Die Fremden / Der Kaufmann von Venedig - Stefan Otteni verknüpft in Münster zwei Shakespeare-Texte zu eindrucksvollem politischen Theater
Jeder kreist um sich allein
von Sascha Westphal
Münster, 4. November 2017. "Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?" Dreimal erklingt diese Frage und mit ihr auch die anderen Fragen aus Shylocks berühmtem Monolog. Allerdings hält er ihn, wie von Shakespeare vorgesehen, nur ein einziges Mal. Zuvor ist es der Prinz von Marokko, einer der glücklosen Freier der umschwärmten Millionenerbin Portia, der sich Shylocks Worte zu eigen macht und voller Verzweiflung fragt: "Hat nicht ein Muslim Augen?" Im letzten Akt greift schließlich noch Nerissa, Portias Begleiterin, den Monolog auf und stellt ihn noch einmal in einen etwas anderen Kontext. Nun ist es eine Frau, die die Männer daran erinnert, dass alle Menschen sterben, wenn sie vergiftet werden.
Erboste Zwischenrufe
Diese Appropriationen weiten den Blick auf das wohl problematischste aller problematischen Stücke William Shakespeares. Ohne den Schmerz und die Wut Shylocks zu relativieren, deuten sie Verbindungen an, die nur niemand im Stück wahrhaben will. Für Solidarität und Verständnis ist weder in der Welt der Kaufleute von Venedig noch auf Belmont, Portias paradiesischem Landsitz, Platz. Jeder kreist alleine um sich und wird so an den anderen schuldig. Als der Prinz von Marokko, der in Stefan Ottenis Inszenierung von der in Damaskus geborenen Schauspielerin Zainab Alsawah gespielt wird, auf Belmont um Portia wirbt und sich der von deren Vater auferlegten Kästchenprobe stellt, bekommen Portias sarkastische Kommentare schnell einen xenophoben Einschlag. Sie erträgt es nicht, dass Alsawah immer wieder Arabisch spricht.
Aber nicht nur die Erbin verliert in dieser Szene die Geduld. Auch aus dem Saal kommen sehr schnell erboste Zwischenrufe. Immer wieder wird Zainab Alsawah aufgefordert, Deutsch zu sprechen. Der einsetzende Tumult ist ebenso von Otteni inszeniert wie die Aktion, die schon vor der Aufführung im Foyer für Irritationen und zumindest bei einigen Zuschauern auch für Verärgerung gesorgt hat. Ein paar "besorgte Bürger von Münster" haben kleine Flugblätter mit der alarmistischen Überschrift "Überall sind die Fremden!" verteilt und so Werbung für eben die fremdenfeindlichen Haltungen gemacht, die dann bei Zainab Alsawahs Auftritt offen zu Tage treten.
Grandioser rhetorischer Kniff
Schon in seiner Münsteraner Inszenierung von Joël Pommerats La Révolution #1 – Wir schaffen das schon hatte Stefan Otteni mit im Saal verteilten Statisten gearbeitet, die das Geschehen auf der Bühne mal lauter, mal leiser kommentiert haben. Damals war diese Methode Teil der Vergegenwärtigung historischer Ereignisse und Prozesse. Diesmal konfrontiert sie das Publikum ganz direkt mit sich und seiner Umwelt. Zum einen leitet Otteni mit den 'Zuschauerprotesten' geschickt über zu "Die Fremden", der von Shakespeare geschriebenen Szene eines um 1600 von mehreren Autoren verfassten Stücks mit dem Titel "Sir Thomas Morus", über. Zum anderen erinnern die aggressiven Ausbrüche an den Eklat in der Kölner Philharmonie. Im Februar 2016 hatte ein aufgebrachtes Publikum den Cembalisten Mahan Esfahani mit "Reden Sie gefälligst Deutsch"-Rufen attackiert, als er seine Einführung zu Steve Reichs "Piano Phase" auf Englisch vortrug.
Gerade dieser doppelte Bezugrahmen verwandelt diese Passage von Ottenis Inszenierung in eine kleine Sensation. Natürlich fügen sich "Die Fremden" perfekt in den überaus widersprüchlichen, von Brüchen gezeichneten "Kaufmann von Venedig" ein. Schließlich erzählt diese Szene von einem sich anbahnenden Aufstand der Londoner Bevölkerung gegen französische Flüchtlinge, die in England Schutz gefunden haben. Sir Thomas Morus erstickt den Aufruhr mit einem grandiosen rhetorischen und dramaturgischen Kniff im Keim.
In einem Gedankenspiel legt er den Aufrührern nahe, sich vorzustellen, sie selbst müssten nach den Ausschreitungen in ein anderes Land fliehen und würden dort ebenso behandelt, wie sie nun die Fremden behandeln wollen. Die Bezüge zu den im "Kaufmann" verhandelten Themen sind nicht nur offensichtlich. Sie rücken auch noch näher an unsere Gegenwart heran.
Und diesen Effekt verstärkt Otteni noch einmal durch die Verweise auf "besorgte Bürger". Während Carola von Seckendorff Morus' Monolog ganz kühl und sachlich vorträgt, erregt sich direkt hinter mir einer der Statisten halblaut darüber, dass er gerade als "Verbrecher" bezeichnet wurde. Ein anderer verlässt türenschlagend den Saal. Auch wenn diese Reaktionen klar als Inszenierung zu erkennen sind, bleibt doch ein extremes Unbehagen zurück. Schließlich hat der Vorfall in Köln bewiesen, dass so etwas durchaus in den heiligen Hallen der deutschen Kultur geschehen kann. Außerdem ist es längst nicht sicher, dass nur Statisten Zainab Alsawah beschimpft haben.
Berghoch ragt Eure Inhumanität
Das Zwischenspiel mit dem Prinzen von Marokko, das dann in dem Morus-Monolog gipfelt, ist ohne Frage ein Paradebeispiel dafür, wie politisches Theater heute aussehen und funktionieren kann. Aber der Rest der Inszenierung besticht durch eine bemerkenswerte gedankliche Klarheit und emotionale Tiefe. In der Gerichtsszene gelingt es Otteni, Entsetzen und Mitgefühl, Verständnis für Shylock und für Antonio im Gleichgewicht zu halten. Wenn Christoph Rinkes Shylock sein Pfund Fleisch einfordert, ist er kein Monster, sondern nur das Spiegelbild seiner Peiniger.
