Mölln 92/22 - Schauspiel Köln
Kein Double, kein Fake
9. April 2022. 30 Jahre und ein langer Schatten: Mölln 1992, der deutsch-deutschen Wiedervereinigung folgte der rechte Terror. In der Eulenspiegel-Stadt und an vielen Orten. Nuran David Calis und sein Ensemble blicken am Schauspiel Köln mit "Mölln 92/22" zurück und zeigen: Theater als widerständige Erinnerungsarbeit.
Von Gerhard Preußer
9. April 2022. Mölln, die Stadt des lustigen Till Eulenspiegel – so war es und so ist es nicht geblieben. Mölln, die Stadt des rechtsradikalen, ausländerfeindlichen Terroranschlags, bei dem 1992 drei Menschen starben. So wird es bleiben. Und das ist gut so.
Nuran David Calis konzentriert seine Theaterarbeit immer wieder auf die Perspektive der Opfer rassistischer Gewalt. Genauer gesagt: Er dreht die Blickrichtung um. Von den Tätern auf die Opfer. Das war sein Ansatz bei seinem ersten Kölner Projekt Die Lücke und dem Nachfolgeprojekt Die Lücke 2.0 über den NSU-Anschlag in der Kölner Keupstraße und das ist sein Ansatz jetzt wieder in "Mölln 92/22".
Theater als Erinnerungsarbeit
Zwei stadtbekannte Neo-Nazis warfen Brandsätze in zwei Häuser in Mölln, in denen türkische Familien wohnten. Bahide Arslan, ihre Enkelin Yeliz Arslan und ihre Nichte Ayşe Yilmaz starben in den Flammen, viele Familienmitglieder wurden verletzt. Das ist nun 30 Jahre her und kaum einer erinnert sich noch daran. Um Erinnerung geht es Calis. Also darum, was die Gegenwart mit der Vergangenheit gemeinsam hat. Der Abend ist eine geballte Ladung an Information und Emotion über unsere Migrationsgesellschaft aus der Sicht der Migrant:innen.
Nuran David Calis arbeitet wie in seinen andere Projekten ohne Rollen, das heißt mit den Schauspieler:innen, die ihre eigene Biographie einbringen. Also hören wir zunächst Kristin Steffens Erinnerungen an ihre Jugend auf der Schwäbischen Alb, wo es scheinbar keinen Rassismus gab, dann aber doch Hitlers Geburtstag gefeiert wurde. Stefko Hanushewsky erzählt von seiner oberösterreichischen Jugend in einem Dorf, in dem noch die Leichen der ermordeten KZ-Flüchtlinge aus Mauthausen unter der Erde lagen. Und Ismail Deniz erinnert sich an Kämpfe zwischen Skin-Heads und türkischen Jugendlichen in Dinslaken-Lohberg. Das waren die 90er Jahre.
Mit Bildern, Interviews, Zitaten und solchen Erinnerungsberichten der Darsteller:innen werden die 90er Jahre vorgeführt: Wiedervereinigung und fremdenfeindliche Anschläge gehörten zusammen. Und die Reaktion der Politik auf die Anschläge war nicht Empathie mit den Betroffenen – Kanzler Kohl lehnte laut seinem Sprecher "Beileidstourismus" ab –, sondern die Einschränkung des Asylrechts. Und Botho Strauß orakelte im "Anschwellenden Bocksgesang" von der Fremdenfreundlichkeit als Kehrseite des deutschen Selbsthasses. Hanushewsky und Deniz streiten über Botho Strauß' Sätze (und tatsächlich liest man heute die Frage, "ob unsere Gewaltlosigkeit den Krieg nicht bloß auf unsere Kinder verschleppt" mit einem gänzlich anderen Unbehagen als damals).
Aus der Perspektive der Opfer geblickt
In der Dramaturgie des Abends folgt auf das Panorama der 90er die Fokussierung auf den Anschlag in Mölln: die Namen der Opfer, die Bilder von damals, die Statements der Politiker.
Aber warum gerade Mölln und nicht Solingen, Lichtenhagen oder Hoyerswerda? An Mölln zeigt Calis sein eigentliches Anliegen: Die Änderung der Gedenkstruktur. Bei den Anschlägen, die es ja bis heute gibt, sind die Opfer nicht nur die Getöteten oder Verletzten, sondern die ganze migrantische Bevölkerung. In verschiedenen Videointerviews, unter anderen mit Omid Nouripour, dem Vorsitzenden der Grünen, zu hören, welche Wirkung der Anschlag von Mölln auf sie hatte, ist der eindringlichste Beitrag zum Perspektivwechsel (das digitale Programmheft enthält noch viele solcher Videos). Und in die Hand dieser Opfer gehört das Gedenken, ihnen gehört das Wort. Das lässt sich am Beispiel von Mölln zeigen. Familie Arslan organisiert am Jahrestag des Anschlags seit 2013 ihren eigenen Gedenktag, weil sie bei dem gleichzeitigen Gedenktag der Stadt die Redner nicht bestimmen darf.
