Endzeitstimmung trifft Pop

3. April 2023. Dass es eine Welt ohne ihn geben könnte, kann sich dieser König nicht vorstellen. Lieber haut er zum Abschied alles zu Klump. Jan Bosse bringt Shakespeares berühmtes Drama in einer Neuübersetzung von Miroslava Svolikova auf die Bühne. Mit Wolfram Koch als Lear. Als Hammer-Lear sogar!

Von Stefan Forth

"König Lear" am Thalia Theater Hamburg © Armin Smailovic

3. April 2023. Die Welt ist eine Discokugel, und wir sind nichts als eitle Glamour-Girls und visionslose Glitzer-Boys. So furchtbar funkelnd erzählt zumindest Regisseur Jan Bosse den düsteren Kosmos aus Shakespeares "König Lear" am Hamburger Thalia Theater. Mit großer Spiellust führt ein starkes Ensemble vor, wohin es führen kann, wenn Macht zum Selbstzweck wird und alte Strukturen ohne neue Ideen in sich zusammenbrechen.

Der noch vergleichsweise kraftvolle, aber doch alternde Polit-Popstar Lear vermasselt direkt zu Beginn seinen letzten großen Auftritt: In einem ausladenden Pailettenfummel stolpert Wolfram Kochs König mehr durch den silbrig glänzenden Vorhang in der Bühnenmitte, als dass er standesgemäß schreiten würde. Die Fingernägel sind zwar perfekt schwarz lackiert, die schütter werdenden Haare adrett zurückgegelt und der graue Drei-Tage-Bart ordentlich gestutzt, aber die Zeiten, als er sich in der überdimensionalen halbierten Discokugel über seinem Kopf entspannt sonnen konnte, sind vorbei.

Öffentliches Scheinwerfer-Schleimen

Sein Land will der Patriarch unter seinen drei Töchtern aufteilen - und die sind auch alle gekommen zum großen Showdown des alten (kalk-)weißen Mannes, sitzen standesgemäß in Parkettreihe eins des Thalia Theaters und winken zwischendurch ins restliche Publikum. Als hätte Shakespeare Reality TV-Formate unserer Zeit gekannt, hat er den Lear-Töchtern eine publikumswirksame Challenge ins Skript geschrieben: Das vorzeitige Erbe gibt es nur für diejenigen, die dem Vater möglichst nachdrücklich ihre Liebe bekunden.

Lieblingstochter Cordelia ist leider schlecht im öffentlichen Scheinwerferschleimen und noch schlechter in wirkungsvoller Selbstinszenierung, verliert ihren Anteil an der Macht gegen die Schwestern und wird verstoßen. Mit dieser Fehlentscheidung geht es endgültig bergab mit dem alten König Lear und dem ganzen Land - so lange, bis am Ende aller oberflächlicher Glanz verschwunden ist und Leichen die Bühne pflastern.

Tennisball-Hagel im Sternenfunzel-Licht

Bevor sich herausstellt, dass selbst die mobile Riesen-Disco-Weltkugelhälfte von innen einfach nur hohl und auf der Rückseite mit Sperrholz ausgekleidet ist, gibt es aber noch einiges zu schauen. Die Bühne von Stéphane Laimé ist ziemlich genial, schafft immer wieder neue Räume für wuchtige Bilder und poetische Momente.

Lear2 805Armin SmailovicFröstelnd im Pailettenfummel: Wolfram Koch als Lear  © Armin Smailovic

Mal schweben dutzende Glühbirnen von der Decke und sorgen für schummriges (Sternen-)Funzellicht, dann lässt im Moment der größten Katastrophe eine Armada weißer Tischtennisbälle an fette Hagelkörner einer Naturgewalt oder an brutal herausgerissene Augäpfel denken. Und die Discokugel taugt im Zweifel ebenso als Unterschlupf in einer unwirtlichen, stürmischen Nacht draußen auf der Heide wie als fulminantes Bild einer sinnbefreiten, kalten Erde. Mal steht darauf ein verzweifelter, vereinsamter Wolfram Koch als unglückselig egozentrischer Lear, mal räkelt sich darauf besitzergreifend Johannes Hegemann als machtgeiler, intriganter Bastard Edmund.

In der Inszenierung ist dieser Typ (anders als bei Shakespeare) der einzige echte Bösewicht. Und was für einer! Mit langer, schwarzer Perücke und stechendem Blick erinnert Johannes Hegemann an eine Mischung aus Hitchcocks Psycho Norman Bates und Shakespeares Richard III. Ein Blumenkind der düsteren Sorte mit schwarz grundiertem Blütenblätter-Pullunder, goldglänzender Sporthose und Cowboystiefeln. Im Chaos der Zeitenwende sieht er seine Chance: "Die Jungen steigen, wenn die Alten fallen." Also: "Stand up for the bastards!" Wahnsinnig gute Schauspielkunst.

Melancholische Komik

Überhaupt kennt diese Inszenierung im Grunde keine Nebenfiguren - auch eine dramaturgische Meisterleistung in einer klugen Strichfassung. Jeder und jede hat mindestens eine große Szene, für alle Anwesenden gibt es Raum. Den Rest von Shakespeares Personal hat Regisseur Jan Bosse konsequenterweise lieber gleich ganz gestrichen.

