Tot ist hier niemand

5. November 2023. Mal mehr, mal weniger texttreu: Büchners Dramenfragment ist gerade allgegenwärtig. Bei Regisseur Caner Akdeniz wird das Reclamheft nur ironisch gezückt und die Messer bleiben stumpf. Tragisches Helden- und Opfertum? Fehlanzeige. Subversiv ist sein Abend dennoch. Und sehr charmant obendrein.

Von Martin Krumbholz

"(Making) Woyzeck" in der Regie von Caner Akdeniz am Schauspiel Essen © Nils Heck

5. November 2023. Die Wucht des Textes in eine unmittelbare, bedrängende Erfahrung auch für das Publikum zu übersetzen, war offenbar die allererste Intention dieses Theaterabends in Essen. Er findet ganz oben im Grillotheater statt, auf einer Raumbühne, die früher "Heldenbar" hieß und von der neuen Intendanz in ADA umgetauft wurde; die Zuschauenden sitzen in zwei Reihen um eine Arena herum, zwischen ihnen, auf Monitoren, die fünf Akteure, vier Männer, eine Frau. In einem Guckkastentheater wäre der "Woyzeck" ein anderes Stück. Hier oben erleben wir ein "Making of" und keine Tragödie. 

Kumpanei mit dem Helden

Das macht am prägnantesten der Schluss deutlich. Woyzeck, der gedemütigte, ausgenutzte, von seiner Frau mit einem aufgeblasenen Tambourmajor betrogene Soldat erdolcht Marie und wird bald darauf überführt, so hat Büchner es in seinem Fragment erzählt. Opfer sind sie beide, sie und er. Das ist entscheidend für Büchners Sicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, wie auch immer man die ungeordnete Szenenfolge sortiert, welche Dramaturgie man ihr nachträglich angedeihen lässt.

Der junge Regisseur Caner Akdeniz, der über sich selbst andeutet, er habe "eine Reise von der Arbeiterschicht in die Akademikerschicht" hinter sich, und die habe auch bei ihm "Wunden" hinterlassen, nimmt also für sich in Anspruch, den Text gewissermaßen voraussetzungslos zu lesen. Das muss man erst einmal so akzeptieren, ob man die hier inszenierte Identifikation (oder Kumpanei) mit dem Helden des Stücks mag oder nicht. Jedenfalls erklärt die Geste zum Teil den provokanten Unernst, mit dem Akdeniz den Schluss spielen lässt.

In jedem Sinn subversiv

Es soll in dieser Lesart keine Opfer geben. Woyzeck hat schon vorher mit seinem Rasiermesser (im Stück muss er ja den Hauptmann rasieren) seine Hauptpeiniger, also den Hauptmann, den Doktor und den Tambourmajor, symbolisch "massakriert". Jetzt nimmt Marie, gespielt von der wieder sehr präsenten Sümeyra Yilmaz, das Messer und bringt sich selbst parodistisch um. Woyzeck ist die Sache damit aus der Hand genommen. Auf den im Raum verteilten Monitoren, auf denen vorher die Szenenüberschriften zu lesen waren, flackern jetzt die Titel diverser Blockbuster auf, "Harry Potter", "Titanic", "Spiel mir das Lied vom Tod". Und Yilmaz und Eren Kavukoğlu, der jetzt wirklich kein Woyzeck mehr ist, sondern der Protagonist eines "Making of", persiflieren spielerisch übertrieben einige kleine Szenen aus diesen Filmen (in denen es natürlich ums Sterben, um Liebe und so geht).

Stefan Diekmann (Hauptmann), Eren Kavukoğlu (Woyzeck) in "(Making) Woyzeck" nach Georg Büchner. Premiere am 4. November 2023 in der ADA (im Grillo-Theater). Regie: Caner Akdeniz. Foto: Nils HeckGemordet wird hier nur symbolisch: Stefan Diekmann (Hauptmann), Eren Kavukoğlu (Woyzeck) © Nils Heck

Tot ist hier niemand, im Gegenteil. Seinen Charme gewinnt der in jedem Sinn subversive Abend aus der munteren Interaktion mit dem Publikum. Wer das Pech hat, gleich neben dem Woyzeck-Darsteller zu sitzen und auch noch Tilman heißt, muss notgedrungen mitspielen und sich ausfragen lassen. Dafür ist Andres, bei Büchner Franz Woyzecks Kamerad und Kumpel, gestrichen. Es kommen hier gar keine unheimlichen Visionen und Spökenkiekereien vor.

