Wenig Hoffnung, viel Spaß

30. April 2023. Als Abschied aus der Intendanz Christian Tombeil hat sich das Ensemble des Essener Schauspiels gewünscht, Tankred Dorsts 15-Stunden-Stück "Merlin oder das wüste Land" auf die Bühne zu bringen. Der Wunsch wurde wahr, Regie führte Lars-Ole Walburg, und es blieb trotz 80er-Muffs kein Auge trocken.

Von Dorothea Marcus

Die Ritter:innen der Tafelrunde: Jan Pröhl, Alexey Ekimov, Dennis Bodenbinder, Sven Seeburg, Philipp Noack (König Artus), Stefan Migge, Jens Winterstein, Floriane Kleinpaß © Birgit Hupfeld

Essen, 30. April 2023. Auf einmal wollen Schauspieler*innen nicht nur in Findungskommissionen sitzen – sondern bestimmen auch selbst den Spielplan. Partizipation ist angesagt. Passiert ist sie zumindest auch in Essen zum Abschied des Intendanten Christian Tombeil: Als Abschlussstück hat sich das Ensemble Tankred Dorsts "Merlin oder das wüste Land" ausgesucht, uraufgeführt 1981 in Düsseldorf. Ein Riesenbrocken von Stück – nahezu alle Ensemblemitglieder spielen mit und geben gefühlt alles. Aber taugen die 400 Seiten Weltepos vom Scheitern der Utopien heute überhaupt zur Welterklärung? 

Die Eighties lassen grüßen

Regisseur Lars-Ole Walburg unternimmt mit "Merlin“ (rund 15 Stunden Spielzeit, einst als längstes Stück der Theatergeschichte bezeichnet) einen Ritt durch Zeiten, auch Theaterstile. Es beginnt klamaukig in der Theaterbar im Foyer vor Merlins Geburt, Riesin Hanne und ihr Bruder suchen den Vater des Babies: Grotesk gestikulierend, mit roten Nasen, Rauschebärten, Rüschenkleidern sausen sie um uns herum, als wären wir in einem Laientheater vom Dorf. Die Geburt von Merlin findet dann im Theatersaal statt: Und Merlin (Thomas Büchel) wirkt wie der einzig Normale im überdrehten Kostüm-Spektakel. Nur dass er die ganze Zeit barfuß läuft und Zopf trägt wie ein sendungsbewusster Seminarguru der 80er-Jahre – und so hören sich manche Sätze dieses doch in die Jahre gekommenen Stücks auch an. 

Doch Theaterzauber macht alles schöner: Videobäume wachsen auf der Wand, die sich alsbald öffnet zu einer Art Industriehallen-Kulisse – vielleicht ähnlich jener Hamburger Fischhalle, für die Tankred Dorst sein monumentales Stück einst schrieb, wo es aber nie aufgeführt wurde. Lustig ist es, wie die Ritter zu Merlins mild autoritären Blicken versuchen das Schwert Excalibur aus dem Boden zu ziehen. Bis auf den Hochstapler Sir Kay, der eine Metallallergie vorschützt, messen, stemmen, schwitzen und pumpen die anderen vergeblich. Am Ende schafft es der kindliche Knappe mit wehenden Locken Artus (Philipp Noack). Aber er, der zunächst weich, zweifelnd und sympathisch wirkte, entwickelt sich im Laufe des Abends zum staatsmännisch simulierenden Totalausfall. 

Weltrettung der Ritter

Die eigentliche Tafelrunde ist dann nur eine schlichte weiße Stuhlreihe. Um zu zeigen, dass einer der Stühle für den "Auserwählten" reserviert ist und leer bleiben muss, erscheint ein Mütterchen mit Krücken, das – aus dem Publikum aufstehend – erst über dieses Theater als "Game of Thrones" für Arme wettert und sich dann auf dem reservierten Stuhl niederlässt und prompt "explodiert" (= verschwindet), wie es der Stücktext vorschreibt für jeden, der es wagt, die Regel zu brechen. Nun sind die geltenden Konventionen verdeutlicht, losgehen kann es mit der Weltrettung der Ritter. Sie schwenken rote Fahnen, Videobilder zeigen Wende-Bilder. 

Merlin3 Birgit Hupfeld uDas spielwütige Ensemble, mit roten Fahnen und Video-Leinwand © Birgit Hupfeld

Janina Sachau trällert "Winds of Change“ vom Zuschauerrang – und trifft damit den superblonden Ritter Lancelot bis ins Mark. Die Liebesgeschichte der beiden zieht sich wie ein guter roter Faden durch die Stunden: Selbst wenn sie einander anschmachtend Luftschach spielen oder sich im Selfie-Modus vor der Kamera heftig die Finger lutschen, geben die beiden der Geschichte Tiefe und Würde. Janina Sachau verkörpert die Liebeszwänge ihrer Figur sensibel und warm, während Alexey Ekimov großartig tumbe Macho-Karikatur und ehrgeizigen Ernst des edlen Recken vereint. Kurz vor der Eifersuchtsszene mit Elaine, die ebenfalls mit Lancelot im Bett lag und einen Sohn von ihm hat, tritt Janina Sachau an die Rampe und macht die Zuschauer darauf aufmerksam, was in weit über 60 Inszenierungen des Stücks bisher nicht weiter auffiel: Hier kommt nun die einzige Szene des "Weltenepos", in der zwei Frauen direkt miteinander sprechen. Knapp nicht durchgefallen beim Bechdel-Test. 

Systemsprenger der Mythen-Welt

Und dann gibt es da ja auch noch Parzival, das wilde Kind, das Ritter werden und Gott finden will und dafür über Leichen geht: Silvia Weiskopf ist ein struppiges, ignorantes Wesen, das zunehmend verlorener über die Bühne wütet, bis sie eines Tages von Merlin die Empathie lernt – die dann aber später auch keine große Rolle mehr spielt. Wie ein orientierungsloses böses Omen wirkt diese Figur – ein Systemsprenger der Mythen-Welt. 