Umso mehr Zeit bleibt etwa den Schwestern Goneril und Regan, die Augen über ihren selbstgerechten Vater Lear zu verdrehen. Anna Blomeier und Toini Ruhnke machen das ganz wunderbar mit herrlichem Hang ins Derb-Verprollte und einer Ungeduld, die schon auch nicht unverständlich ist. Schließlich hat der alte Herr tatsächlich seine wechselhaften Launen, ein latent nerviges Platzhirschgehabe und ein echtes Problem damit, tatsächlich mal loszulassen - "ein nutzloser alter Mann, der sich die Macht anmaßt, die er selbst abgegeben hat," wie Goneril das auf ihre Art formuliert. Die Neuübersetzung der österreichischen Dramatikerin Miru Miroslava Svolikova schafft eine einfühlsame Balance zwischen heutigem Deutsch und der Sprach- und Bildwelt des Originals.

Lear3 805Armin SmailovicThe End is near....  © Armin Smailovic

So findet die Inszenierung eine melancholische Komik in der tragischen Geschichte eines Generationenkonflikts. Ein Stück Volkstheater, in dem der weise Narr eine besondere Rolle spielt. Christiane von Poelnitz ist ein quietschgelbes Ereignis! Zusammen mit den Live-Musikern auf der Bühne sorgt sie immer wieder für augenzwinkernde, poetische und gruselig-bedrohliche Momente - mit einem Repertoire, das auf so unterschiedliche Ikonen wie Bette Davis ("I’ve written a letter to daddy") oder eine sagenhafte englische Wahrsagerin des 16. Jahrhunderts zurückgeht. Endzeitstimmung trifft Pop.

Neue Ordung auf dem Prüfstand

Wer könnte dieses latent absurde Mischungsverhältnis lässiger verkörpern als Wolfram Koch? Der Mann ist der Hammer als König Lear - auch weil man ihm an diesem Abend auf der Bühne beim Altern zuschauen kann. Mit Regisseur Jan Bosse hat der Schauspieler zuletzt noch in Berlin Shakespeares "Sturm" auf die Bühne des Deutschen Theaters gebracht. Darin haben Wolfram Koch als Magier Prospero schon längst die Zauberkräfte verlassen. Sein Hamburger König Lear kommt dagegen erst noch ziemlich viril daher. Dieser Mann zerbricht auch deshalb, weil er sich gar keine Welt vorstellen kann, in der er nicht noch irgendwie das Sagen hat.

Dabei markieren doch schon die verspielt genderfluiden Kostüme von Kathrin Plath, dass hier Dinge in Bewegung geraten sind, dass Strukturen von Machtmissbrauch, Korrumpierung und Ohnmacht unabhängig von Geschlecht oder Generationenzugehörigkeit auf dem Prüfstand stehen. In welcher neuen gesellschaftlichen Ordnung könnten wir uns eigentlich vorstellen zu leben? - Auf diese Frage hat die Inszenierung keine Antwort, und sie ist auch sicher keine Neuerfindung des Theaters. Trotzdem: So geht Shakespeare im Jahr 2023.

König Lear
von William Shakespeare
Neuübersetzung von Miru Miroslava Svolikova
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Live-Musik: Jonas Landerschier, Leo Schmidthals, Tilo Werner, Dramaturgie: Christina Bellingen.
Mit: Anna Blomeier, Johannes Hegemann, Wolfram Koch, Christiane von Poelnitz, Pauline Rénevier, Falk Rockstroh, Toini Ruhnke, Tilo Werner.
Premiere am 2. April 2023
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Eine Revuewelt, wenn auch eine recht monochrome" habe Stéphane Laimé für Jan Bosses Inszenierung entworfen, schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (4.4.2023). "Das verführt dazu, die desaströsen Fehler des Systems lustig zu nehmen." Man bemühe sich nicht mehr, die Zuschauer mit den schrecklichen Konsequenzen von männlicher Sturheit zu erschrecken. "Also steckt der König in einem glitzernden Korsett mit Schleppenbehinderung." Wolfram Koch spiele das mit so ungemein sympathischer Ausstrahlung, dass es wirklich schwerfalle, ihn für den Schlamassel verantwortlich zu machen. Fazit: Vielleicht ist der bedingungslose Unterhaltungscharakter, den Jan Bosse auferlegt, eine äquate Reflexion über heutige Politik, "aber als Schauspiel führt diese ständige Ironisierung des Schreckens dazu, dass fast keine Figur zu einem ambivalenten Charakter taugt".

"Der König ist in Feierlaune: Er hat Musiker eingeladen" und das Abendkleid stehe ihm famos, so Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.4.2023). Flott zeichne sich jene ungeheure Katastrophe nach, die das Machtvakuum und Lears Starrsinn auslösen. "Mit ironischer Arroganz zelebriert Wolfram Koch die Attitüde des Herrschers, der nichts mehr hat und genau deswegen gewürdigt werden will." Jan Bosses geschmeidige Inszenierung "funktioniert wie eine perfekte Unterhaltungsmaschinerie. Sie findet einen fesselnden Rhythmus für die Chronik des Niedergangs, setzt markante Akzente." Das Ensemble erzähle plausibel wie flüssig die Geschichte des Königs Lear. "Die Mechanik klappt super, der Motor schnurrt. Aber", so die Kritikerin, "im Innersten wirkt dieser Abend unendlich leer. Keine Fragen, keine Antworten."

