Vom Wunsch, Wald zu werden

20. November 2021. Aufgerufen, ihr zerstörerisches Menschsein hinter sich zu lassen, sind die Teilnehmer:innen von "Die Ruhe!". Im Natur-Therapie-Zentrum des für seine immersiven Performances gefeierten Kollektivs SIGNA lernen sie zu "verbaumen".

Von Michael Laages

Hingabe an den Wald als Pietá mit Bär: Simon Steinhorst in "Die Ruhe" © Erich Goldmann

20. November 2021. So. Durchatmen. Ein paar Stunden schlafen. Den Kopf möglichst leer räumen. Und nun die Erinnerung wachrufen – was ist geschehen gestern Abend im alten Post-Paket-Zentrum am Kaltenkircher Platz in Hamburg-Altona? Zwei Etagen gehören dort auf Zeit und bis ins nächste Jahr hinein den Akteurinnen und Akteuren des dänisch-österreichischen Kollektivs, das den Namen der Leiterin trägt – Signa, geborene Sörensen und aus Aarhus; mit Arthur Köstler aus Gmunden im Salzkammergut verbindet sie seit 2004 eine überaus kreative Partnerschaft, eine der Interessantesten überhaupt in Europa. Der Weg der Gruppe an deutschen Theaterhäusern hat in Meiningen begonnen und führte über Köln und Leipzig, Mannheim und Wien vor allem nach Hamburg, wo mit "Schwarze Augen Maria" und "Das halbe Leid" spektakuläre Lebens- und Leidenswelten entstanden sind, stets unter intensiver Beteiligung des Publikums; also beispielhaft immersiv. Wie intensiv sich jeder und jede im Publikum einlässt auf das Angebot von Signa, ist dabei ihm und ihr überlassen. Aber wer kann sich schon dem Signa-Sog entziehen?

Abschied von der Menschenwelt

Zu Besuch sind wir jetzt in Hamburg in einer Art Therapiezentrum. Unsere erste Station ist ein Liegeraum, und auf dem Weg dahin begegnen wir bereits merkwürdigen Menschen in weißgrauen Ganzkörper-Overalls mit Kapuze, die Äste in den Händen tragen. Körperlose Stimmen laden uns Liegende zum Therapie-Versuch ein. Die Klinik, zu der das Team ehedem gehörte, hat nach einem spektakulären Vorfall die eigene Behandlungsstrategie komplett geändert – und möchte uns nun den Weg zeigen, an dessen Ende wir "Die Ruhe" finden und alle Ängste, Leiden, Schmerzen und eben die andauernde Unruhe hinter uns lassen können. Zu ahnen ist, dass das eine Art Tod sein wird; aber die Ziele des Instituts überraschen dann doch.

DieRuhe 1 ErichGoldmann uNimmt Fühlung mit der Erde auf: Elise de Leede © Erich Goldmann

In sieben Gruppen auf je eine Leit- und Leidensfigur samt Betreuer verteilt, beginnen wir den Weg – und bekommen zunächst die gleichen weißgrauen Overalls verpasst wie die Patienten. Ich zum Beispiel folge mit vier anderen "Catina", die so fragil ist, dass sie eigentlich selber Führung und Stütze braucht bei der Wanderung durch viele Räume in zwei Etagen, die eher Krankenhaus-Fluren ähneln (wie übrigens vor zwei Jahren auch bei der dänischen Version von "Das halbe Leid" in Aarhus); sollte Catina stürzen in einem Anfall (von Schmerz, Trauma und Verzweiflung), bin ich beauftragt, ihr mit Hilfe eines Schnaps-Fläschchens wieder aufzuhelfen. Recht schnell wird die Strategie der Therapie an diesem magischen Ort kenntlich – "ganz bei uns selbst" ankommen sollen wir nach verschiedenen "Anwendungen", um dann aufzubrechen in den Wald. Dort werden wir uns (falls wir irgendwann dazu bereit sind) selber in Bäume verwandeln und Wald werden – uns also verabschieden von der Menschenwelt, die unsereins so schrecklich und unrettbar zerstört hat.

