Der Reisende - Schauspiel Essen
Ein Land, durch Zugfenster betrachtet
14. September 2024. In Alexander Boschwitz' spät entdecktem Roman irrt ein Jude durch das Deutschland des Jahres 1938. Regisseur Hakan Savaş Mican entnimmt der Geschichte eine klare Botschaft.
Von Gerhard Preußer
14. September 2024. Es beginnt mit harmlosem Geplänkel und endet mit einem Schrei. Die Inszenierung will in ihrem Verlauf, ihrer Spannungskurve zeigen, wie aus bürgerlicher Idylle brutale Unterdrückung entsteht. Es geht um damals und um heute. Es ist viel, was diese Inszenierung will.
Zunächst also freundliches Warmplaudern mit dem Publikum: "Wer kennt diesen Film?" Wim Wenders Lisbon Story. Damals, 1994, war Europa ohne Mauern, man war frei zu reisen. Heute gibt es wieder Mauern an den Grenzen. Und damals, 1938, mussten Juden reisen. Zwei Bücher legt Schauspieler Mathias Znidarec nebeneinander auf einen Tisch: den Roman "Der Reisende" von Alexander Boschwitz, geschrieben 1938, und das Reisetagebuch des Regisseurs Hakan Savaş Mican, geschrieben zur Vorbereitung dieser Inszenierung. Gedoppelte Bühnenprosa also.
Eine Entdeckung
Boschwitz' Roman ist in Deutschland ein spätes Fundstück. Geschrieben im Exil 1938 als Reaktion auf die Reichspogromnacht, wurde er 1939 in England veröffentlicht, aber erst 2019 in der Originalsprache in Deutschland. Otto Silbermann, ein jüdischer Kaufmann verlässt in der Nacht der Verhaftungen seine Wohnung und irrt mit 40.000 Reichsmark aus der Auflösung seiner Schrotthandelsfirma in der Aktentasche umher, immer in Zügen durch Deutschland reisend, kann das Land aber nicht verlassen, bis er schließlich in eine Irrenanstalt eingewiesen wird, weil er auf seinem Recht als Bürger besteht.
Micans Tagebuch besteht aus Reflexionen über seine Biographie und die Lage Europas während seiner Reise nach Lissabon, Paris, Dünkirchen, Schaffhausen. Hier die Flucht des Juden im eigenen Land, die Aussichtslosigkeit des Kampfes gegen die eigene Gesellschaft, in der er verwurzelt ist, dort die Freiheit zu reisen, die Wurzellosigkeit des Migranten, der sich in Deutschland als "ungeliebtes Kind", als "Migrant ohne Geschichte" fühlt. Mican parallelisiert nicht seine eigene Reisegeschichte mit der des jüdischen Kaufmanns Silbermann. Er analogisiert nicht, er konfrontiert. Deutsche Vergangenheit aus jüdischer Perspektive, deutsche Gegenwart aus türkischer Perspektive. Die Blickrichtung wechselt, springt über die Handlungsachse. Diese Inszenierung will ein Achsensprung sein, nicht Schuss und Gegenschuss.
Seltene Perspektive
Wie konnte sich aus dem traditionellen deutschen Antisemitismus, aus der routinierten Verachtung und missgünstigen Akzeptanz, aus der Mischung von Diskriminierung und prekärer Symbiose die industrielle Tötungsmaschine der Vernichtungslager entwickeln? Welcher Prozess hat das ermöglicht, im Stimmungswandel und Gesinnungsbild der dreißiger Jahre? Es gibt nur wenige literarische Werke, die Aufschluss geben, die eine jüdische Perspektive zeigen. Boschwitz' Roman füllt eine Lücke. "Für Feinde wird man ein Geschäft, für Freunde zur Gefahr." So mussten Juden den immer konsequenter fortschreitenden Prozess der Entrechtung in den ersten Jahren nach 1933 wahrnehmen.
Alles im Einsatz
Micans Inszenierung führt alle Mittel auf, die das Theater hat, um Erzählung zu verlebendigen. Vor allem Musik. Alle vier Schauspieler:innen spielen mit zwei Bühnenmusikern in einer Band und treten nur aus dieser Funktion heraus, wenn sie eine der vielen Rollen verkörpern. Lene Dax singt betörend schön portugiesische Lieder (von Madredeus aus Wim Wenders' anfangs eingespieltem Film). Dazu kommen Videos, nicht nur aus "Lisbon Story", auch Aufnahmen aus Dünkirchen, Paris oder Duisburg, kunstvoll verlangsamt, gespiegelt, verzerrt.
Die Drehbühne kreist, die Projektionswand zeigt ihre Rückseite, der Eiserne knarrt klingelnd herab. Otto Silbermanns Geschichte aber wird über lange Strecken in kleinen Dialogszenen nur schnell angedeutet, unterbrochen von Micans geradewegs ins Publikum aufgesagten Reflexionen. Erst gegen Ende gewinnt die Inszenierung an Fahrt: Immer heftiger steigert sich Mathias Znidarec in Silbermanns Verzweiflung und pointierte Analysen hinein. Die Intensität eines Schauspielers wirkt stärker als die Vielfalt der Mittel.