Morus' Monolog endet mit einem vernichtenden Vorwurf: "So geht's den Fremden, und so berghoch ragt Eure Inhumanität." Auch die Inhumanität der Christen in Venedig ragt berghoch. Also erklimmt Rinke diesen Berg, auf dem er Antonio gleichsam als Bruder begegnet. Der homosexuelle Antonio, dessen Liebe zu Bassanio niemals körperliche Erfüllung finden wird, ist bei Christian Bo Salle eher Shylocks Doppelgänger als sein Gegenspieler. Nicht zufällig verabschiedet er sich am Ende mit den gleichen Worten wie Shylock: "Mir ist nicht wohl." Und dieses Unwohlsein wird bleiben, bis er und alle anderen lernen, im Fremden sich selbst zu sehen.
Die Fremden / Der Kaufmann von Venedig
von William Shakespeare, Deutsch von Angelika Gundlach und Frank Günther ("Die Fremden")
Regie: Stefan Otteni, Bühne: Peter Scior, Kostüme: Sonja Albartus, Dramaturgie: Barbara Billy.
Mit: Carola von Seckendorff, Sandra Bezler, Natalja Joselewitsch, Christian Bo Salle, Bálint Tóth, Ilja Harjes, Christoph Rinke, Zainab Alsawah, Garry Fischmann und Statisterie.
Dauer: 2 Stunden 55 Minuten, eine Pause
www.theater-muenster.com
Kritikenrundschau
Eine "provokante Dekonstruktion" des Kaufmanns von Venedig hat Anke Schwarze gesehen und schreibt im Westfälischen Anzeiger (6.11.2017): Otteni gebe den verstörenden Elemente der Tragikomödie größeres Gewicht. Die umstrittene Szene mit dem Prinzen wertet Schwarze als "gelungene Irritation". Generell sei die Inszenierung dort gut, wo sie dicht am Original sei und Spannung aus den unterschwelligen Emotionen der Darsteller beziehe. "Dagegen verflachen die komischen Nummern."
Die Szene mit dem arabisch sprechenden Prinzen hebt auch Harald Suerland in den Westfälischen Nachrichten (6.11.2017) hervor und findet sie "so glänzend inszeniert, dass man sich in einem echten Tumult wähnt". Auch sonst lobt er die Regie – Otteni verzahne die beiden eher schwach verbundenen Handlungsstränge des "Kaufmanns von Venedig", und "so wunderbar komisch Otteni die Bewerber um Portia zeichnet, so bitter-hell analysiert er Shylocks Hass". Die Schauspieler entsprächen dem in "fabelhafter Ensemble-Arbeit".
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Sie lässt aber völlig außer Acht, dass es sich bei dem Stück auch um eine Komödie handelt und dieser Aspekt an diesem Abend wirklich nicht zu kurz kommt. Sehenswert!
Aber ist es nicht ein Erfolg der Kunst, wenn sie einen so lebensecht täuschen kann? Sicher hat es sie bewegt und am Ende des Theaterbesuchs zu reichlich Diskussionen beigetragen. Und damit ist es Ihnen im Kopf geblieben und hat ihre Realität beeinflusst. Die Welt verändert. Gratulation!
bedenklich, wer im theater sowas wie die darstellung von realpolitik erwartet hat und seine kunstferne erleben durfte >>> natürlich als unwohlsein ...
viel grund zum nachdenken wurde geliefert: bravo!!! für das enthüllende generieren von "buhs" ...
Die "Nachtkritik" spricht allerdings ein Problem gar nicht an: Ist es der Inszenierung gelungen, den Antisemitismus, der dem Shakespeare-Text ohne Zweifel innewohnt, aufzudecken und ihn so zu wenden, dass das Stück "nach Auschwitz" wieder aufführbar ist. Einige Aspekte sprechen dafür, aber insgesamt bleiben mir doch erhebliche Zweifel. Die Entlarvung von Fremdenfeindlichkeit ist noch nicht die Entlarvung von Antisemitismus.
Der gewagte Einschub hatte in der Tat zu intensiven Emotionen im Publik geführt, dafür Lob. Aber die Emotionen waren eher gegen die Zumutung durch den Regisseur gerichtet, dass man diese offensichtliche Posse jetzt mehrere Minuten ertragen darf und nicht zum Stück kommt, als gegen die Tatsache, dass da jemand arabisch redet und man sich gegen das Fremde sträubt. Es verblieb somit eher ein Gefühl von Genervtheit und nicht von Hass. Und somit verfehlt es die Emotionen der Charaktere des Hauptstücks (die Angst, Verlust, Hass, etc.). Wenn man das geschafft hätte, wäre es genial gewesen, aberInsgesamt passten die beiden Hälfte also nicht zusammen und haben sich nicht bereichert. Ich fand mich noch eine Stunde nach dem Einschub grübelnd, aber leider auf der Metaebene (wie hätte man das besser kombinieren können / was genau war die Intention des Schauspiels) und nicht über das Thema Fremdenhass und habe somit dem weiteren Stück nicht die volle Aufmerksamkeit widmen können.
Schade. Der Einschub war ungewohnt und riskant, aber leider am Ende nicht vollkommen passend zum Kaufmann.
Was die Buh-Rufe und 'bitte Deutsch'-Rufe angeht. Da waren entweder sehr viele Statisten oder - die Rufe der Statisten wurden von Teilen des Publikums dankend aufgenommen. Ein Teil dieser Rufer verließ übrigens in der Pause erbost das Theater und ist nicht zurückgekehrt. Es ist nicht davon auszugehen, dass dieser Zuschauerkreis zu einem tieferen Verständnis vorgedrungen ist.
