Der Menschenfeind - Andreas Kriegenburg zeigt leinwandgroß die Angst, unvollkommen zu sein
Célimènes fischteichgrüne Kontaktlinsen
von Katrin Ullmann
Hamburg, 19. März 2009. Sie lieben, spielen und betrügen, sie lügen, lästern und begehren. Die Figuren in Molières "Menschenfeind" sind alles andere als integer, sie sind verlogen, durchtrieben und unmoralisch: Sie sind ein bitterböser Spiegel der Gesellschaft. Alceste, ein fanatischer Verteidiger von Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, kann einfach nicht anders, er wird zum Menschenfeind. Zutiefst verachtet er Heuchelei und Lügen, Worthülsen und Schmeichelei.
Molière selbst spielte bei der Uraufführung im Jahre 1666 jenen unbelehrbaren Misanthropen. Hauptberuflich war er da bereits Vergnügungsdirektor am Hof Ludwig XIV., doch konnte er seinen Ekel gegenüber der höfisch-schicken Scheinwelt kaum verbergen. Andreas Kriegenburg hat sich am Thalia in der Gaußstraße der Komödie angenommen, aus Interesse an dem Moralbegriff, der im Stück verhandelt wird. Diesen hängt Molières Hauptfigur besonders hoch und riskiert – nein provoziert – damit Unverständnis, Ablehnung und schließlich Einsamkeit.
Rufe aus dem Off
Jörg Pose spielt Alceste, den Besserwisser mit dem moralischen Zeigefinger, den Kluge-Reden-Schwinger, den unentspannten Spielverderber. Er predigt Moral, hasst alles Menschliche und liebt doch Célimène. Nach ihr ruft er aus dem Off, nach ihr verzehrt sich sein ganzes Gesicht, wenn er auf der übergroßen Leinwand erscheint. Überpräsent und doch fern ist er gleich zu Beginn, während sich die Spaßgesellschaft – bestehend aus Oronte (Alexander Simon), Célimène (Judith Hofmann), Éliante (Caroline Dietrich), Arsinoé (Verena Reichhardt), Acaste (Claudius Franz) und Clitandre (Markwart Müller-Elmau) – mit Tangotanz und Champagner bestens amüsiert.
Allein sein Freund Philinte (Helmut Mooshammer) steht ihm zur Seite – in Form einer zweiten großformatigen Projektion – er wiegelt ab und lächelt milde, er ist dem Leben zugewandt. Doch Alceste ist unbeirrbar. Als der ambitionierte Jungdichter Oronte auch noch ein drittklassiges Sonett zum Besten gibt, bricht der ganze Hass aus ihm heraus. Poses Augen wüten, sein Hals färbt sich fleckig rot, spitzzüngig schleudert er dem selbstsicheren Oronte seine Kritik ins Gesicht. Diesem fallen zunächst die Kinnlade und gleich darauf sein halb gekautes Butterbrot hinunter, seine Augen füllen sich mit Tränen der Enttäuschung, bevor er Rache sinnt und wieder wegtaucht aus der Projektion zurück ins halbdunkle Bühnenlicht.
Regungen bis ins kleinste Detail
Fasziniert verfolgt der Zuschauer – dank der riesenhaften, hoch aufgelösten Gesichter – jede Regung bis ins kleinste, unverschämte Detail. Er sucht nach cholerisch hervortretenden Adern genauso wie nach Tränen erfüllten Augen, nach dem spöttischen Zucken eines Mundwinkels oder der minimal nach oben gezogenen Augenbraue. Nicht der Menschenfeind Alceste, sondern die Mimik spielt die Hauptrolle an diesem Abend.
Unverhohlen hält Kriegenburg eine Lupe auf Molières Figuren, auf ihre Gesichter, ihre Masken. Streng betrachtet er sie durch ein Vergrößerungsglas und zwingt sie zu porengenauen Gefühlen. Da wird überdimensional gebangt und gehasst, geliebt und gelogen: Und dahinter offenbart sich kein gefühliger Seelenstriptease, sondern stets phänomenale Schauspielkunst. Die unbeteiligten Anderen tanzen indes einen Tango, oder lästern sich durch die Gesellschaft. Ein paar Flaschen Champagner helfen dabei.
