Blutige Freiheit

12. Februar 2023. Die Befreiung von tyrannischer Herrschaft feiert Schillers letztes, 1804 fertig geschriebenes Drama. In Düsseldorf inszeniert der Schweizer Regisseur Roger Vontobel den Schweizer Nationalmythos. Und zeigt einen Freiheitshelden, den seine eigenen Überzeugungen einholen.

Von Sascha Westphal

"Wilhelm Tell" in der Regie von Roger Vontobel am Düsseldorfer Schauspielhaus © Thomas Rabsch

12. Februar 2023. "Der Starke ist am mächtigsten allein." Mit diesem Satz bekräftigt der Jäger Wilhelm Tell seine Unabhängigkeit. Mit ihm widersetzt er sich jeglicher Herrschaft und entzieht sich jeglicher "Parteiung". In Roger Vontobels Inszenierung von Friedrich Schillers Freiheitsdrama ist Wilhelm Tell schon im Begriff zu gehen, die Bühne zu verlassen, als er den gewichtigen Satz spricht. Florian Lange sagt ihn mit einem solchen Pathos auf, dass er ganz und gar hohl tönt: Tell will sich seiner eigenen Stärke versichern. Doch die Hybris, die in seinen Worten liegt, wird ihn einholen und in den Abgrund stoßen, der sich auch in diesem Satz eröffnet.

Ein Ort und Zeit enthobenes Gedankenspiel

Tells Anspruch, nicht zum Parteigänger zu werden, ist nichts als eine Illusion. Zunächst hat sie noch eine verführerische Strahlkraft. Schließlich liegt in der Unabhängigkeit, die Florian Lange in seinem selbstgewissen, an die Helden zahlloser Westernfilme erinnernde Auftreten ausstrahlt, die größte Freiheit. Aber schon Olaf Altmanns minimalistisches und zugleich extrem wuchtiges Bühnenbild nimmt dieser Illusion vieles von ihrer Schönheit und Kraft. Über der leeren Bühnenfläche hängt von 16 Stahlseilen getragen ein zweiter Boden, der sich hoch- und herunterfahren oder auch kippen und neigen lässt. So teilt Altmann den Raum in zwei Ebenen und setzt der Freiheit in alle Richtungen ihre meist sehr engen Grenzen.

Zu Beginn zieht der Reichsvogt Gessler auf der zweiten, oberen Ebene seine Kreise. Er spricht kein einziges Wort. Heiko Raulin stolziert einfach in einem goldenen Anzug herum und lächelt maliziös in sich hinein, während sich unter ihm all die Schweizer Bürgerinnen und Bürger krümmen müssen. Der zweite Boden raubt ihnen die Möglichkeit, aufrecht zu gehen und zu stehen. Es ist ein grandioses Bild für die Verhältnisse, die Schiller beschreibt, und ein zutiefst bitteres Arrangement, das Tells Worten einen weiteren Kontext gibt. Gessler ist eben auch allein und mächtig. Seine Stärke liegt in der in ihm konzentrierten Macht. Die größte Freiheit genießt der, der alle anderen unterdrückt. Entsprechend nutzt Roger Vontobel dieses Bühnenkonstrukt immer wieder, um die ungleiche Verteilung von Freiheit und Macht in Szene zu setzen. Schillers "Wilhelm Tell" wird bei ihm so zu einem der Zeit und letztlich auch dem Ort enthobenen Gedankenspiel.