"Entlarvung von Fremdenfeindlichkeit ist nicht Entlarvung von Antisemitismus"
die große überschrift heißt "faschismus" und dazu gehören ALLE - wie auch immer selektiv betrachteten - faschistoiden haltungen, welche heute unter verwirrend vielen namen und begriffen kaum noch thematisiert werden. ich bleibe da einfach weiterhin bei adorno und erschrecke jedesmal, wenn sich seine voraussage in der praxis bestätigt UND wie daran ruminstrumentalisiert wird ...
Das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit, das Verschwimmen der Grenzen - immer wieder beliebt, immer wieder gefährlich und im Kern immer demagogisch und manipulativ. Ein künstlich inszenierter Frendenfeindlichkeitsskandal mit bezahlten agents provocateures. Das nenne ich wahrhaft aufklärerisch.
Die angebliche "Entlarvung von Fremdenfeindlichkeit" war also ein Fake - es wurde nichts entlarvt, sie fand nicht statt, sie mußte künstlich inszeniert und behauptet werden. Es sollte dem Publikum rechtsradikales Gedankengut untergeschoben werden, das es ohne die inszenierte Hetze so gar nicht gehabt hätte. Wie schön, daß da Statisten rechtsradikale Bürger spielen durften, ohne daß allen klar wurde, daß das ein abgekartetes Spiel war. Das heißt: Das Publikum sollte durch Provokateure als rechtsradikales Pack diffamiert werden.
Nun war es das keineswegs, wie Kommentatorin #1 deutlich macht - sie ist entsetzt über die perfide und betrügerische Manipulation, der sie in gutem Glauben aufgesessen ist. Sie empfindet die inszenierte Hetze als perfiden Angriff auf ihre Mündigkeit als Bürgerin. Sie fühlt sich von der Inszenierung instrumentalisiert und mißbraucht. Und es war wohl so, daß erst die inszenierte Nummer manche Bürger zur Zustimmung zu etwas brachte, was ohne die Statisten nicht stattgefunden hätte. Man könnte das auch als Anstiftung zu Haß und Hetze bezeichnen - natürlich immer im selbstlosen Dienst am Guten und Wahren. Aufklärung geht anders.
Es ist beruhigend, daß die Buhs wohl größtenteils dem inszenatorischen Schabernack galten.
Waren sie beide - (und einige andere hier) da? Was soll das Theoretisieren über eindrucksvolle Elemente einer Inszenierung, die Sie in ihrer Mechanik gar nicht erlebt haben? Theoretisch mag ich auch keine Marvelcomics, aber Theater ist zum Glück
ganz praktisch.
Nein, ich habe die Aufführung nicht gesehen. Ich habe mich auch ausschließlich auf jene "kleine Sensation" bezogen, die die obigen Kommentare in übereinstimmend klaren Beschreibungen, wenn auch unterschiedlichen Wertungen, dargelegt haben. Ich habe meine Meinung zum Prinzip dieser beschriebenen "Sensation" formuliert - ich halte sie für übergriffig gegen das Publikum.
Zu Ihrer Frage an #13: "wissen Sie, welche Drastik es erzeugt hat, daß Shylock das Fleisch bis zum Ende fordert? Und was das vor allem über den Hass der (christlichen) Gesellschaft in Venedig erzählt?"
Es würde mich interessieren, was Sie zu dieser Vorstellung oder Behauptung vom "Haß der christlichen Gesellschaft in Venedig" anhand des Stückes veranlaßt.
Darf ich davon ausgehen, daß Sie mich gesperrt haben?
(Werte Tucholskaja, der vorhrige Beitrag ist bei uns nicht eingegangen. Gesperrt sind Sie nicht. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Zitat: "//Es ist nicht zu fassen, jetzt übernehmen wieder diese "Ich-habs-ja-nicht-gesehen-aber" - Besserwisser die Deutungshoheit über die Aufführung.//"
Wie Sie durch Lesen unschwer feststellen könnten, habe ich keineswegs die "Deutungshoheit über die Aufführung" übernommen - wie könnte ich auch, ich habe sie ja nicht gesehen. Ich habe ausdrücklich nur ein einzelnes Element der Aufführung kommentiert: "die kleine Senation", wie sie in der nk-Kritik benannt wurde und von mehreren Zuschauern beschrieben wurde. Über das hier mehrfach klar dargestellte Prinzip dieser "Sensation" kann man sich sehr wohl äußern, ohne den Abend gesehen zu haben: Der inszenierte "Fremdenfeindlichkeits"-Fake durch nicht kenntlich gemachte bezahlte Provokateure stellt ein grundsätzliches Problem jenseits der Aufführung dar und nicht nur ein ästhetisches: Ist eine solche gezielte Irreführung, Täuschung und Manipulation der Zuschauer ethisch zu verantworten? Meine Antwort ist nein.
( @ Tucholskaja: Bitte formulieren sie doch etwas weniger total. Das wäre entgegenkommend. Dann veröffentlichen wir gerne. Danke! Mit den besten Grüßen aus der Redaktion: E. Philipp )
Leider verstehe ich Ihren Beitrag nicht.
Man kann nicht weniger total formulieren, als „Ich denkesehemeinefinde“ zu sagen/schreiben.
„Ich“ ist immer nur einer und eben nicht „die Mehrheit“ oder gar „alle“.
Einer der, indem er „Ich“ sagt/schreibt, bekennend nur sich selbst als DenkendenSehendenFindendenMeinenden über eine Sache meint.
Das ist das Gegenteil von Totalität.
Was andere – nach meiner Beobachtung - daran so leicht verübeln, dass sie es am liebsten verschweigen (z.B. durch Nicht-Veröffentlichen) wollen, ist, dass da einer sich offenbar GANZ fühlt.
Nicht beschädigt und nicht entfremdet fühlt von seinem eigenen Denken und Fühlen.
Das wird heutzutage – beobachte ich überproportional häufig in Kunst UND Alltag - niemandem so recht als Selbstwertgefühl gegönnt.
Warum eigentlich nicht?
Das war doch eine klare persönliche Position zu der manipulativen Provokation des Publikums in dem Stück durch Regie.
