In den Himmel stürzen

4. Februar 2024. In den 1970er Jahren geschrieben, brauchte Goliarda Sapienzas Roman "Die Kunst der Freude" einige Jahrzehnte zum Erfolg. Erzählt wird das bewegte Leben einer erfolgreichen wie sexuell befreiten Frau. Anaïs Durand-Mauptit haucht jetzt dem Stoff neues Leben ein.

Von Gerhard Preußer

"Die Kunst der Freude" © Thomas Aurin

4. Februar 2024. "Erzähle, Modesta, erzähle!" Das ist nicht der Anfang, das ist der Schluss. Modesta erzählt ihr Leben, in drei Theaterstunden (oder auf 700 Romanseiten). Und in den Köpfen der Zuschauer wird weitererzählt. Wie es war, wie es sein könnte, wie es werden wird. Die Faszination von narrativem Theater liegt in diesem Weitererzählen, in den Anschluss- und Abgrenzungsgeschichten, die man sich selbst erzählt. 

Goliarda Sapienzas Roman "Die Kunst der Freude" ("L‘arte della gioa") ist ein Monstrum, das über 40 Jahre brauchte, bis es in Deutschland ein Erfolg werden konnte. Kein Meisterwerk, auch kein Meisterinnenwerk, aber die Geschichte einer freien Frau, die erst heute wirklich in die Zeit passt. Dabei ist es formal gesehen ein historischer Roman oder eine versteckte Autobiographie. Ein Buch zum Mutmachen, eine sympathische Heldin, trotz aller herzlosen Scheußlichkeiten, die sie begeht. 1976 zu Ende geschrieben, konnte der Roman in Italien nicht veröffentlicht werden. Über den Umweg aus Frankreich wurde er 2005 mit dem Titel "In den Himmel stürzen" auf Deutsch herausgebracht und verrissen, erst 2022 wagte der Verlag eine Neuauflage mit dem Titel "Die Kunst der Freude". Nun wurde der Roman gefeiert. 

Eine Fürstin aus armen Verhältnissen

Sapienza, die in Sizilien aufwuchs, hat mit der Geschichte der gar nicht bescheidenen Modesta eine Art radikalfeministischer Fortsetzung von Lampedusas "Il Gattopardo" geschrieben. Ging es in diesem Roman (und in Luchino Viscontis Verfilmung "Der Leopard") um den Niedergang einer sizilianischen Adelsfamilie im 19. Jahrhundert, so setzt Sapienza das ins 20. Jahrhundert fort. Eine junge Frau aus völlig armseligen Verhältnissen steigt auf zur Fürstin einer sich auflösenden Familie, mit Intelligenz und strategischem Handeln, auch indem sie einige Menschen zur rechten Zeit sterben lässt (oder umbringt): ihre Mutter und Schwester, eine sie betreuende Äbtissin, die alte Fürstin. "Nur die Lebenden haben Recht" ist ihre Formel.

DieKunstderFreude3 1200 Thomas AurinKirche und Tradition können sie nicht schrecken. Janina Sachau, Nola Friedrich, Luise Berndt, Benedikt Voellmy, Torsten Borm, vorn als junge Modesta: Marlina Mitterhofer © Thomas Aurin

Aber nicht nur ihr Aufstiegswille macht sie bewundernswert, sondern vor allem ihre Liebesfähigkeit. Sie liebt jeden und jede, wer immer ihr auch begegnet: Männer, Frauen, sich selbst. Sie nutzt jede Lustmöglichkeit, die ihr Körper bekommen kann. Diese offene, detaillierte Darstellung weiblicher Sexualität war wahrscheinlich einer der Gründe für die Nichtveröffentlichung im Italien der 1970er und -80er Jahre. 

Drei Lebensetappen, drei Erzählerinnen

Der Aachener Inszenierung von Anaïs Durand-Maupetit gelingt es, viel vom erzählerischen Elan des Romans auf die Bühne zu bringen. Modestas gibt es drei, die oft gemeinsam agieren, aber auch verschiedene Altersstufen verkörpern: das junge Mädchen, das Fürstin wird (Martina Adeodata Mitterhofer), die Frau im mittleren Alter, die Kommunistin wird und verschiedene Liebschaften ausbalancieren muss (Luise Berndt), und die ältere Frau, die von der deutschen Besatzung Italiens ins Gefängnis gesteckt wird (Bettina Scheuritzel). Anfangs ironisiert das Erzähltheater sich selbst. Das Ensemble agiert mit chorischen Gesten einzelne Handlungen aus, die eine der Modestas gerade erzählt. Die alte Fürstin kommt als schwarzer Unheilsvogel mit dem Flugwerk hereingesegelt. 

DieKunstderFreude2 1200 Thomas AurinAnkunft der Fürstin als schwarzer Unglücksvogel: Marlina Mitterhofer, Nola Friedrich, Bettina Scheuritzel © Thomas Aurin

Im Verlaufe des Abends dominieren aber die Dialoge, die der Roman reichlich anbietet, immer mehr. Als Modesta von ihrem Palast im Landesinneren in eine Villa am Meer in Catania umzieht, fällt ein großes weißes Tuch auf die Bühne, das im grünblauen Licht hin und her wallt. In diesem Lichtstoffbad tummeln sich dann die junge Modesta und ihre gleichaltrige Geliebte Beatrice (Nola Friedrich). Vor allem durch Beatrices unbekümmerte Lebhaftigkeit wird das eine heitersten Szenen des Abends. Das Tuch fällt aber kurz darauf herunter über zwei sich wild wälzende Körper, das sind Modesta und ihr Geliebter Carlo beim Liebesakt. Danach kommt der klassische Streit: Er (am Mikrophon): "Die Liebe ist Geheimnis". Sie (in der Distanz): "Sie ist ein Handwerk, eine Übung, als ob man ein Instrument spielt". Er: "Also verneinst du das immaterielle Wesen der Liebe." Sie: "Sex ist das Kind der Liebe und umgekehrt." 

