Das 13. Jahr - Schauspielhaus Hamburg
Verwunschenes Dorf
22. Oktober 2023. Fremd werden im Erinnern an das eigene Ich – SIGNA, das dänisch-österreichische Performance-Kollektiv, simuliert eine Welt bewohnt von sehr seltsamen Menschen. Und bildet seismografisch den zerbrechenden Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ab.
Von Michael Laages
22. Oktober 2023. Wem wird das schon gelingen: sich vorzustellen, wer man im Alter von 12 Jahren war? Literatur und Philosophie sind reich an derlei Formen des Erinnerns. In einer abgelegenen Hamburger Industrie-Brache unternimmt jetzt die Gruppe um das in Kopenhagen ansässige Theaterpaar Signa und Arthur Koestler einen praktischen Versuch der Suche nach der verlorenen Zeit.
Wir, das Publikum, vierzig Menschen jeweils vom frühen Abend bis Mitternacht, werden zu Mitspielern in einer "Simulation". Mit dem Bewusstsein der Zwölfjährigen, die wir einmal waren, werden wir zu Gästen von kleinen Familien in sehr kleinen Häusern – in einem Dorf weit ab von der bewohnten Welt.
Gruppenausflug ins Niemandsland
Noch nie in SIGNA-Produktionen war der Raum derart speziell. In eine alte Industriehalle hinein haben Lorenz Vetter, Signa Köstler und Tristan Kold tatsächlich eine ganz eigene Welt gebaut: Zehn Häuser mit winziger Wohnküche und Schlafraum dahinter, gruppiert um eine Art Dorfplatz, in deren Mitte ein Felsblock liegt. Drum herum ist düstre Bergwelt zu erahnen, die immer im Nebel liegt. Hierher – so will es die Simulation – wurden wir verschlagen, wir Zwölfjährigen, die eigentlich einen Gruppenausflug zum "Hasenhof" machen sollten. Irgendwo im Gebirge bleibt plötzlich der Bus stehen, der Fahrer verschwindet. Ausgesetzt und ganz auf uns allein gestellt, machen wir uns auf die Suche nach Irgendwas im Niemandsland – und landen im Zehn-Häuser-Dorf. Jeweils vier von uns werden auf die kleinen Häuser und die Familien darin verteilt.
In den Buden ist es quälend eng. Jeweils ein Erwachsener, Mann oder Frau, Mutter oder Vater, lebt hier mit mehreren Kindern. Eins ist sehr lebendig, zwei andere sind (im Fall des Hauses zum Beispiel von Samuel) Puppen, vermutlich physisch oder psychisch beeinträchtigt, in jedem Fall pflegebedürftig. Gastfreundschaft ist diesen Menschen heilig, wie armselig sie hier auch leben, seit sie vor drei Jahren (sagt Samuel) auf ähnliche Weise in dieses Dorf verschlagen wurden bei einem Ausflug mit Eltern, der mit einer ähnlich rätselhaften Bus-Katastrophe endete.
Trauma und ritueller Dorfgesang
Damals war hier alles verwaist, nur der besonders sonderbare "Erwin" lebte hier als einziger Bewohner – jetzt ist er als Dorfältester die lokale Autorität. Am Schluss erfahren wir, dass er wohl nach einem traumatischen Liebes-Aus das Dorf als "verflucht" empfunden haben muss. Gelegentlich kommt eine Trödlerin vorbei und verteilt grob verpackte Knochenstücke, die die Bewohner ihrerseits als "Fluch" empfinden. In rituellem Dorf-Gesang sollen wir alle im heraufziehenden Sturm die "Habergeiss" austreiben – aber vielleicht war das ja auch nur Erwins Ex-Geliebte, die zum Schluss auf dem Stein am Dorfplatz sitzt und ein Lied zur Gitarre singt.
Damit ist eine Art dörflicher "Überbau" beschrieben. Tatsächlich bekommen wir es mit den Familien zu tun, jeweils vier von uns mit immer nur einer. Gelegentlich werden auch Besuche bei Nachbarn gemacht, oder die Leute von nebenan schauen mal rein. Immer ist beträchtliche, ja tendenziell gefährliche Spannung zwischen den Familien zu spüren, einige gelten gar als "böse". Eine "Susu" streicht als fauchender Geist um die Hütten. Die Häuser sollten möglichst nur in Gruppen verlassen werden, und immer muss jemand in der Gruppe eine Flöte dabei haben: um hörbar zu sein und wiederauffindbar im allgegenwärtigen Nebel – der übrigens zu "Nebelfieber" führt, sagt Samuel. Unter anderem deshalb sind die Puppen bei ihm im Schlafraum so krank. Das Zeitgefühl kommt mehrheitlich völlig abhanden, weil alle Handys (also auch die Uhren) an der Garderobe anzugeben waren.