Dieser Position entspräche im Alltag zum Beispiel die ganz eindeutige Ablehnung des Einsatzes von institutionell eingesetzten V-Männern, die in optional verbrecherischen Kreisen tatsächliche Verbrechen provozieren, um aus vermuteten optionalen Tätern tatsächliche zu machen, damit man sie als uneindeutige Gefahr aus dem Verkehr ziehen kann. Und das ist keine totalitäre ablehnende Haltung, sondern eine eindeutige Positionierung zu einem realen politischen Vorgang.
Das ist ein Unterschied.
Und mit "Tucholskaja" hat jemand eine eindeutige Haltung zur manipulativen Provokation von Zuschauerreaktionen zu dargestellten komplizierten, politisch interpretierbaren Sachverhalten. Wer eine weniger eindeutige Position dazu hat, kann doch seine Meinung ebenfalls hier schreiben und diese auch begründen...
( Liebe D. Rust, da stimme ich Ihnen vollumfänglich zu. Meine Anmerkung war eine Nachricht an "Tucholskaya" und daher offenbar missverständlich: Der Hinweis bezog sich nicht auf den für alle einsehbaren veröffentlichten Kommentar, sondern auf einen Teil desselben, den ich auf Grundlage unserer Kommentar-Etikette nicht veröffentlicht habe. Viele Grüße von E. Philipp )
Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, ob mit der Inszenierung der der Komödie "Der Kaufmann von Venedig" immanente Antisemitismus verarbeitet wurde, das Stück nach der Erfahrung des Holocaust also wieder "aufführbar" wurde. Ja, der Figur des Shylock wird viel von dem Zerrbild des raffgierigen Juden genommen, seine Haltung wird nachvollziehbar, er sucht auch die Liebe der Christen. Aber da ist auch die Figur der Jessica, Shylocks Tochter, die ihren Vater und sein Judentum rigoros ablehnt, das erste Vaterunser erscheint als Rettung aus ihrer Verstricktheit in die familiäre und religiöse Abhängigkeit. Sie lässt nicht einmal zu, dass ihr Mann Lorenzo ein jiddisches Lied singt, um sie zu trösten. Sie singt stattdessen ein (sehr schönes) arabisches. Überhaupt das Arabische: In ihrem Zimmer hängen die Poster von arabischen Popstars (So vermute ich.). Das ganze eine indirekte (und einseitige?) Stellungnahme zum Nahost-Konflikt? Und schließlich: Am Ende des Stückes gibt es keinen Juden / keine Jüdin mehr ...
Trotzdem möchte ich einwenden, dass ich den Vergleich nicht mit den V-Männern nicht DIREKT zum Bühnengeschehen habe, sondern zwischen einer geäußerten Alltags-Kritik und einer geäußerten Kritik im Bereich der Kunst, hier an der Theaterkunst.
Sie schreiben, dass die Verunsicherung des Publikums sowie die Tatsache, dass" manche (viele?) den "Fake" nicht durchschauten", zeigte, dass das Publikum etwas das der "Mob" z.B. in London 1517 - den sie hier konkret spielen - an den Tag gelegt habe, als Teil ihrer Realität zu erkennen.
Da stellt sich die Frage, was das Publikum zum größeren oder kleineren (?) Teil nun als Teil seiner Realität erkannt hat: dass es im Jahr 1517 lebt und zwar in London und das eh genau das selbe ist wie 2017 und in Münster? Oder hat es als Teil seiner Realität erkannt, dass es sehr oft einen "Fake", besonders bei News, nicht als solchen erkennt?
Man kann jemanden im Übrigen auch dazu manipulieren zu reagieren, nicht nur dazu, nicht zu reagieren. Noch dazu in einer bestimmten Weise zu reagieren. Sie selbst sprechen davon, dass ein großer Teil des Publikums "zum Glück" seine Ablehnung gegenüber den Zwischenrufern gezeigt habe. Und da stellt sich mir die Frage: Zu wessen Glück denn genau? sind jetzt die Theatermacher froh und glücklich darüber gewesen, oder waren Sie froh und glücklich über die Mehrheit des ordentlich seine ordentliche Moral zeigenden Publikums?
Woher wissen Sie wem die gezeigte Ablehnung galt: dem dargestellten, gefakten Mob? Oder dem Theater, das als bewusster Provokateur der Gesinnungsanzeige durch das Publikum von ihm erkannt worden war? -
Zu allem andern kann ich mich nicht äußern, weil ich das Stück nicht gesehen habe, ich bin aber auch - ehrlich gesagt - froh deshalb. Das geht nicht gegen Sie persönlich, aber ich möchte bitte nicht als für eine Theatervorstellung zahlender Mensch, eine Gesinnungsprüfung vor Theatermachern ablegen müssen. Ich möchte auch nicht Zeuge sein, wenn sich im Theater die "zum Glück" "gut" Gesinnten von den "schlecht" Gesinnten vermeintlich in der Personenmenge Publikum offensichtlich scheiden - weil ich das jeden Tag im Leben außerhalb des Theaters auch haben kann. Ich möchte als Publikum nicht denunziert werden und möchte - sollte ich mich zufällig für Theatermenschen angemessen wohlfeil moralisch korrekt verhalten - auch nicht erleben, dass vielleicht der Mensch, der neben mir sitzt, auf diese Art und Weise denunziert wird. Überflüssig zu sagen, dass mir vollkommen wurscht wäre, ob das ein Moslem, ein Jude, ein Christ, ein Buddhist, ein Atheist oder ob das MannFrauAnderes oder Kind wäre.
Danke für die Aufklärung, aber ich weiß, was Statisten sind und unter welchen Bedingungen sie arbeiten.
//Bedeutsam bei Ihrer Wortwahl ist aber, dass Sie mit ihr die Statisten ins Unrecht setzen wollen.//
Nichts liegt mir ferner. Statisten werden vom Regisseur inszeniert und tun das, was ihnen gesagt wird. Wenn sie eine marodierende Räuberbande darstellen, wäre es abwegig, ihnen persönlich-privat marodierende Räuberei zu unterstellen. Ich kann zwischen Darsteller und Dargestelltem unterscheiden. In diesem Fall wurden Sie allerdings dazu angehalten, provokativ "Realität" im Zuschauerraum zu behaupten und nicht eine Bühnenrolle auszugestalten. Die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit sollte bewußt verwischt werden, die Zuschauer sollten irregeführt und provoziert werden. Der Vorwurf geht an die Regie, nicht an die Ausführenden. Dazu haben Sie sich allerdings hergegeben - freiwillig.