Menschliche Schwächen als liebenswerte Macken
Am stärksten berühren die Szenen zwischen Célimène und Alceste. Judith Hofmann ist fantastisch: Sie ist kokett, selbstbewusst, schnippisch, herablassend, sanftmütig, charmant und verlogen. Mit einem Liebhaber an jedem Finger sinniert sie nur ein bisschen über die wahre Liebe, zuckt gelegentlich mit den Mundwinkeln – statt mit den Schultern – lässt alle ihre Fans am langen Arm verhungern und verliert dabei doch niemals an Sympathie.
Poses Alceste scheitert nur zu gern an ihr, an der geheimnisvollen Rothaarigen mit den fischteichgrünen Augen, schnell verzettelt er sich in flache Witze und wiederkehrende Verlegenheitsröte, bis er schließlich ein "Ich liebe Sie!"-Post-It krickelt, das er sich schamlos an die Stirn klebt. An diesem knapp zweistündigen Theaterabend urteilt Kriegenburg weniger über die moralische Verkommenheit der Gesellschaft und ihren Werteverlust, sondern inszeniert klug und genau menschliche, allzu menschliche Schwächen: Entscheidungsneurosen, panische Angst vor Unvollkommenheit und vor dem ganz persönlichen "horror vacui", der Einsamkeit.
Der Menschenfeind
von Molière
Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Marion Münch.
Mit: Jörg Pose, Helmut Mooshammer, Alexander Simon, Judith Hofmann, Caroline Dietrich, Verena Reichhardt, Claudius Franz, Markwart Müller-Elmau.
www.thalia-theater.de
Mehr zu Andreas Kriegenburg? Im Januar 2009 hatte er am Thalia Theater Goethes Urfaust inszeniert, zuvor im November 2008 in München seinen eigenen Text Die Zelle und im September 2008 ebenfalls in München Franz Kafkas Prozess. Im Januar 2008 verhalf er Dea Loher mit seiner Uraufführung ihres Stücks Das letzte Feuer am Hamburger Thalia Theater zu einem Triumph, die mit dem Stück im Mai 2008 den Mülheimer Dramatikerpreis gewann.
Kritikenrundschau
Als "moderne, hautnahe, kurzweilige Version über unsere moralisch allzu lockere Gesellschaft" empfand Armgard Seegers vom Hamburger Abendblatt (21.3.) Andreas Kriegenburgs Molière-Inszenierung. Auch die Korrespondenz von Film und Bühnengeschehen findet sie in ihrer Wirkung höchst verblüffend: "Links und rechts auf der Bühne stehen zwei meterhohe Leinwände, auf denen die Köpfe der jeweils Sprechenden so groß erscheinen, dass man jedes Haar, jeden lädierten Zahn riesig vor Augen hat. Während auf der Bühne die Schauspieler Tango tanzen, Champagner trinken oder herumsitzen kann man in den Gesichtern auf der Leinwand jede kleine Gefühlsregung beobachten". Man giere geradezu danach, Schweißtropfen oder Tränen zu entdecken, um sie beim Lügen zu ertappen.
"Noch nie waren derart viele ordentliche Zahnreihen zu sehen im Theater," spottet dagegen Michael Laages im Deutschlandradio (20.3.) über diesen Abend, der statt auf "die Weiten des Bühnenraums "auf die "Close-ups einer Kamera" setze. Trotzdem konnte er der Aufführung einiges abgewinnen. Besonders der "Allgegenwart von Musik und Bewegung" verdankt Kriegenburgs Inszenierung aus seiner Sicht einen großen Reichtum "an kleinen Erstaunlichkeiten" und "sonderbaren Verführungs- und Abwehrschlachten", auch wenn dies alles "vor den riesenhaften Live-Video-Bildern" stattfinde, in denen all diese mehr oder minder ausweglos in sich selbst verstrickten und im Miteinander verlorenen Zeitgenossen - fast - das Innerste nach Außen kehren". Die Dominanz des Kamerabilds wird für Laages jedoch zunehmend auch zum Problem. "Wichtig wäre der Transfer – und mit ihm die Antwort auf die Frage, ob Kamera-Bild und echter Bühnen-Mensch auch irgendwie miteinander kommunizieren können." Hier reiche es dann aber leider nur immer "bis zur nächstliegenden Notlösung".