Erstmals in Arbeiten von SIGNA sind Mitglieder aus dem Schauspielhaus-Ensemble dabei. Samuel, der Gastgeber in unserem Haus, ist Lars Rudolph. Er weist sich als Friedhofsgärtner aus, trinkt viel und macht Musik mit Harmonium und Kornett. Zwei Partnerinnen hat er verloren, und was ihm an Liebe übrig blieb, projiziert er ziemlich übergriffig auf Tochter Angelina, gespielt von Luna Worthmann, einer der Entdeckungen, von denen es in Signas eigenem Ensemble immer sehr, sehr viele gibt.
Angelina sorgt für eine Katastrophe – mitten in der Nacht lockt sie uns zu einer Geisterbeschwörung in den Nebel hinaus; zu einem kindlichen Ritual, wie es Zwölfjährige womöglich tatsächlich erfahren haben mögen. Ärgerlicherweise lässt sich Ramona, das Medium der Séance, nicht wieder zurückholen. Angelina hat den Spruch für die Entzauberung vergessen. Oder nie gewusst. Als wir wieder zu Hause sind (und so tun, als sei nichts gewesen), gellt der Schrei der Kinder durch das ganze Dorf.
Soziale Fremdheitserfahrung
Die Begegnung mit den Familien bleibt natürlich problematisch – denn sie sind ja derart prekär, heruntergekommen und bitterarm gezeichnet, dass wohl kaum irgendjemand im Theaterpublikum wirklich Parallelen zum eigenen Erleben im Alter von 12 Jahren ziehen kann. Das soziale Fremdsein bleibt fundamental für die einzelnen Besucherinnen und Besucher dieser Simulation. Die Empathie ist natürlich enorm – immerhin haben uns diese armseligen Kreaturen aufs Freundlichste in ihren tristen, armseligen Behausungen aufgenommen. Würden wir denn unsererseits Geflüchtete wie Samuel und Angelina, Ramona, Erwin oder die vorbeiziehende Trödlerin bei uns aufnehmen? Wohl kaum. Daran zerbricht gerade unser ehedem so friedliches Sozialgefüge.
Wie fast immer geht es dem SIGNA-Team um die Entgrenzung des Einzelnen in der Masse: Wohin gelangen wir im Bewusstsein unserer selbst, wenn wir in Situationen geworfen werden, die wir nur bedingt kontrollieren können? Dass wir uns als verlorene, aus der Welt gefallene Hänsel-und-Gretel-Kinder empfinden sollen, ist aber vor allem Mittel zum Zweck. Dafür wird einiges Brimborium an Simulations-Management aufgefahren. Per Lautsprecher wird das Fortschreiten der Tageszeiten angesagt, wobei die Bewohner der Simulation immer einfrieren, und stichprobenartig werden einzelne Gäste der Simulation nach eigenen Erfahrungen befragt. Die SIGNA-Truppe legt immer Wert auf geschlossene Räume; dafür mag die Firma "Lethe-Simulation" ganz nützlich sein – entscheidend sind die Begegnungen mit den simulierten Familien-Banden.
Gegen Mitternacht sorgt die Simulations-Struktur aber noch für einen sehr starken Moment – in das Ritual der "Entsimulation" stürmen zwei vom Simulations-Ensemble herein, sogar Erwin, der Dorfälteste … was wohl sagen soll: Die Simulation ist nicht (und ist vielleicht nie!) vorbei. Im Hintergrundrauschen unseres Alltags setzt sie sich fort, Tag für Tag, Nacht für Nacht, Familie für Familie.
Die Arbeiten von SIGNA sind immer auf irgendeine Weise seismographisch, wirken immer wie Katalysatoren verdrängten oder vergessenen Lebens. "Das 13. Jahr" wird sich wieder zum Ereignis entwickeln. Wer möglichst viele der Familien im verwunschenen Dorf kennenlernen möchte, ist auch mehrfach willkommen.
Das 13. Jahr
Performance-Installation von SIGNA
Konzept: Signa und Arthur Köstler, Regie: Signa Köstler, Bühne: Lorenz Vetter, Signa Köstler und Tristan Kold, Kostüme: Tristan Kold, Signa Köstler, Medien-Design: Arthur, Köstler, Martin Heise, Sound-Design: Christian Bo Janhansen, Dramaturgie: Sybille Meier.