//Wahrscheinlich werden Sie antworten, in solch einem Fall sei allen klar, dass es gespielt wird, unmoralisch werde es, wenn den Zuschauern das Spiel verheimlicht werde.//
Richtig.
//In der Inszenierung ist die Provokation aber völlig berechtigt und dem Shakespeare-Text "Die Fremden" angemessen. Textangemessen ist sie, weil sie genau das vorführt, was der Mob in London 1517 an den Tag gelegt hat und wogegen der Text argumentiert.//
Nicht richtig. Soweit ich mich an den Text des "Morus"-Stückes erinnere, läßt dieser deutliche Sympathien für den "Mob" erkennen - für die Londoner Bevölkerung, die unter den sexuellen Übergriffen, Zurücksetzungen und frechen Diebstählen der "Fremden" leidet. Da weder König noch Adel den bedrängten Bürgern beistehen, greifen diese zum falschen Mittel der Gewalt. Der Text betrachtet den Vorgang durchaus differenziert - was man von Ihrer pauschalen Bezeichnung "Mob" nicht gerade sagen kann.
//Sie wurden auch nicht manipuliert (#22), denn sie hatten die Möglichkeit zu reagieren, ihre eigene Auffassung zum Ausdruck zu bringen.//
Selbstverständlich wurden sie manipuliert - es ist etwa so, als würde in einem vollbesetzten Saal jemand absichtlich "Feuer!" schreien um zu schauen, wie die Leute jetzt echt reagieren. Simulation von Wirklichkeit erschafft tatsächliche Wirklichkeit - und woher nimmt das Theater die Berechtigung für solche Täuschung der Zuschauer?
//Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, ob mit der Inszenierung der der Komödie "Der Kaufmann von Venedig" immanente Antisemitismus verarbeitet wurde,... Aber da ist auch die Figur der Jessica, Shylocks Tochter, die ihren Vater und sein Judentum rigoros ablehnt, das erste Vaterunser erscheint als Rettung aus ihrer Verstricktheit in die familiäre und religiöse Abhängigkeit. Sie lässt nicht einmal zu, dass ihr Mann Lorenzo ein jiddisches Lied singt, um sie zu trösten. Sie singt stattdessen ein (sehr schönes) arabisches.//
Ich habe bekanntlich die Aufführung nicht gesehen. Die Art, wie Jessica in Shakespeares Stück geschildert wird ("Ich bin so froh, daß ich endlich Christin werden kann", oder so ähnlich), erschien mir allerdings immer als eines der massivsten Beispiele für dessen Antisemitismus. Was Sie hier positiv wertend beschreiben, treibt diesen Antisemitismus ersichtlich gleich noch ein paar Umdrehungen weiter: das "erste Vaterunser" rettet sie aus ihrer jüdischen "religiösen Abhängigkeit" - na klasse! Das hört der Vatikan gern, der will schon seit bald 2000 Jahren die Juden konvertieren. Aus dem Judentum muß man "gerettet" werden, prima. Und die Jüdin will kein jiddisches Lied hören, sondern singt ein "sehr schönes arabisches". In der Tat, eine beeindruckende "Verarbeitung des immanenten Antisemitismus" - liegt in dieser Aufführung die Zukunft der Jüdin Jessica, die arabische Popstars anhimmelt, nun im Christentum oder im Islam? Das Judentum wird jedenfalls "rigoros abgelehnt"... Tja, so wird das Stück "nach der Erfahrung des Holocaust" also wieder "aufführbar".
Und zum grandiosen Schluß:
//" Und schließlich: Am Ende des Stückes gibt es keinen Juden / keine Jüdin mehr ..."//
O ja, diese Auslöschung des Jüdischen - davon träumen sehr viele Leute.
Es scheint in Ihrer Beschreibung ja noch gruseliger zu sein, als ich bislang dachte.
Man gewöhnt sich an diesen Vorwurf so sehr, dass er irgendwann an einem abgleitet.
Es ist eventuell einfach nur nett, wenn man diese Wirkung auch anderen kundtut. Weil sie dann ihre eigene Haltung gegenüber Kritik und Kritikern auch prüfen können.
Wenn sie nicht wissen, wie ihre Vorwürfe wirken, können sie das ja nicht. Das wäre doch eventuell ein Verlust für Menschen, die gern nicht nur andere, sondern auch sich selbst prüfen.
Deshalb ist betriebsinterne Kritik aus meiner Sicht ein Akt der fachbezogenen Solidarität.
Es steht Ihnen vollkommen frei, das anders zu seh, Herr oder Frau oder Anderes S. Hansen. -
Ich aber weiß, wann ich empört bin und wann gelassen. Ich merke das an meinem Blutdruck und an meiner spontanen angewandten Rechtschreibung und Grammatik z.B. und ansonsten spiegelt mir das mein unmittelbares Lebensumfeld.
Ich möchte mich nicht weiter zu der Funktion der Zwischenrufer innerhalb der Inszenierung äußern, aber doch zu dem, was Frau Tucholskaja aus dem zweiten Teil meines Kommentars (#23) herausliest. All die Aspekte, die ich an der Figur der Jessica hervorhebe enthalten selbstverständlich keine positiven Wertungen. Ich sehe in der Darstellung des Shylock Ansätze zur Überwindung des im Shakespeare-Text angelegten Ressentiments vom raffgierigen Juden, hier werte ich die Inszenierung also positiv. Dagegen setze ich durch das Wort "aber" die Darstellung Jessicas. Wer genau liest, sollte meine ernsthaften Vorbehalte dieser gegenüber erkennen. Dem Urteil von Frau Tucholskaja stimme ich insofern eigentlich zu, benutze aber ganz bewusst innerhalb dieser Diskussion nicht das Wort "Antisemitismus", um nicht Gesprächsschranken aufzubauen, die nicht weiterführen. Nicht einfach, diese Diskussion!