"Zu Kopf steigend" und "zu Herzen gehendend" fand wiederum Stefan Grund in der Tageszeitung Die Welt (21.3.) diesen Abend, der bei ihm den Eindruck erweckte, "als habe Kriegenburg hier Woody Allens Technik, möglichst viele Großstadtneurotiker bei einem guten Glas Wein durcheinander quatschen zu lassen, auf das Theater übertragen und verfeinert". Auf und vor zwei Großbildschirmen agiere "das traurige Komödienpersonal des Meisters Molière" und zwar in der "heutigen, frischen und knackigen Übersetzung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens" auf einem "Klangteppich sterbenstrauriger, feuriglebendiger Tangoklänge". Auf diesem Weg entwerfe Kriegenburg "zwischen den Ebenen Wort, Bild und Musik" ein neues Menschenfeindbild, und führe uns liebevoll den permanent erfolglosen Verführungsversuch der Vereinzelten untereinander vor – zum Gespräch, zur Liebe, zur Befriedung der eigenen Eitelkeiten - und zwar in dem er Form und Inhalt gegeneinander ausspiele.
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Die übergroßen High-Definition-Videbilder – also: "Schuppen, Haare, Poren, Pickel" – stellten das "wirkliche, elegische, Tango-angetriebene, phasenweise auch deftige Bühnengeschehen in den Schatten", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (14.12.) anlässlich der Berliner Premiere des "Menschenfeindes" im Dezember 2009. Kriegenburgs gehe es bei dieser "schlagenden Inszenierungsidee" "um die Anatomie des menschlichen Gesichts, das nicht aufhört, eine Maske zu sein". Außerdem stärke er die Rolle der Célimène, "indem er sie reifer und erfahrener besetzt". So sei deren Lebensgier "keine vorübergehende hormonelle Angelegenheit der Spätpubertät, sondern ein bewusstes Spiel mit Verletzungen. Sie ist auf der Suche nach dem Echten hinter den Masken, genauso wie Alceste", "bei ihren Eskapaden" handele es sich um ein "verzweifeltes Experiment". Und so sei "das Ereignis des Abends" vor allem "Hofmanns helles, mit Lächel-, Kummer-, Grübelfältchen geschmücktes Gesicht", auf dem sich ein "schönes und heiles Schauspiel" vollzieht, das "souveräne Werk von 26 mimischen (bühnengestählten) Muskeln".
Auch Andreas Schäfer vom Tagesspiegel (14.12.) ist beeindruckt von der "Ausdrucksvielfalt von riesigen Gesichtslandschaften, deren Präsenz und Vitalität man nur bestaunen – aber eben nicht mehr lesen, nicht begreifen kann". Eine "grandioser Inszenierung" in anderthalb "wuchtigen, kurzweiligen Stunden" sei Kriegenburg hier gelungen. Durch die Vergrößerung der Gesichter ins Montröse würden die Gesichter "entpersonalisiert. Es ist Mimik pur, die reine Erregung, wirkungsstark, aber zugleich schwindelerregend sinnlos, eine Art optisches Rauschen, das auf bildlicher Ebene das Herz des Dramas auf die Bühne bringt": "Alcestes Analysen enthüllen nicht die Wahrheit, sie hinterlassen nur Zweifel. Er bemerkt alles – erkennt aber nichts mehr." Entsprechend lösten Kriegenburgs Videovergrößerungen "im Zuschauer genau jene aufwühlende Intensität aus, an der Alceste leidet". Unentwirrbar sei an diesem Abend "die Schönheit der Form mit dem Horror der narzisstischen Pose verbunden". Das Spiel der acht "großartigen Schauspieler" greife dabei "mit choreografischer Präzision ineinander" und sorge dafür, "dass dieser Befund schmerzhaft unter die Haut geht".
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