Laub-Menschen und verbaumte Erdlinge

Die Tiere werden uns helfen. Sie hatten auch den Insassen des Therapie-Instituts, Patientinnen und Patienten, Pflegerinnen und Pflegern den Weg gewiesen vor einiger Zeit – erst begannen die Aale aus dem Teich auf dem Institutsgelände die Flucht zu ergreifen und machten sich auf in den Wald; auch eine Katze wurde überfahren. Jetzt sind die Wesen des Waldes beste Freunde des Personals; Schnecken und Würmer, Fuchs und Bär … immer wieder begegnen wir Tieren auf unseren Wanderungen mit Catina. Bei und mit Fuchs und Bär lebt einer tatsächlich schon sehr lange ganz allein in einem richtigen, in die Post-Räume gebauten Stückchen Wald; die Psychose von "Ewald" (!) hat extrem viel zu tun mit der generellen Unfähigkeit zu sozialem Verhalten, speziell aber auch mit der Unfähigkeit im Umgang mit Frauen. Gemeinsam mit den Ensemble-Mitgliedern hat Signa für "Die Ruhe" so viel Text geschrieben wie vielleicht noch nie; kryptisch und sehr klar zugleich, und bei Laub-Mensch "Ewald" voll mitreißender Energie: Schmerz, Verzweiflung und Sehnsucht pur.

DieRuhe 3 ErichGoldmann uRingen um ihre Verwandlung: Franz-Josef Becker und Jaavar Sidi Aly © Erich Goldmann

In einem anderen Anwendungszimmer stehen, liegen und sitzen grauweiße Puppen zuhauf; eine sollen wir als unser "anderes Ich" erwählen. Hier zeigt jetzt auch Catina das eigene Trauma: Vergewaltigung, mit anschließender Abtreibung vermutlich. Wie ausgeweidet habe sie sich empfunden; und "Hermann" war schuld. "Hermann": das bin für einen Augenblick ich. Viel ist von immerwährender "Verwandlung" die Rede, etwa am Beispiel der Aale, die sich auf dem Lebensweg immer wieder verwandeln – als Beispiel zur Nachahmung bekommen wir zivilisations-verkommenen Erdlinge das vorgeführt. Auch durch ein Museum werden wir geführt, das Artefakte zeigt von Menschen, die den Weg schon gefunden haben, also verwaldet sind und verbaumt; vor allem aber: aus der Welt gegangen.

Einladung zur Empathie

"Ewald" übrigens (der Wald-Mensch vom Anfang) revoltiert im Finale – dem kollektiven Lobgesang auf die Rettung im Wald (die ja vor allem kollektiver Selbstmord wäre wie bei der Sekte von Jim Jones in Guyana!) schreit er verzweifelt Widerstand entgegen: weil er schon weiß, wie schmerzhaft "Waldeseinsamkeit" jeden und jede packen wird. Das hält unsere Catina nicht aus; sie flüchtet mit uns aus der finalen Generalversammlung … und wühlt sich im eigenen Zimmer in einen Haufen als Wald-Erde, bevor wir sie verlassen sollen gegen Mitternacht. Das Versprechen nimmt sie uns ab, sie nie zu vergessen – und zu ihr in den Wald zu kommen, wenn sie Baum sein wird.

Das Ökologie-basierte Generalthema der Performance vermengt Signa mit sehr viel Psychologie und ein bisschen Esoterik; von Sekten, Gewalt und Tod hat sie ja schon oft erzählt. Aber die Szenarien, die sie und das Team auch hier wieder entworfen haben, sind durchweg grandios: mit Ewald im Wald, bei der Beschwörung afrikanischer Riesenschnecken, bei der Geschichte der Aale in einem Raum, für dessen Betreten Gummistiefel empfohlen sind. Wieder überwältigt Signa mit Bildern, aber auch mit Gedanken, die nicht unbedingt und immer zu zu Ende gedacht werden wollen und müssen – die aber Räume öffnen. Vor allem aber (und das war immer die gewaltigste Kraft in jeder Performance der Gruppe) überwältigt sie mit Empathie – so nahe kommen wir nur extrem selten Menschen, die uns ja letztlich immer auch etwas vorspielen; Berührung wird möglich. Und wie schrecklich aussichts- und hoffnungslos die Welt auch beschworen werden mag – manchmal beginnen wir bei Signa zu lieben.