Merlin1 Birgit Hupfeld uSilvia Weiskopf (später als Parzival zu sehen),, Dennis Bodenbinder, Stefan Migge (Clowns) © Birgit Hupfeld

Nach der Pause darf ein Teil des Publikums dann auf der Bühne und der prächtig geschmückten Drehbühne sitzen, was erneut die Ungleichheit der Klassen markiert – und den Weltrettungsanspruch Merlins unterminiert. In diesem Mittelteil franst die Handlung aus, der ungeliebte Sohn Mordred kommt ins Spiel und tötet seine Mutter, während Merlin an seiner Mission zu zweifeln beginnt, die Menschen "zu sich selbst" zu bringen – sowieso ein ziemlich wolkiges Anliegen. Brutale Videobilder von Krieg und Zerstörung illustrieren die Vergeblichkeit seines Weltverbesserungsfurors, bis Merlin, wir sehen ihn ganz winzig auf einer Drohnenaufnahme, frustriert ins Meer wandert und von betörend schönen Wellen verschluckt wird (Videokunst des Abends: Konrad Kästner) – viel später wird er dann nochmal in Glitzerumhang von der Decke schweben. 

Lust am Untergang

Nach der zweiten Pause stehen dann auch die Ritter im Kunsteis-Nebel der Utopien. Keine Gralserlösung, weit und breit. Leichtes Spiel für Mordred, am Ende als Despot alle ins Verderben zu führen: Bleichgesichtig, mit blauer Perücke und schwarzumrandeten Augen ist Trixi Strobel das überdrehte Abziehbild eines Autokraten, wirft Bonbons zu den Zuschauern, umgibt sich mit Schlägertrupps und zelebriert die Lust am Untergang. Am Ende verkündet eine Roboterstimme knarrend, dass alle gestorben sind – unklar, ob sie es vorhersahen oder bewusst herbeiführten. Mehr Hoffnung ist heute Abend nicht zu holen. 

In Dorsts Sätzen schwingt die Friedensbewegung der 80er-Jahre mit, und in Zeiten des Kriegs in der Ukraine hinterlassen sie ein seltsames Gefühl. Ist es überhaupt sinnvoll, das Stück heute zu spielen? Als Material für ein großes Schauspielerfest taugt es weiterhin, soviel steht fest. Lars-Ole Walburg manövriert souverän, seine manchmal etwas routiniert wirkenden Regieeinfälle werden wettgemacht durch die Leidenschaft der Schauspieler bei ihrer Abschieds-Premiere. Mitreißend energetisch, manchmal übertrieben, agieren sie allesamt, bis auf ein paar Längen, trotz aller gefühlten Verstaubtheit des Stoffs aus ganz anderen, vor-kriegerischen und vor-apokalyptischen Zeiten – beim Schlussapplaus muss mancher eine Träne verdrücken.     

Merlin oder das wüste Land
von Tankred Dorst, Mitarbeit Ursula Ehler
Regie: Lars-Ole Walburg, Bühne und Kostüme: Claudia Charlotte Burchard, Musik: Lars Wittershagen, Videografie: Konrad Kästner, Dramaturgie: Carola Hannusch.
Mit: Alexey Ekimov, Sabine Osthoff, Sven Seeburg, Lene Dax, Janina Sachau, Trixi Strobel, Dennis Bodenbinder, Stefan Migge, Silvia Weiskopf, Thomas Büchel, Ines Krug, Jan Pröhl, Jens Winterstein, Rezo Tschchikwischwili, Florian Kleinpaß.
Dauer: 4 Stunden 30 Minuten, 2 Pausen

www.theater-essen.de

 

Kritikenrundschau

"Zauberer Merlin kommt im Heute an" ist die Kritik von Jens Dirksen in der WAZ (2.5.2023) übertitelt. Das Ensemble selbst habe sich das Stück zum Abschied von Christian Tombeils Intendanz gewünscht. Das faustisch ambitionierte Weltmärchen zwinge fast dazu, alles aufzubieten, was die Theatermaschinerie hergibt: von der Drehbühne und himmelhoch hereinschwebenden Gestalten über clownesken Klamauk, Theaterblutspritzer, zirzensische Tricks und gelegentlichen Gesang bis hin zu Videoprojektionen. Mit Liebe zum Detail werde hier gearbeitet und schlage dann doch in ein Stück zur Zeit zwischen Putin-Krieg und Klima-Verwüstungen. "Hier wird das Dilemma des blutbefleckten Kampfes für eine bessere Welt der Freien und Gleichen ausgebreitet, dem immer wieder das Begehren und die Lust an der Macht dazwischenkommen."

"(A)ufwändig inszeniert", findet Britta Helmbold von der Halterner Zeitung (1.5.2023) diese Inszenierung. "Ermattet vom langen Theaterabend waren" in ihrer Wahrnehmung am Ende "die Zuschauer, die die ideenreiche Inszenierung und das motiviert agierende Ensemble, viele übernahmen mehrere Rollen, mit viel Applaus feierten."

 

Kommentare  
Merlin, Essen: Eindeutig zu lang
Ich fand das Stück eindeutig zu lang. Dadurch empfand ich es als eine "Zumutung".

Die schauspielerische Leistung war super!!
Merlin, Essen: Mitspracherecht
Dass die Schauspielenden am Spielplan mitentscheiden durften, halte ich für eine wagemutige These, solange über den Findungsprozess nicht mehr bekannt ist.

Aber mehr Mitsprache in wäre doch ein schönes Ziel.
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