Sparsame Inszenierungsmittel
Dass hier so wenig von der Theaterkunst der Inszenierung die Rede ist, liegt daran, dass sie so sparsam und effektiv eingesetzt wird. Kein Regieeinfall drängt sich in den Vordergrund. Die Bühne besteht aus drei beweglichen Elementen (Bühnenbild: Anne Ehrlich, wie bei "Die Lücke"). Das Mittlere ist ein Kubus, in den man nur wenig Einblicke hat, ein Wohnraum scheint es zu sein. Die Darsteller:innen bewegen sich zeitweise darin und werden dabei auf Videoscreens gezeigt. Erst am Schluss öffnet sich die Wand und gibt den Blick frei auf den Innenraum. Einblicke geben in die prekäre migrantische Normalität, das ist das Ziel der Inszenierung.
Die kunstvolle Kunstlosigkeit solcher Abende, mit denen sich das Kölner Schauspiel lautstark in gesellschaftliche Kontroversen einmischt, hat immer ihren Umschlagspunkt am Ende: Der letzte Hauch von Fiktionalität evaporiert und kristallisiert sich in einer Mini-Talkshow. Ibrahim Arslan, der vor dreißig Jahren als kleines Kind den Anschlag überlebte, kommt mit seinem Bruder auf die Bühne. Ganz real, kein Double, kein Fake und keine Stellvertretung. Er schärft dem Publikum noch einmal ein: Opfer sind nicht schwach. Opfer leisten Widerstand. Erinnern heißt nicht vergeben. Stefko Hanushevsky darf noch die scheinbar naive Frage der Mehrheitsgesellschaft stellen: "Und was ist denn jetzt die Lösung?". Die Antwort: "Den Wert der Frage, den Wert des Konflikts anerkennen." Das gelingt in diesem Projekt noch besser weil durchdachter als in "Die Lücke": das Publikum Konflikte erkennen lassen.
Mölln 92/22
von Nuran David Calis
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Patricia Ruszkiewicz, Musik: Vivan Bhatti, Video & Interviews: Karnik Gregorian, Licht: Jan Steinfatt, Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki.
Mit: Ismail Deniz, Stefko Hanushevsky, Kristin Steffen.
Premiere am 8.4.2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.schauspiel.koeln
In unserer Video-Reihe Neue Dramatik in 12 Positionen sprach Regisseur und Autor Nuran David Calis jüngst über seine Theaterarbeit.
Kritikenrundschau
Dieses "kantige und kompromisslose Dokumentartheater beeindruckt" Stefan Keim vom Deutschlandfunk (9.4.2022). Er hat in Köln einen "Abend voller Menschlichkeit und Wärme, aber ohne falsches Versöhnungskuscheln" gesehen. Dem Stück gehe es "darum, wie rechtsradikaler Terror heruntergespielt und halbherzig bekämpft wurde über Jahrzehnte hinweg und darüber, wie mit den Opfern umgegangen wurde."
"Erinnern heißt nicht versöhnen, erinnern heißt stören", zitiert Rezensent Axel Hill im Bonner General-Anzeiger (11.2.2022) die Figur von Darsteller Stefko Hanushevsky, die dies zum Schluss des Stückes sagt. Das sei auch das Motto, unter dem Nuran David Calis die Thematik mit ihren vielen Facetten auf die Theaterbühne bringe. "Gemeinsam wurden sie dafür bei der Premiere in Köln frenetisch bejubelt", erzählt der Kritiker. Mann könne einwenden, der Abend sei ein "offene Türen Einrennen" bei all denen, die bereits überzeugt sind, gibt er zu bedenken. Doch diesen Einwand entkräftet der Kritiker in seinem Fazit zur Inszenierung, denn diese gebe selbst eine Antwort darauf. Sie liege im Text der Figur von Ismail Deniz, die sagt: "Die Rechten aber, die beschäftigen sich mit diesem Thema, und zwar aktiv und rege, und deswegen rücken sie in den Vordergrund. Und irgendwann übernehmen sie das Ruder."
"Das Leid der Überlebenden können wir nicht erfassen, aber ihre ohnmächtige Wut, die spürt man an diesem Abend selbst in sich hochkochen, gemischt mit einer überwältigenden Scham", schreibt Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (9.4.2022). Erinnern heiße stören, meint der Kritiker und bezieht dies im affirmativen Sinne auf den für ihn gelungenen Abend. Mit klarem Appell an die Leser:innen schließt er seine Kritik: "Schauen Sie sich dieses Stück an."
Im WDR (11.4.2022) sieht Christoph Ohrem in dieser Inszenierung die "Kontinuität des Rassismus" aufgezeigt. Es passiere theatral an dem Abend nicht "wahnsinnig viel", erzählt der Rezensent. Dies sei "zugegebenermaßen etwas spröde", aber inhaltlich "so stark", dass der Abend eine klare Berechtigung habe. Ohrem, laut Selbstverortung Teil der weißen Mehrheitsgesellschaft, musste sich mit seinem Reflex auseinandersetzen, Rassismus als etwas zu begreifen, das "nichts mit mir zu tun hat" – denn das habe es eben doch.
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