bewusstsein leben, dass es für alle relevanten Dinge eine App gibt", möge dieser Abend ein Einstieg ins erste Sachbuch sein. "Für jeden, der auch nur ab und an den Wissenschaftsteil einer Tageszeitung überfliegt, bietet er kein rechtes Brainwarming."

"'Brain Projects' ist der Versuch, die faszinierenden Erkenntnisse der Hirnforschung ebenso auf die Bühne zu bringen wie die grundlegenden Zweifel an diesen Erkenntnissen", schreibt Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.9.2016). Der Abend krümme sich "unter einer höchst artifiziell wirkenden Authentizitätsanmutung". "Brain Projects" sei "wie die Sendung mit der Maus für Fortgeschrittene."

"Die ambitionierte Rimini-Recherche hat nicht die Spur einer Fabel und führt trotz aller Information zu keinerlei Erkenntnis, die nicht auch nachzulesen wäre", ist auch Michael Laages im Deutschlandfunk (19.9.2016) streng.

"'Brain Projects' beginnt wie eine etwas dröge wissenschaftliche Lehrstunde, weitet sich dann allerdings zum Krimi", schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (20.9.2016). Spannend werde es durch offen ausgetragene Konflikte zwischen den beiden Neuroforschern und die dramatische Geschichte von Lobna Allamii. Insgesamt bleibe der Abend aber "ästhetisch eher spröde". Trotzdem ist Stiekeles Fazit: "Das Rimini Protokoll hat dieses komplexe Thema faszinierend auf die Bühne gebracht."

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