Die Lücke 2.0 - Schauspiel Köln
Vertuschen, schreddern, ignorieren
6. November 2021. Die Kölner Keupstraße war 2004 Tatort eines schrecklichen NSU-Anschlags. Im Rahmen des bundesweiten Projekts "Kein Schlußstrich" führt Nuran David Calis nun ein Theaterpublikum durch die Straße. Es endet im Theater, wo Schauspieler:innen und Laien die Hinterlassenschaften des Anschlags in Denken und Fühlen verhandeln.
Von Dorothea Marcus
6. November 2021. Hunderte von Kilometern reisen die Familien an, erzählt Juwelier Muhammed Özkan, um in der Keupstraße orientalische Heimatgefühle zu genießen, für 25.000 Euro Hochzeitsschmuck zu kaufen und danach Éssen zu gehen. Konditor Servet Özdag nennt sich den Spaßvogel der Straße, erzählt uns von seiner Magen-OP zum Abnehmen und bietet augenzwinkernd Kekse und einen von vier Ehefrauplätzen an seiner Seite an. Im frisch renovierten Hinterhof ("Hier werden Schutzgeld und Drogen übergeben", scherzt Özkan), dürfen wir einem Goldschmied und seinem Sohn beim Gravieren von Eheringen zusehen, für die kleine Moschee ist dann leider keine Zeit mehr. Als eine große, warmherzige, fröhliche und vor allem weltoffene Familie erscheint die Straße, in der 2004 das Nagelbombenattentat des NSU geschah, bereit, auch Theaterzuschauer ohne Weiteres in ihrer Mitte oder zumindest als Kundschaft aufzunehmen.
Erschüttertes Vertrauen
Die Utopie von Freude, Diversität und Gemeinsamkeit ist allerdings schnell vorbei, als die fünf geführten Zuschauergruppen wieder im Kölner Schauspiel ankommen und "Die Lücke 2.0" beginnt: auf der Bühne erscheinen Verbitterung, Wut und Trauma auch mehr als 17 Jahre nach dem Anschlag noch ganz frisch. Im Jahr 2014, noch während der NSU-Prozesse, hatte Nuran David Calis erstmals mit Schauspielern und drei betroffenen Anwohnern ein Theaterstück erarbeitet, eine Sternstunde des dokumentarischen Theaters, jahrelang stand es auf dem Spielplan.
Erstmals strömten türkischstämmige Bewohner der Keupstraße massenhaft ins Theater, auch Muhammed Özkan hat das Stück dreimal gesehen – "und sich jedes Mal danach in Deutschland nicht mehr sicher gefühlt". Doch hat sich, Dank des Stücks und der vom Schauspiel Köln initiierten Birlikte-Feste alles für die traumatisierte Straße zum Besseren gewendet, wie er sagt. Gerne würde er dem Dramaturgen von damals, Thomas Laue, ein Denkmal auf der Keupstraße errichten. Für die Laien auf der Bühne, Ismet Büyük, Ayfer Sentürk Demir und Kutlu Yurtseven, ist das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat dagegen erschütterter denn je. Die offenen Fragen des NSU-Prozesses, rechtsradikale Netzwerke in Polizei und Bundeswehr, diverse rechtsextreme Morde haben die ehemaligen Anwohner der Keupstraße desillusioniert und hoffnungslos gemacht.
Radikale Ehrlichkeit
Das Bühnenbild (Anne Ehrlich) ist wie auch schon 2014 ein zweigeteilter, drehbarer White Cube, der zugleich Projektionsfläche für Videofilme und Interview-Aussagen ist, der Spalt – oder besser: Abgrund - zwischen den Teilen ist wie damals mit Straßenlaterne dekoriert. Wie damals sitzen Büyük, Demir und Yurtseven auf der einen, zwei Schauspieler auf der anderen Seite – heute sind es Stefko Hanushewsky und Kristin Steffen (warum zieht ihr Bühnenbildnerin Anne von Bülow eigentlich schwarze Lackpumps an?).
Als Perspektive der deutschen Mehrheitsgesellschaft – jene "Aufklärungsterroristen", die ihre vermeintliche Freiheit immer wieder anderen aufzwingen wollen – verteidigen sie immer schön beschwichtigend die Errungenschaften der Demokratie, auch wenn deren Institutionen in Sachen NSU aufs Schwerste versagten. Während zu Beginn das stumme Überwachungsvideo läuft, das Böhnhardt oder Mundlos beim Transportieren der Bombe mit Fahrrädern zeigt, sehen sich die Parteien auf der Bühne schweigend an, die Lücke ist heute wie damals das, was unüberbrückbar zwischen ihnen klafft.
Es ist auch in der weitgehend überarbeiteten Version 2.0 das Verdienst von Nuran David Calis, durch die Dialogform Gedanken aussprechen zu lassen, die man sonst eher nicht öffentlich hören kann. Damit wird eine Suchbewegung formuliert, die sich Raum für Zweifel, Reflexion, Fremdheit nimmt und mit präziser Sprache und radikaler Ehrlichkeit ringt. Nicht phrasenhaft "Wir versuchen die Lücke zu schließen" zu sagen, sondern sie erst einmal "überbrücken" zu wollen.