 

Die Ruhe
eine Performance-Installation von SIGNA
Konzept und Regie: Signa Köstler, Bühne: Signa Köstler und Lorenz Vetter, Kostüme: Signa Köstler, Kostüm-Mitarbeit: Tristan Kold, Sound und Medien: Lorenz Vetter und Arthur Köstler, Technisches Design: Arthur Köstler und Erik Ebert, Dramaturgie: Sybille Meier.
Mit (unter anderem) Amanda Babaei Vieira, Benita Martins, Signa und Arthur Köstler, Erich Goldmann, Simon Steinhorst, Mareike Wenzel, Andreas Schneiders, Franz-Josef Becker, Agniesza Salamon; als Gast: Luiza Taraz.
Premiere am 19. November 2021
Dauer: 5 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de


Kritikenrundschau

Fünfeinhalb Stunden "Intensiv-und-interaktiv-Theater", "bei dem man von der ersten Minute die gemütliche Rolle des passiven, aber 2G-plus-Zuschauers verlässt und sich einlassen muss auf unnachgiebige, viel zu persönliche Fragen, absichtliche Grenzüberschreitungen und unvermittelte Interaktionen" hat Katrin Ullmann für die taz (22.11.2021) erlebt. "Mehr poetisch-assoziativ als stringent erzählen Signa Köstler und ihre Performerinen in 'Die Ruhe' vom Menschen und seiner Projektionsfläche Wald – und dabei irritierenderweise so gar nicht vom Wald als potenziellem Klimaretter. Eine aufdringliche Mystik macht 'Die Ruhe' zu einem so intensiven wie verwirrenden Abend."

"Die neue Produktion der Kultstatus genießenden Theatertruppe Signa streift viele aktuelle Themen wie Isolierung, Zerstörung der Natur, Krankheit und Tod und ist voll von vergleichsweise fast zärtlicher Melancholie", berichtet Bernhard Doppler für den Standard (22.11.2021). "Mit ihren immersiven Theaterprojekten gehen Signa immer wieder an die Grenzen dessen, was Theater sein kann. Und manchmal auch darüber hinaus. An ihrem neuen Projekt 'Die Ruhe' berührt, wie nahe man sich auch oder gerade in Zeiten des Abstandhaltens kommen kann."

"Beruhigend“ sei diese "Ruhe" nicht, eher "verstörend", erzählt Katja Weise im NDR (20.11.2021). "Dazu kommt das Gefühl, einerseits nicht ganz freiwillig in den Wald geschickt zu werden, andererseits unbedingt dabei sein zu wollen auf diesem Trip". Die Kritikerin würdigt die "großartigen Performerinnen und Performer und ihre beeindruckende Installation".

Für das Hamburger Abendblatt (22.11.2021) war Annette Stiekele bei Signa: "Die Performance bewegt sich wie frühere zwischen Psycho-Sekte, Schamanismus, Erzählungen von Gewalt und Tod, hier vermengt mit Ökologie. Nicht immer gehen die Geschichten auf, häufig haben sie einen, aber kein Ende, das macht aber nichts. Signa eröffnen Bilder- und Erlebniswelten, die den Besucher auf einzigartige Weise mit sich selbst, aber auch mit den anderen konfrontieren."

Kommentare  
Die Ruhe, Hamburg: Herzlichen Glückwunsch
Vivat! Glückwunsch zur Einladung zum Theatertreffen!
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