Hochzeit mit Pizza

Im zweiten Teil, wenn die Handlung durch die Zeiten eilt, von Mussolinis Aufstieg über den Zweiten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit, wird der Erzählstrang mehrfach aufgelockert durch italienische Songs. Die italienische Version von "Bang bang, my baby shot me down" wird von Modesta (Luise Berndt) und Mattia (Benedikt Voellmy) als Duett von Gesang und Violine präsentiert. Und zum Festmahl zur Heirat von Beatrice und Carlo (ja, die Verhältnisse mischen sich hier interfamiliär ziemlich unübersichtlich) gibt es nicht nur Rotwein, sondern auch Pizza in Pappschachteln. An Humor fehlt es der Inszenierung also auch nicht.

DieKunstderFreude1 1200 Thomas AurinLiebesfreuden am Strand von Sizilien: Marlina Mitterhofer, Nola Friedrich. © Thomas Aurin

Die Schwierigkeiten, die sich einem rein narrativen Theater bieten – die mangelnde Zuspitzung auf einen Höhepunkt, die Notwendigkeit, nicht Darstellbares rein verbal zu vermitteln –, löst die Inszenierung durch immer wieder variierte Mittel. Aber so etwa nach zwei Stunden geht ihr auch langsam der Atem aus, und es wird nur noch der Ablauf abgespult. Weitererzählen müssen dann die Zuschauer.

Die Kunst der Freude
nach dem Roman von Goliarda Sapienza
Aus dem Italienischen von Esther Hansen und Constanze Neumann
Theaterfassung von Anaïs Durand-Mauptit und Kerstin Grübmeyer
Regie: Anaïs Durand-Mauptit, Bühne: Marie Labsch, Kostüme: Mascha Schubert, Musik: Malcolm Kemp, Dramaturgie: Kerstin Grübmeyer, Licht: Eduard Joebges.
Mit: Marlina Adeodata Mitterhofer, Luise Berndt, Bettina Scheuritzel, Nola Friedrich, Janina Sachau, Hermia Gerdes, Furkan Yaprak, Torsten Borm, Benedikt Voellmy.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
Premiere am 3. Februar 2024

www.theateraachen.de


Kritikenrundschau

"Dieser Abend ist vielleicht ein wenig altmodisch. Aber dafür sehr genau, sehr frisch gestaltet", schreibt Andreas Falentin in der Deutschen Bühne (5.2.2024). Anaïs Durand-Mauptit inszeniere "sehr reduziert und konzentriert: Wenige Requisiten, starke Bilder, wichtige Sprache. Man kann nichts verpassen, nichts wird zweimal gesagt, doch wird alles klar ausgesprochen, meist ohne Subtext", so Falentin. "Die Schauspieler stehen nackt – metaphorisch – im Zentrum. Und das Ensemble ist sehr gut." "Man sieht drei Stunden lang atemlos zu. (...) Und geht mit vollem Herzen aus dem Theater."

"Wie immer, wenn ein Roman vertheatert wird, fragt man sich: Warum muss dieser epische Stoff auf die Bretter? 735 Romanseiten in zweieinhalb Bühnenstunden - geht das? Joa, schon. Aber ist das gut? Hmmh", schreibt Jenny Schmetz in der Aachener Zeitung (5.2.2024). "Wer den Roman kennt, vermisst einiges. Nicht nur Figuren(tiefe) und Handlungsstränge, sondern auch die formale Vielfalt." Ein wenig mehr Mut von Modesta "hätte man der Regisseurin gewünscht", so Schmetz: "Leider ist das Überraschendste dieses Abends, wie brav ein solch radikales Frauenleben inszeniert wird. (...) Bevorzugt wird rampenorientiert und temporeich Richtung Publikum deklamiert (gut verständlich, unterstützt durch Mikroports), was kaum Spannung zwischen den Figuren aufkommen lässt." "Vielleicht hätte man den achtstündigen Theaterexzess zum intensiven Eintauchen wagen sollen oder die Konzentration auf wenige Aspekte? So bleibt trotz beherzter Striche der Kompromiss, die Familiensaga bekömmlich bebildert zu erzählen, mündend im Hasten und Hangeln durchs Handlungsgerüst." Wer den Roman nicht kenne, könne jedoch immerhin "eine reizvoll unmoralische Heldin entdecken, die jungen Frauen auch heute als Vorbild der Selbstbestimmtheit dienen mag".

Kommentare  
Die Kunst der Freude, Aachen: Mutiger Abend
Ein mutiger Abend einer jungen Generation von Regie, Bühne und Kostüm: 
ein Gesamtkunstwerk aus Szene, Szenographie und Farben, ein grossartiges Bühnenbild, ein Altar an die verkannte Autorin Goliarda Sapienza, die Gottseidank von der Romanistin Franziska Bolli wiederentdeckt wurde.


Danke an dieses grossartig weibliche Regietam: lotta dura senza paura ...
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