Mich wundert, daß hier über die Inszenierungsmechaniken und Antisemitismus theoretisiert wird, ohne die Nuancen und Widersprüchlichkeit dieser Inszenierung zu kennen und einbeziehen zu können. Muß ich über ein Bild im Museum theoretisieren, das ich nicht mal angesehen habe? Hat es Sinn, wenn ich mich über zuviel BLAU darin aufregen, wenn ich die Benutzung, die Farbverläufe nicht kenne? Reicht es, blau theoretisch zu kalt zu finden?
In dieser Diskussion werden Aspekte des Abends herausgepickt, ohne die anderen Szenen, den Kontrast dazu zu kennen. Ohne Stimmungsverläufe, Widersprüchlichkeiten und gegengesetzte Szenen selbst erlebt zu haben.
Ich gebe S. Hansen (#27) Recht. Es geht um viel mehr. Es geht um Minderheiten und den Kampf gegeneinander. Es geht auch um Befremdung auf allen Ebenen und unseren Umgang mit Fremdsein. Es geht um fehlende Liebe und Angst - und um vieles mehr. Das alles fällt bei dieser Diskussion über zwei Aspekte der Inszenierung unter den Tisch. Es ist ärgerlich, einen bewegend widersprüchlichen Abend, der sehr viel mehr ist als eine provokante Szene oder "Aufführung eines antisemitischen Stücks", hier unter "man wird ja wohl seine Meinung darüber schreiben dürfen" zerfranst zu sehen. Kunst will erlebt werden. Gehen Sie rein.
// All die Aspekte, die ich an der Figur der Jessica hervorhebe enthalten selbstverständlich keine positiven Wertungen.//
Ich hatte noch überlegt, hinter "positiv wertend" ein "(?)" zu setzen setzen, als Zeichen, daß ich mir unschlüssig war, wie Sie es letztlich meinen. Es schien mir positiv gemeint, wenn auch das "aber" irritierte. Meine Fehldeutung tut mir leid.
Mißverständnisse und "Gesprächsschranken" können ersichtlich auch aus Nichtbenennung und Begriffsvermeidungen entstehen.
danke!!!
"Es war das tollste Stück seit langem in Münster! Die Diskussionen hier sind völlige Hirnwixe. Man muß es gesehen haben."
#35 Das Stück gehört nicht verboten, vielmehr muß man sich mit so einem Meisterwerk immer wieder auseinandersetzen. Gerade diese Inszenierung zeigt, daß es nicht gleich zu setzen ist, ob Antisemiten auftreten oder ob das Stück antisemitisch ist.
Der selbe Regisseur hat vor Jahren bei uns in Konstanz ein Stück gemacht, das "Der Jude in Konstanz" hieß, und es war auch nicht klar, ob das eine gute Sache war. Denn der Autor, Wilhelm von Scholz wurde später zu einem überzeugten Nazi. Aber in meiner Erinnerung war die Haltung der Schauspieler so klar auf der Seite der Humanität, daß kein Zweifel bestand, was die Aufführung will. So ist es diesmal in Münster wieder. ich bin froh, daß ich es sehen konnte. Bravo.
Na ja - verbieten sollte man in der Kunst gar nichts, das stimmt. Daß man sich immer wieder damit auseinandersetzen muß, stimmt auch.
Es ist aber leider nicht nur so, daß da Antisemiten auftreten - das Stück ist intrinsisch, also in sich selbst leider recht antisemitisch. Da hat #35 durchaus recht - das Grundkonstrukt ist nämlich nicht kleinzureden: extrem rachsüchtiger Jude will ganz legal einen Menschen umbringen, gegen alle Bitten um Gnade und Barmherzigkeit. Das Stück selbst (nicht so sehr die Christen) hantiert ohne Zweifel mit sämtlichen antisemitischen Typisierungen und Klischees, die man sich denken kann. Das Problem ist: wenn man diesen Juden Shylock "versteht" und ihm recht gibt (z.B. wegen der ewigen Pogrome der Christen gegen das jüdische Volk, die seine Haltung verständlich machen könnten) - dann muß man plötzlich einen gezielten Mord "verstehen", legitimieren oder gutheißen. Das fällt etwas schwer - keine sehr "humanistische" Haltung. Was Shylock will, ist ethisch und humanistisch natürlich NICHT zu rechtfertigen. Und da wird es schwierig und man kommt in einen Irrgarten der Wertungen.
Dann müssen Sie auch OTHELLO verbieten (fremdenfeindlich) und DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG (frauendfeindlich), und vor allem: KÖNIG LEAR (Herabsetzung von alten Leuten). Los geht's!
Verehrte Frau Tucholskaya (ich vermute, Sie sind weiblich),
ich muss Ihnen vehement widersprechen. Das Stück von Shakespeare handelt tatsächlich manchmal mit Klischees, aber sind das nicht die Klischees der Feindlichen Umwelt Shylocks? Kann man ein Stück über Antisemitismus machen ohne Antisemiten auftreten zu lassen? Und gilt es nicht, die Klischees auf der Bühne fruchtbar zu machen?
Auch ich habe die Aufführung (noch) nicht gesehen, aber mir will scheinen, daß sie genau diese Themen sehr stark verhandelt. Die Verdreifachung des Shylock-Monologes scheint mir hervorragend zu sein um dasin unsere unübersichtliche Welt zu transportieren.
Und wenn ich Shylock menschlich verstehe, muß ich ihm doch nicht -so wie Sie das behaupten- juristisch recht geben. Sie denken da wirklich zu kurz, zu sehr in Ihren politischen Vorbehalten gefangen, scheint mir.
Sie schreiben, durch die Aufführung kämen Sie in einen "Irrgarten der Wertungen". Aber ist es nicht genau das, was gute Kunst bezwecken kann, unsere gesicherten Wertungen in einen fruchtbaren Irrgarten schicken, auf daß sie dort durchgeschüttelt werden?
beste Grüße
Hans P.