Schließlich will Silbermann im Polizeibüro Anzeige gegen die Nazis erstatten, die seine Wohnung verwüstet haben. Dabei hat er ein verpacktes Bild dabei (von dem im Roman nicht die Rede ist) und als er es enthüllt, ist es nur der Schriftzug: "to resist" (Widerstand leisten), schwarz auf weiß. Das ist die Botschaft.
Silbermann endet in der Irrenanstalt. Die Insassen singen sanft das Comedian-Harmonists-Lied "Irgendwo auf der Welt gibts ein kleines bisschen Glück", statt wie im Roman "Juden raus" zu brüllen. In der Essener Inszenierung aber gibt er auch dort nicht auf: "Ich will fort! Ich komm hier schon raus!", schreit er. Verzweifelter Optimismus.
Nach dem Beifall erscheint das gesamte Team auf der Bühne und lässt eine Erklärung von "Zusammen gegen Rechts" verlesen, gegen die Entscheidung, der AfD für ihren Bürgerdialog den Saal der Essener Philharmonie zu vermieten, gegen das Eindringen der AfD in Kulturräume. So überschreitet mit politischem Appell die Kunst die Grenzen der Kunst und setzt sich doch folgerichtig fort als Politik.
Der Reisende
von Ulrich Alexander Boschwitz
In einer Fassung und mit Texten von Hakan Savaş Mican
Regie, Text: Hakan Savaş Mican, Bühne: Alissa Kolbusch, Kostüme: Miriam Marto, Video: Benjamin Krieg, Sebastian Lempe, Musikalische Leitung: Martin Engelbach, Kai Weiner, Dramaturgie: Maximilian Löwenstein.
Mit: Lene Dax, Alexey Ekimov, Philipp Noack, Mathias Znidarec, Ceren Bozkurt, Kai Weiner
Premiere am 13. September 2024
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.theater-essen.de
Kritikenrundschau
Einen "tief berührenden Theaterabend", eine "furiose Inszenierung" hat Petra Kuiper gesehen und schreibt in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (16.9.2024): "Der Abend verknüpft Hakan Sava_ Micans Texte mit dem Roman, aber er entwertet ihn nicht. Die Klammer ist ein Gefühl." Die Inszenierung sei nicht larmoyant, wirke bei aller Traurigkeit nicht angestrengt, "sondern wie mit leichter Hand auf die Bühne gezaubert". "Und als das Ensemble nach den Standing Ovations nach vorn kommt, um angesichts einer stärker werdenden AfD an die Zivilcourage jedes Einzelnen zu appellieren, nimmt man viel davon mit hinaus in die Nacht. Der Kopf ist voll, das Herz ist schwer. Gutes Theater kann beides erreichen."
Mit der Erzählerfigur könne Mican in intimen Szenen die banale Grausamkeit des Antisemitismus darstellen, ohne dass der Zusammenhang verloren geht, so Petra Zimmermann in den Ruhr Nachrichten (17.9.2024). Mathias Znidarec trage außerdem Micans persönliche Texte vor. Fazit: "Das Publikum sieht einen faszinierenden, kurzweiligen und wichtigen Abend, bestens inszeniert und gespielt und erschreckend aktuell." Es passe, dass nach dem Applaus ein Aufruf verlesen wird, mutig zu sein und aufzustehen gegen rechte Gewalt.
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Und für das Einwanderungsland Deutschland und seine immer noch viel zu weiße Theaterpublikumslandschaft kann es doch nur gut sein, wenn immer wieder einmal die Auseinandersetzung eines eingewanderten Regisseurs mit den zwangsauswandernden Deutschen der Shoa auf die Bühne kommt.
Im Nachgespräch zur heutigen Aufführung (10.10.2024) äußerte sich das fast durchweg “weiße“ (auch in Bezug auf Haarfarbe und Altersgruppe zu verstehen) Publikum sehr erstaunt, dass auch „jemand mit Migrationshintergrund“ sich dieser Deutschen Geschichte annähert. Das erscheint angesichts des Publikums in den Schulklassen unseres Landes ziemlich weltfremd.
Umso wichtiger sind die von Mican und dem Theaterteam angestoßenen Diskussionen.
Wohltuend, dass der herausragende Hauptdarsteller anschließend darauf verwies, dass in der Gegenwart Tausende solcher Flüchtlinge an europäischen Grenzen zurückgewiesen werden und damit die kollektive Theaterpublikums-Betroffenheit über Otto Silbermann auf die Gegenwart lenkte.
Um es noch einmal ins Positive zu wenden: Es ist gut, dass Theater wie Oberhausen Essen und Berlin solche Stücke spielen.
Wenn sie immer den gleichen Autor haben und dieser das zugrundeliegende Sujet immer wieder variiert, nun denn.
Schämen sollten sich einzig und allein die Rassist*innen, denen die Entstehung solcher Sujets überhaupt zu „verdanken“ ist.