Mit: Amanda Babaei Vieira, Hans-Günter Brünker, Cara Golisch, Ute Hannig, Sachiko Hara, Martin Heise, Daniel Hoevels, Kaspar Jöhnk, Lotte John, Minna John, Arthur Köstler, Signa Köstler, Tristan Kold, Tom Korn, Benita Martins, Mara Nitz, Josef Ostendorf, Denis Polec, Linn Reusse, Lars Rudolph, Lucie Rudolph, Agnieszka Salamon, Sonja Salkowitsch, Jolina Schick, Andreas Schneiders, Joelina Spieß, Bettina Stucky, Julie Stüven, Livia Szabo, Luisa Taraz, Luise Thiele, Lorenz Vetter, Lara-Marie Weine, Mareike Wenzel, Luna Wortmann, Marta Zonouzi.
Premiere am 21. Oktober 2023
Dauer: ca. 5 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.de
Man weiß nie so genau, was einen bei SIGNA erwartet, und gleichzeitig ahnt man, dass es nicht soviel Positives ist, so Katrin Ullmann im DLF Fazit (21.10.2023). Am Ende lande man nicht im Kinderheim, es werde simuliert, dass man im Bus dorthin fährt. Der Busfahrer verschwindet, man finde sich in einem Dorf wieder, wo man in eine Familie aufgenommen wird, mit dem man den Abend verbringt. "Das funktioniert streckenweise schon. Man taucht tatsächlich ab in diese Welt und ist verblüfft, dass fünfeinhalb Stunden so schnell rumgehen. Man fängt an mit ihnen zu leben, macht sich Sorgen um Walter, der Wutanfälle bekommt und oft traurig ist."
"Dem entbehrungsreichen Mangel-Leben ausgesetzt, mischen sich eigenes früheres Erleben mit einer sozial fremdartigen Erfahrung", schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (23.10.2023, €). Diese Bewohner seien, wie die von Ute Hannig mit Hingabe gespielte Mutter, bereit zu teilen. "Eine ideale Utopie der Mitmenschlichkeit ist es dennoch nicht". Dieses Dorf stehe exemplarisch für die helle, wie auch die dunkle Seite menschlicher Gesellschaft. Empathie und Fürsorge, Neid, Missbrauch, Gewalt, alles werde wie in einem Katalysator einmal durchexerziert. "In einer perfekt simulierten Welt, wie wohl nur Signa sie erschaffen kann."
Für ihre fünfte Inszenierung am Schauspielhaus Hamburg haben SIGNA eine gespenstische Szenerie installiert, so Pia Steinhaus in der Hamburger Morgenpost (23.10.2023). "In einer Halle auf dem ehemaligen ThyssenKrupp-Gelände funktioniert die Illusion eines abgelegenen Bergdorfs samt abergläubischen Hüttenbewohnern." Jede Situation halte Überraschungen bereit. Fazit: "Sensationeller, wenn auch anstrengender Abend – für leidenschaftliche Theatergänger ein absolutes Muss!"
Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (24.10.2023) schreibt über Signa: "Die stets liebevolle Detailarbeit ihrer Installationen und kollektiven Geschichten hat diesmal auch auf den Horror abgefärbt. Die Schrecken und Drohungen der Welt sind in dem Nebelheim auf geradezu freundliche Weise gemeinschaftsstiftend aufgelöst. Am Ende hat man seine neue Familie richtig lieb. Und ist traurig, wieder in die Welt hinaus zu müssen, wo einen keine Oma vor dem Bösen rettet."
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Schon in der Vergangenheit waren ein minutengenauer Wecker und eine schnelle Internetverbindung zum Vorverkaufsstart von SIGNA-Produktionen unentbehrlich, bei "Das 13. Jahr" waren indes alle Tickets binnen 20 Sekunden ausverkauft (die Wochenend-Termine noch deutlich schneller). Über die Anzahl von leer ausgegangenen Interessenten gibt ein kurzer Blick auf ebay Kleinanzeigen Aufschluss (auch über die exorbitanten Preise, die die Anhängerschaft zu zahlen bereit ist).