Symbolischer statt emotionaler Zugriff

Der Schweizer Gründungsmythos verwandelt sich in ein zeitloses und damit immer aktuelles Spiel um den Preis, den das Individuum wie auch die Gemeinschaft für die Freiheit zahlen müssen. Wer dabei auch an den Krieg in der Ukraine denkt, liegt sicher nicht ganz falsch. Allerdings verengt Roger Vontobel seine kompakte, Schillers Text auf seine Kernszenen und -Dialoge komprimierende Inszenierung nie auf eine derart eindeutige Lesart. Ihm geht es um Grundsätzliches. Dazu passen dann auch die Akzente, die er durch die Besetzung einzelner Rollen setzt. So hat er die Figur des Schwyzer Großbauern Werner Stauffacher gestrichen. In Vontobels Inszenierung ist es die von Sonja Beißwenger gespielte Gertrud Stauffacher, die in Unterwalden und in Uri Verbündete für ihren Aufstand gegen die unterdrückerische Macht der Habsburger sucht. Zudem treibt Vontobel dem Stoff alles eng Nationalistische aus, indem er den Schwarzen südafrikanischen Schauspieler Bongile Mantsai als Walter Fürst besetzt und ihn Schillers Verse in englischer Übersetzung sprechen lässt.

Tell1 1000 ThomasRabschDie Unterdrückten tragen ihre Last: Sonja Beißwenger, Blanka Winkler, Glenn Goltz, Bongile Mantsai, Jonas Friedrich Leonhardi und Nils David Bannert (v.l.) in Olaf Altmanns Bühnenbild © Thomas Rabsch

Roger Vontobels klare Setzung und Olaf Altmanns Bühnenbild, das jenseits der zweiten Bodenplatte allein auf Nebel und Lichtstimmungen setzt, schaffen große Bilder und eindrucksvoll verdichtete Momente. So etwa zu Beginn der Rütlischwur-Szene, als einige Mitglieder des Ensembles an Seilen von der hinteren Kante der zweiten, in diesem Augenblick sehr weit nach oben gefahrenen Ebene herabhängen, während im Vordergrund Sonja Beißwenger auf ihre Mitstreiter wartet.

Aus den Textblöcken gemeißelte Gedanken und Ideen

Dieser hochsymbolische Zugriff auf den Stoff nimmt ihm jedoch auch etwas von seinem emotionalen Reichtum. Er vereinzelt die Figuren, die oft auf zwei räumlichen Ebenen agieren und damit jeweils für sich und nicht miteinander spielen. Die von Schiller verhandelten Gedanken und Ideen treten damit schärfer hervor, Vontobel meißelt sie quasi aus den marmornen Textblöcken heraus. Aber es bleiben Gedanken und Ideen, deren konkrete Auswirkungen auf die Menschen nur selten sichtbar werden. Auch das ist natürlich Teil des Konzepts, das seine ganze emotionale Kraft auf den einen Moment konzentriert, in dem Tell den Apfel vom Kopf seiner Tochter schießen muss. Hier holen ihn zum ersten Mal seine eigenen Worte ein. Er, der Starke, ist in diesem Augenblick wirklich ganz allein und absolut ohnmächtig.

Wie Florian Lange in dieser Szene zittert und bebt, wie er zögert und mit sich ringt, um schließlich doch zu schießen, ist überaus eindrucksvoll. Tells Stärke wird plötzlich zur Schwäche. Der strahlende Held verliert jeglichen Glanz und im Endeffekt auch alles, was ihn menschlich macht. Insofern nimmt dieser Augenblick schon das Schlussbild vorweg, in dem Tell hoch oben auf der schräg hängenden Ebene kauert, nachdem er Gessler getötet hat. Unten kriechen durch einen schmalen Spalt die von Blut besudelten und Kämpfen gezeichneten Verbündeten des Rütlischwurs hervor und feiern ihn. Ja, sie haben sich ihre Freiheit vom Joch der Habsburger erkämpft und machen nun Tell zu ihrem Helden. Doch es ist eine beschmutzte und zutiefst belastete Freiheit. Tell mag für die anderen ein Held sein. In seinen eigenen Augen bleibt er ein Mörder, der kaum mehr in die (Familien-)Gemeinschaft zurückkehren kann, die er verteidigt hat. Der Starke mag am mächtigsten allein sein, aber sobald er seine Stärke ausgespielt hat, ist er vor allem allein … mit sich und seiner Schuld.