//Das Stück von Shakespeare handelt tatsächlich manchmal mit Klischees, aber sind das nicht die Klischees der Feindlichen Umwelt Shylocks? Kann man ein Stück über Antisemitismus machen ohne Antisemiten auftreten zu lassen? Und gilt es nicht, die Klischees auf der Bühne fruchtbar zu machen?//
Woher wissen Sie, daß Shakespeare (hier reden wir über den alten Shakespeare-Text, nicht über die Aufführung) - daß Shakespeare ein "Stück über Antisemitismus" machen wollte? Hat er mit seinem Text nicht eher ein "Stück Antisemitismus" verfaßt? Meinen Sie, damals gab es gesellschaftlich so etwas wie eine progressive "Kritik des Antisemitismus"? Shakespeare wollte, ausweislich des Untertitels, ganz im Gegenteil, als Neben-Attraktion, ein Stück über die spezifische extreme, blutrünstige Grausamkeit des Juden Shylock machen - ganz im judenhassenden Denken der Zeit:
"The most excellent Historie of the Merchant of Venice. With the extreame crueltie of Shylocke the Jewe twards the sayd Merchant, in cutting a just Pound of his flesh".
Gruselig, dieser "typisch" perverse Jude, nicht wahr, das lockte die Zuschauer. Wie Luthers Geifer gegen die Juden im Mainstream der Zeit lag, so auch Shakespeares Behandlung des Stückthemas: Man lese die Christopher-Marlowe-Manga-Groteske über das jüdische Monster, The Jew of Malta, und man weiß, wie die Epoche getickt hat. Eine aufgeklärte Kritik des Antisemitismus (der damals noch Judenhaß hieß) nach heutigen Maßstäben war damals unmöglich: Schließlich waren die Juden satanische Gottesmörder im Sinn des totalitären christlichen Glaubensdogmas beider Konfessionen. Und so wird der grausame Jude im IV. Akt immer wieder mit den moralischen Angeboten der überlegenen christlichen Nächstenliebe herausgefordert und vorgeführt: Milde, Gnade, Vergebung, Barmherzigkeit soll er üben, nach christlichem Glaubenskanon, wie ihn Shakespeares Zuschauer zu leben angehalten waren - aber nein, vergebens, der steinherzige Jude, so zeigt das Stück, verweigert sich dem Guten, er will nur verabscheuenswerte mörderische Rache. Und da der Jude Shylock hier als bösartiger Verächter und Verweigerer der damals gültigen und höchsten christlichen, humanistischen Tugenden vorgeführt wird, schreibt sich dieses Stück in den antisemitischen (judenhassenden) Diskurs der Zeit ein.
Daß Shakespeare seinen Shylock nicht als platten Comic-Schurken a la Marlowe vorführt, sondern ihm als typisch "jüdischem Schurken" trotzdem menschliche Größe und Würde und Leidensfähigkeit zugesteht, hebt das Stück himmelweit über primitive antisemitische Propaganda hinaus - die es aber andererseits durchaus bedient. Ein Irrgarten der Wertungen.
//Die Verdreifachung des Shylock-Monologes scheint mir hervorragend zu sein um das in unsere unübersichtliche Welt zu transportieren. //
Aus heutiger Sicht, nach dem Holocaust, ist es eine erbärmliche Trivialisierung des jüdischen Leids, wenn man Shylocks Klage mit den modischen angeblichen identitätspolitischen "Opfergruppen" der Frauen und der Muslime gleichsetzt. Es handelt sich dabei um eine groteske und sehr deutsche Banalisierung und Relativierung der Schrecken der Shoa. Ich stimme vollkommen mit # 10 überein.
//Und wenn ich Shylock menschlich verstehe, muß ich ihm doch nicht -so wie Sie das behaupten- juristisch recht geben.//
Irrtum: Der Trick des Stückes ist ja ganz im Gegenteil, daß Shylock formaljuristisch vollkommen recht hat. Nur ist dieses sein buchstabenkorrektes "Recht" eben unmenschlich. Womit Shylock antisemitisch konnotiert wird.
Sie aber "verstehen" Shylocks Blutgier, sagen Sie - so rein "menschlich"? Sie verstehen ganz tief "menschlich" eine unmenschliche, rachsüchtige, blutdürstige, grausame, mörderische Tat?
Ich nicht. Irrgarten der Wertungen.
Vor dem Militärgerichtshof in Nürnberg wurde ein gewisser Dr. Fischers gefragt: „War der Gefangene, dessen Schulterblatt Sie entfernten, ein Mann oder eine Frau?“ „Das weiß ich nicht genau.“ antwortet der Arzt und kann sich im folgenden weder an einen Namen noch ein Geschlecht erinnern. Es handelt sich um einen Arzt, der an einem jüdischen Häftling eine Knochentransplantation zu experimentellen Versuchen vornahm. Bei ihm wäre das anzusiedeln, was man gemeinhin „die Abwesenheit von Liebe“ nennen würde und nicht bei einem heutigen Shylock, der lediglich, aus heutiger Sicht, nur sein Trauma reproduziert und das öffentlich vor Gericht und völlig chancenlos darin je seine Rache ausleben zu können. - Wie nur kommt man auf die Idee ihm in einer solchen Situation auch noch erschwerend einen Homosexuellen gegenüber zu stellen? Nur um ihn, den Juden noch mehr zu belasten? Oder hat es etwa persönliche Gründe?