"Hier tritt kein zitternder Herrscher ab, hier verteilt ein energischer Mann in Showmaster-Manier seine Macht an die Töchter", so Katja Weise im NDR (3.4.2023). Die Tragik brauche lange, um sich zu entwickeln. "Fast holzschnittartig setzt der Regisseur die Figuren ins Bild, mit Lust an Überzeichnung." Die anfangs überstrapazierte Partystimmung gehe vorbei, "Kochs Lear gewinnt an Konzentration, die vorher manchmal fast hektisch gespielte Zerrissenheit der Figur wird spürbarer". Fazit: "Erst spät berührt dieser Abend - trotz vieler kluger Verweise, trotz eines starken Ensembles."

Kommentare  
Lear, Hamburg: Abend mit Charakter
Ich war am heutigen 05.04. in der Vorstellung. In der Nachtkritik von Stefan Forth finde ich meine Sicht des Abends wieder. Weder erlebte ich einen Abend mit bedingungslosem Unterhaltungscharakter (SZ), noch wirkte der Abend unendlich leer (FAZ). Auch berührt der Abend nicht erst spät (NDR). Vielleicht war die Stimmung im Publikum während des Premierenabends eine, die die Kritik in die Irre führte.
King Lear, Hamburg: Sterne der Schauspielkunst
King Lear der Abend von Wolfram Koch (Lear) und Christiane von Poelnitz (sein Narr). Dieses Duo unter der Regie von Jan Bosse macht den Lear zu faszinierendem Theater.

Das Stück passt in die Zeit, die Zeit (weiser) weißer, alter Männer, die sich nur schwer von ihrer Macht trennen können. Koch (Lear) ein verhältnismäßig, junger Alter will seine Macht an seine Töchter (jung und weiblich) veräußern. Doch mit der Zeit erkennt er, dass es schwer ist die Macht loszulassen. Macht zunächst verkörpert durch einen riesigen silbernen Vorhang in dessen Mitte eine gewaltige Diskokugel (Erde) prangt. Die Upper-Class in Glitzerfummel, als Insignien der Macht, die nur Kälte vermitteln. Lear in androgyner Herrscherrobe mit fulminanter Schleppe – „Accessoires“ der Macht. Grotesk komisch wirkt dieser Glitzer-Staat, der nur mit potemkinscher Fassade blendet. Der erste Teil hat Charakterzüge einer Moritat im Gewand einer TV-Show: große Bühne vor schwarzer Leere hinter dem Vorhang. Das Bühnenbild von S. Lahmé ein eigener Akteur in diesem Setting.

Dieser Plot symbolisiert Lebens- und Weltenlauf, der sich jeder Sinngebung entzieht und darin liegt die Chance zur Komik, die Bosse aufspürt und nutzt – die Welt als Narrenbühne. Der Narr als Närrin im lindgrünen, elfenartigen Narrenkostüm als Lears reflektierendes und/oder ermahnendes Ich.
Darin liegt aber auch die Chance zur Komik: die Welt als Narrenbühne.
Lears Irrtum, dass er das Reich von der Macht trennen und sie aufteilen kann. Die Macht gerät in Missbrauch auf Grund der Gier der Jungen und die Welt aus den Fugen – in diesem Chaos muss alles untergehen.

Im zweiten Bühnensetting: die halbe Diskokugel auf schwarzem Bühnenboden und dunkler Bühne mit zahllosen Glühbirnen, die aus dem Bühnenturm herabhängen (Sterne am Firmament) gewinnt Koch im Wahnsinn Lears Konturen, die unvergessliche Bilder hinterlassen. Lebewesen irren durch eine absurde Welt irrationaler Grausamkeit, in der weder die Bösen noch die Guten etwas ausrichten können: Alle gehen zugrunde. Der Narr ein Teil des Lear begeistert mit der eigenwilligen gesanglichen Interpretation der Lieder – starke Momente dieser Inszenierung.

Im letzten Bühnensetting entpuppt sich die Diskokugel als hohle Kugel aus Holz und der Mensch ist nicht mehr als so ein armes, nacktes, zweibeiniges Tier. Am Schluss hat Koch seine faszinierendsten Momente als Lear, wenn er den Tod seiner geliebten Tochter beklagt. Sprachlos mit kleinen Gesten – dem Zittern der Hand, wie das Fliegen einer Feder – Dinge benennet die Sprache nicht fassen kann. Oder wenn er langsam, leicht gebeugt mit kleinen kurz verharrenden Schritten ins Dunkel schreitet, zusammenbricht und stirbt. Wolfram Koch und Christiane von Poelnitz waren für mich die Sterne der Schauspielkunst an diesem Abend. Merci & Chapeau!
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