Blick auf die Mechanismen eines Klassikers

Worum es im "akademischen" Sinn geht, hat der von Stefan Diekmann als fieser Zyniker in Lederkluft angelegte Hauptmann schon bald nach Beginn des kurzen Abends klargemacht, indem er ein Reclamheft mit einer Schulausgabe hervorzog und vorlas, dass der arme Soldat Woyzeck ausgenutzt, gepeinigt, betrogen und so weiter wird. Für die, denen der Stoff auf der Schule entgangen ist. (Aber dieser ist momentan flächendeckend angesagt, sonst würde das Stück nicht wirklich an jeder zweiten Bühne angesetzt.)

Was dem Essener Abend fehlt, ist die existenzielle Tiefe der Tragödie. Aber die wäre eben auch nur mit dem entsprechenden Helden- und Opfertum zu haben. Wir sind ganz offensichtlich nicht mehr in der Heldenbar, und im Guckkastenformat schon gar nicht. Was der Abend stattdessen bietet, und dafür sind die Intendantinnen Selen Kara und Christina Zintl angetreten, ist ein frischer, manchmal fast naiver Blick auf ein Werk des Kanons und dessen Mechanismen.

An Energie mangelt es nicht. Kavukoğlu ist ein kräftiger, viriler Woyzeck, nicht das Sensibelchen, als das er sonst so präsentiert wird. Mansur Ajang performt seinen Tambourmajor knapp jenseits der Grenze zur Parodie, schnappend und jaulend, einmal auf allen Vieren durch die Reihen streichend wie eine Raubkatze. Sven Seeburg gibt den Doktor schneidend bärbeißig, ebenfalls zynisch wie Diekmanns Hauptmann; es sind ja auch bei Büchner holzschnittartig, explizit "grotesk" angelegte Porträts ohne psychologische Ambition. Und Sümeyra Yilmaz, hier als Schwangere, dominiert den Abend gewissermaßen aus dem Hintergrund, aus der Defensive heraus. Aber selbst wenn sie nur scheinbar unbeteiligt zuschaut und nachdenklich betrachtet, wie der Mann aus der Arbeiterschicht das Stück liest, ist sie ein Magnet.

Hinweis 7. November 2023: Eine missverständliche Formulierung in einer Rollenbeschreibung wurde nachträglich verändert.

(Making) Woyzeck
nach Georg Büchner
Regie und Bühne: Caner Akdeniz, Mitarbeit Bühne: Marlene Lücker, Kostüme: Emir Medic, Musik: Giovanni Berg, Video: Jonas Friedlich, Dramaturgie: Maximilian Löwenstein.
Mit: Eren Kavukoğlu, Sümeyra Yilmaz, Mansur Ajang, Stefan Diekmann, Sven Seeburg.
Premiere am 4. November 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theater-essen.de

 

Kritikenrundschau

"Mir fehlt schon fast der Büchner", sagt ein wenig begeisterter Martin Burkert im WDR ( 6.11.2023). Der Abend sei ein bisschen experimentell, aber auch nicht besonders stark. Den wenigen Büchner-Worten fehle die lakonische Schärfe, "weil sie dann gemixt werden mit Filmjargon und Alltagssprache".

"Die soziale Dimension des Stücks, die Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse, die das Handeln dieses gedemütigten Irrläufers bis zum Femizid bestimmen, rücken in den Hintergrund", so Martina Schürmann in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (7.11.2023). Dafür zeigte Akdeniz ein Herz für Kämpfer. "So ironiesatt und bisweilen klamaukig Akdeniz die Vorlage in seine Lesart übersetzt, so ernst nimmt er doch die Aufgabe, den neuen Bühnenraum, die Ada, mit seinen technischen Möglichkeiten und Publikums-Interaktionen zu nutzen. Die Zuschauer sind hier nicht nur nah dran, sondern immer wieder auch angesprochen."

Kommentare  
(Making) Woyzeck, Essen: Kunstkritik
Lieber Herr Krumbholz, bitte weniger Kulturpolitik und mehr Kunstkritik.
Danke.
(Making) Woyzeck, Essen: Männlicher Blick
Ich habe diesen wundervollen, mutigen, humorvollen und sehr ungewöhnlichen Theaterabend gestern sehen dürfen und bin mit vielen Teilen der Kritik einverstanden.
Was mich stört: "Und Sümeyra Yilmaz, hier als Schwangere, dominiert den Abend in ihrer sexuellen Attraktivität gewissermaßen aus dem Hintergrund, aus der Defensive heraus."
Warum wird die Kraft dieser Schauspielerin UND ihrer Figur durch Ihren männlichen Blick auf ihre sexuelle Attraktivität reduziert und die Spielerin zum Objekt gemacht? Warum wird ausgerechnet dieser Aspekt ihres Seins hervorgehoben? Fragen über Fragen und immer wieder herzlich willkommen im Patriarchat.
Ansonsten- wie nah und verspielt dieses Paar am Ende erscheint und wie wertvoll zu sehen, dass Woyzeck seine antrainierte Männlichkeit zu überwinden sucht. Große Freude.
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