Auf dem rechten Auge blind
18 Kapitel hat der Abend, von hinten werden sie hinuntergezählt. Immer wieder geht es wie damals um die Tat und die Verdächtigungen an den Keupstraßen-Bewohnern selbst, wird das zynische Paulchen Panther-Video eingeblendet, die Tatsachen sind weitgehend bekannt. Immer wieder geht es aber auch um kulturelle Unterschiede oder die schmerzhaften Gefühle von als "fremd" Gelesenen, nicht repräsentiert oder beachtet zu werden in der Mehrheitsgesellschaft. "Ich dachte schnell, das können nur Nazis sein, aber niemand wollte das migrantische Wissen hören", sagt Yurtseven, "ich kann nicht mehr an Gerechtigkeit glauben. Es wird nie aufhören. Dein Leben wird nicht wertgeschätzt", fügt Demir hinzu. Dass sich in Deutschland nichts geändert hat am strukturellen Rassismus in den Behörden, die zudem bei der Aufklärung dramatisch versagen und vertuschen, schreddern, Spuren ignorieren, auf dem rechten Auge blind sind, hat sich auch heute nicht geändert. "Der Notausgang in der Shishabar in Hanau war zugeschweißt wegen der Razzien, deswegen sind viele junge Menschen gestorben", klagt Yurtseven an.
Alle auf der Bühne, auch die drei Laien, sprechen frei improvisiert, hangeln sich an vorgegebenen Fragen entlang, die bereits im Hörstück thematisiert wurden. Etwa, ob es eine Version 2.0 auf der Bühne überhaupt geben muss. "Wir müssen es machen, weil es den NSU 2.0 gibt", sagt Büyük. Stets kann von Neuem Aktuelles einfließen, heute etwa ist es der Prozessbeginn gegen einen Kommunalpolitiker, der auf türkische Jugendliche schoss. Zum Schluss werden auch die stockenden Pläne für ein Kölner Mahnmal thematisiert – am 9.11. soll eine Entscheidung fallen. Zuletzt sprach alles doch dafür, dass der von den Anwohnern gewünschte Platz möglich sein wird. "Wir werden sehen, ob wir über die Auswahl der gezeigten Bilder und Filme mitentscheiden können", sagt Yurtseven und man muss befürchten, dass auch dies nicht selbstverständlich sein könnte.
Richtig wütend wird am Ende auch Kristin Steffen: sie, die vorhin noch das Gericht verteidigt hatte, da Empathie ja nicht seine Aufgabe sei, wütet über die Anklageschrift von 3000 Seiten, in denen Fakten lächerlich unverbunden nebeneinander stehen – und sich rassistische Sätze eingeschlichen haben. Und so bringt Nuran David Calis in bewährter Form Gefühle und Fakten zusammen, fragt dort weiter, wo Dinge vermeintlich unaussprechlich erscheinen, lässt die Betroffenen echt und ernsthaft zu Wort kommen. So unerbittlich, schmerzhaft und larmoyant das manchmal ist, so wenig Neues es letztlich erzählt – so wichtig erscheint der Abend als veränderbares Symbol dessen, was Kommunikation und Begegnung durch Theater bewegen können. Die Schlussszene erzählt dann aber doch noch, wie Kinder auf einmal wieder Einzug in die einst verwaiste und traumatisierte Straße nahmen. Da ist der fröhliche Muhammed Özkan auf einmal wieder ganz nah.
Die Lücke 2.0
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Anne von Bülow.
Mit: Ismet Büyük, Ayfer Sentürk Demir, Stefko Hanushevsky, Kristin Steffen, Kutlu Yurtseven
Premiere: 05. November 2021
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause
www.schauspiel.koeln
kein-schlussstrich.de
Mehr dazu: In der Reihe "Neue Dramatik in zwölf Positionen" spricht Nuran David Calis über seine Theaterarbeit am NSU-Komplex.
Kritikenrundschau
"Der Versuch die Lücke zu schließen, bleibt bruchstückhaft", schreibt Nobert Raffelsiefen im Kölner Stadt-Anzeiger (8.11.2021). "Doch es entsteht Raum für Geschichten, man hört den Betroffenen zu, nimmt ihr Ängste, ihre Wut und ihre Anklagen wahr." Die Chronik der Ereignisse werde ebenso gegenwärtig wie "das Lebensgefühl der Menschen, für die die Keupstraße auch ein Stück Heimat bedeutet".
"Viel ist aus der alten Inszenierung übriggeblieben, dennoch ist es sinnvoll, mit "Die Lücke 2.0" ein Update zu präsentieren", sagt Stefan Keim im Deutschlandfunk Kultur Fazit (5.11.2021). "Theatereffekte sind an diesem Abend unwichtig. Es geht um die Debatten, die während der Proben geführt wurden. Ehrlich und intensiv bringen die fünf Darstellerinnen und Darsteller manche Probleme auf den Punkt. Und tun nicht so, als ob es einfache Lösungen gäbe."
"In dieser überarbeiteten Fassung kommt die Unzufriedenheit mit den Ergebnissen des NSU-Prozesses genauso zu Sprache wie die Tatsache, dass Köln die einzige Stadt ist, in der es noch kein Mahnmal gibt", schreibt Axel Hill in der Kölnischen Rundschau (8.11.2021). "Der Abend wird Unbelehrbare nicht überzeugen, aber alle anderen im Gefühl bestärken, dass man weiterhin an einem Strang ziehen muss, auf dass eines Tages dieses Stück überflüssig geworden ist."
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