 

Wilhelm Tell
von Friedrich Schiller
Regie: Roger Vontobel; Bühne: Olaf Altmann; Kostüm: Tina Kloempken; Musik und Musikalische Leitung: Keith O’Brien; Licht: Christian Schmidt; Dramaturgie: Robert Koall
mit: Sonja Beißwenger, Nils David Bannert, Bongile Mantsai, Florian Lange, Minna Wündrich, Kassandra Giftaki / Marla Rockstroh, Jonas Friedrich Leonhardi, Glenn Goltz, Heiko Raulin, Blanka Winkler, Kilian Ponert, Stella Maria Köb, Valentin Stückl
Statisterie: Otto Hauptmann, Gisela Lang, Hans Meyer-Rosenthal, Jan Junghardt, Wolf Höft, Gianna Metzer, Sandra Herbrandt, Aljoscha Leonhard, Martina Puls, Karin Topolcnik Bogati
Live-Musik: Marvin Blamberg, Keith O’Brien, Jan-Sebastian Weichsel
Premiere am 11. Februar 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.dhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Tell wird zum Debattenstück über die Frage nach der Legitimität von Gewalt und ist so ein früher Vorgänger des Michael Kohlhaas. Was macht Gewalt aus einem Menschen? Selbst wenn alle Gerechtigkeit dieser Welt auf seiner Seite zu sein scheint?", schreibt Lothar Schröder von der Rheinischen Post (13.2.2023). Der Kritiker sah ein existenzielles Schauspiel. "Schillers Sprache bleibt unberührt und wird exzellent deklamiert." Der Kritiker schließt: "Tell wurde im Großen Haus des Schauspiels nicht der Vergangenheit entrissen. Er hat die Gegenwart nie verlassen."

Sven Westernströer fordert in der Westfälischen Rundschau (13.2.2023) "einen Tusch für Olaf Altmann". Altmann sei bereits bestens bekannt als Erbauer so simpler wie einleuchtender Bühnenbilder, dieser "wahnwitzige“ Raum setze seinem Schaffen nun jedoch die Krone auf. Und die Regie? Regisseur Roger Vontobel halte sich mit zeitkritischen Spitzen auffallend zurück. Ein wenig aktualisiere Vontobel den Stoff dann aber doch, was unterschiedlich gut gelinge.

Von Roger Vontobel sollte man keine eigensinnige Lesart erwarten, schreib Martin Krumbholz von der Süddeutschen Zeitung (14.2.2023). "Spürbar geht es ihm um die (melo-)dramatische Zuspitzung der Handlung." Die Schussszene enttäusche gleichwohl. "An vielen Stellen bietet die Inszenierung gut geöltes Regiehandwerk, aber gerade hier, in der entscheidenden Szene, versagt es." Und weiter: "'Operndramaturgie' hat man dem Perfektionisten Schiller gelegentlich vorgeworfen, und tatsächlich inszeniert Vontobel das Stück wie eine Oper. Die Lichtregie stimmt, Bühnennebel wabert, die Spieler sind, auf oder unter der Altmann-Platte, hübsch arrangiert."

Scharf arbeite Roger Vontobel die zwei Ebenen von Volk auf der einen Seite und dem Einzelnen auf der anderen Seite heraus, so Elisabeth Luft von Deutschlandfunk Kultur (11.2.2023). "Wir schauen dem großen Ganzen zu, also dem Volk, das sich widersetzt, aber auch dem Einzelnen, der versucht damit umzugehen, dass sich die Tyrannei auf das eigene Schicksal auswirkt." Die Kritikerin bringt diese Schwerpunktlegung in Verbindung mit dem Ukraine-Krieg und den nach Deutschland Geflüchteten. "Sehr, sehr starker Theaterabend, unheimlich klar und deutlich und in seiner Gänze unheimlich aktuell."

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