Einerseits ist dies zwar nachvollziehbar - bei lediglich 40 Teilnehmern pro Abend und 20 Vorstellungen werden die Produktion weniger Zuschauer sehen können als einen Abend im großen Saal des Schauspielhauses -, andererseits wäre dem Hamburger Schauspielhaus für die Zukunft zu raten, einen anderen, faireren Modus zur Ticketvergabe zu entwickeln; auch, dass laut Kartenservice bis zu 20 Tickets pro Vorstellung nicht in den Vorverkauf gehen sollen, scheint angesichts des deutschlandweiten Interresses an den wenigen SIGNA-Arbeiten fragwürdig. Dies gilt umso mehr, als die Zahl von Fans und Interessenten von Produktion zu Produktion eher zu- als abnehmen dürfte. Last but not least sprechen auch die mutmaßlich exorbitantenen Produktionskosten pro Ticket dafür, dass - wenn ein größeres Publikum aufgrund der Arbeitsweise und den rezeptionsästhetischen Prämissen von SIGNA schon nicht erreicht werden kann - zumindest bei der Ticketvergabe mit größtmöglicher Transparenz und Chancengleichheit vorgegangen wird.
Mehrmals hingehen? Ich hoffe Herr Laages kommt nicht auf die Idee, ein zweites Mal reinzugehen und nimmt jemand anderem den Platz „weg“. Frau Baier: lassen Sie es bitte nicht zu!
Und darf man erfahren: wieviele Karten sind an Kritiker, ans eigene Ensemble (Steuerkarten), an Honorationen (Ehrengäste, Freunde des Schauspielhauses usw.) und wie viele an Vollzahler gegangen?
Den aktuellen Preis finde ich daher absolut gerechtfertigt, letztes Mal kosteten sie nur etwa 30, das war zu wenig. Ich möchte nicht wissen, wie hoch die Produktionskosten tatsächlich sind und bin den unbekannten Sponsoren zutiefst dankbar, was für ein Erlebnis hier möglich geworden ist.
Was spricht eigentlich gegen eine Verlosung der Karten? Vll doch die fairste Möglichkeiten
zu erhalten sind.
Was soll die Veranstaltung bezwecken und wie lässt sich die Inszenierung mit Erkenntnisgewinn interpretieren?
Es gibt im Vergleich mit "Die Ruhe" Wiederkehrendes: Eine erfundene Geschichte (die Story über den Hasenhof hat keine mir bekannte Literatur- oder andere künstlerische Vorlage), die Teilhabe an einer seltsamen Gemeinschaft mit gemeinsamem Essen und Gesang und einer Zusammenkunft am Ende der Aufführung, das Ablegen der mitgebrachten Kleidung, einzelne Spielende, Berührungen, das Teilen von Privatem in einer öffentlichen Aufführung, die Nähe zu den Spielenden, die Aufteilung des Publikums in Kleingruppen, eine aufwändige Ausstattung u. a.
Hinter dem Aufwand könnte der Wunsch stehen, die "vierte Wand" zu überwinden, als Spielende_r in Kontakt mit dem Publikum zu kommen, sich zeitlich begrenzt anzunähern, ohne sich jemals auf Augenhöhe begegnen zu können. Die Inszenierung ließe sich daher als Reflexion über einzelne Bedingungen, unter denen Theater gespielt wird, deuten. Das intimere, exklusivere Setting wäre eine notwendige Voraussetzung, um eine Interaktion zu ermöglichen, die kathartisch wirken kann. Im Umkehrschluss: ein Theatersaal mit seiner strikten räumlichen Trennung zwischen Spielenden und Publikum wäre für die beabsichtigte Wirkung hinderlich.
Die Simulation "Das 13. Jahr" handelt u. a. auch von Angst (vor der Habergeis, dem Sturm, dem Nebel, ...), Tod, Verlust, Begehren oder Enge in einer Notgemeinschaft. Wir erinnern uns mehr oder weniger gut an das eigene dreizehnte Lebensjahr. Die Inszenierung fördert das Hineinversetzen des Publikums in erinnerte Zeit und das Wachrufen von Erlebtem. Sie ist aber kein Reenactment, kein Nachstellen von Ereignissen aus dem dreizehnten Lebensjahr, sondern wirft Fragen, u. a. nach der Genauigkeit der Erinnerung, der Bedeutung des Erinnerten für das Heute, nach Gefühlen, die Erinnerungen auslösen, oder auch nach dem Altern, dem Vergehen von Zeit, aus. Sie kann kathartisch wirken, weil das Erlebte in einen neuen Kontext, den der Aufführung, gesetzt wird. (Es gibt für unwillkürich Getriggertes während der Simulation Vorkehrungen.)
Fazit: Die Inszenierung ist nicht nur ein Ereignis, sondern bewegend. Die Exklusivität der Aufführungen halte ich für eine Voraussetzung, um eine gewünschte Wirkung zu erzielen, eine, die Spuren hinterlässt.