Die Abwesenheit von Liebe ist für einen Christen das ethisch Undenkbare, obwohl wir spätestens seit dem „Stellvertreter“ wissen, wie tief der Katholizismus verwickelt war. Er baut auf ewige Vergebung, Gnade, Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Für Juden aber ist diese Abwesenheit jeden menschlichen Mitgefühls eine historische und mit nichts zu vergleichende Realität, da sie in einer Form noch nie dagewesener industrieller Vernichtung im letzten Jahrhundert vollzogen wurde. Das muss man wohl von Zeit zu Zeit wiederholt aussprechen, damit es nicht vergessen wird. Die Relativierung dient nur den Tätern, nicht den Opfern, auch nicht heutigen weiblichen, homosexuellen und muslimischen Opfern. Das ist ein Trugschluss. Traurig, das es heute immer noch solche Konzeptionen gibt und sie noch vom Zuschauerraum aus von Statisten befeuert werden. Sehr traurig. Jedes Schicksal ist letztendlich einzigartig, wie das Leben selbst und muss, ebenso wie kollektive Schicksal, für sich separat und nicht in der Aneignung und Gleichsetzung beschrieben werden. Das sollte eigentlich schon längst klar sein. Schnüren wir also das Sixpack der Probleme wieder auf und würdigen wir jedes Problem durch ein eigenes Stück, eine eigene Aufführung. Der hybride Wahn einer Regie, die gleich das ganze Große tabula rasa, alles in allem lösen möchte, war mir von je her fremd. Ich ziehe die spezifische und präzise dramatische Problembetrachtung vor und dafür ist die Shoa und der „Kaufmann von Venedig“ schon fast eine Nummer zu groß, denn in diesem Spannungsfeld allein wird der Himmel des Problemkosmos schon genügend aufgerissen.
Und natürlich ist Shylock nur deshalb nicht schwul, weil man Homosexualität nicht mit einer solchen Tat und einer so sadistischen Figur auf offener Bühne belasten darf.
Die meisten Fragen, die Sie hier stellen, müssen Sie Shakespeare selber stellen: Antonio ist, im Stück sehr deutlich, in Bassanio, einen Mann, verliebt. Der Prinz von Marokko wird für seine Herkunft von anderen Figuren des Stücks schwer rassistisch beleidigt. Portia und Nerissa wehren sich gegen ihre Männer mit deutlicher feministischer Haltung - es steht alles im Text. Warum die Aufregung über eine Aufführung, die das versucht herauszuarbeiten?
Und trotzdem sind ihre Schicksale nicht gleich zu setzen. - Welche Aufregung haben Sie denn ausgemacht?!
Schade, daß Sie mir auf meine Argumente nicht antworten. Meine Frage war, warum es Sie so aufregt (ihr Ton kommt mir aggressiv vor oder bitter, Sie selbst nennen es "traurig"), daß eine Inszenierung Themen aufgreift, die in Shakespeares Text schon klar verhandelt werden? Es scheint Sie zB sehr zu stören, daß Antonio in Münster schwul ist, und Sie unterstellen der Regie "persönliche Gründe". Aber alle modernen Interpretationen sind sich da einig, das ist eine homosexuelle Liebe.
Ihre Phantasie über ein Stück ist für mich nicht verbindlich. Und wenn Ihnen Kritik gleich bitter und aggressiv erscheint, ist das ihr persönliches Problem. Vielleicht lesen sie meinen Kommentar nochmal gründlich und befragen mich nicht auf der Grundlage von Verdächtigungen und persönlichen Stimmungen um Neigungen.
@42 Tucholskaya:
Es gibt an dem Abend gar nichts, was "eine erbärmliche Trivialisierung des jüdischen Leids, wenn man Shylocks Klage mit den modischen "Opfergruppen" der Frauen und der Muslime gleichsetzt." befördern würde, nichts, was das versuchen würde. Im Gegenteil, das Leid des Shylock wird von dem Schauspieler und der Regie mit großer Ernsthaftigkeit angegangen. Nur dadurch, daß man darauf hinweist, daß es heute (auch) noch andere unterdrückte Minderheiten gibt, relativiert man doch nicht das Leid des jüdischen Volkes oder verharmlost die Shoah. Wie kurz ist das denn bitte gedacht? Da denkt die Aufführung weiter.
und dem Kommentator von @43 muß man nach dem Besuch der Vorstellung sagen: Es wäre ganz falsch zu behaupten, daß die Regie mit dem Thema der Homosexualität noch "einen drauf packt" oder gar "Probleme im Sixpack" schafft.
Wenn Sie das Stück nur oberflächlich kennen, bitte lesen Sie dann das Buch "Außenseiter" von Hans Mayer (nicht dem Fußballtrainer!), in dem der Autor sehr plastisch den Kaufmann Antonio als "das zweite Monstrum" des Stückes beschreibt - eben wegen seiner Liebe zu einem anderen Mann. Und Mayer (der übrigens jüdisch UND homosexuell war, auch das geht)schließt den Absatz über den "Kaufmann" mit dem Satz "Es gibt keine Gemeinschaft, gar Solidarität der Außenseiter." Gerade diesen letzten Aspekt hat der Abend in Münster gut gezeigt.
(Man könnte jetzt noch lange reden, daß Hans Mayer in der Literatur - auch in Shakespeares Stücken - sogar DREI große Außenseiter sieht, die Juden, die Homosexuellen und - die FRAUEN, aber das sprengt den Rahmen. Lesen Sie selbst!)
Daß sich der Umgang mit Minderheiten seit Hans Mayers Zeiten "verfeinert" hätte, ist eine Behauptung, die Sie hoffentlich nicht selber glauben, wenn Sie sich in der Welt umsehen. Falls doch, müssen sie die "Außenseiter" notgedrungen nochmal lesen, 1983 ist ja schon lange her. Das Buch hat mehr zu sagen, als Sie seit damals dachten, auch für unser Jahrzehnt.
eine Frage: schreiben Sie auf Grundlage ihrer Textkenntnis oder haben Sie die Inszenierung in Münster auch live gesehen?
Das wäre für mich als Rezipientin ihrer Meinung zur Sache wichtig zu wissen. Falls Sie das schon dargestellt haben und ich es überlesen habe, entschuldigen Sie bitte.
Schon allein die Idee zu einer solchen Tat einem Juden zuzuweisen, ist antisemitisch und historisch abwegig. Sie folgt antisemitischen Vorstellungen, wie der Hostienschändung oder das Juden kleine Christenkinder verspeisen, wie sie im Mittelalter üblich waren und wie sie in dem Buch „Der gelbe Fleck“ eingängig geschildert werden. Wie ich schon in meinem ersten Kommentar erwähnte, sind solche sadistischen Ideen historisch eher bei den nationalsozialistischen Ärzten zu verorten, die in Konzentrationslagern Experimente an jüdischen Häftlingen vornahmen, nicht aber bei Juden selber, die in ihrer Geschichte mit solchen Taten nicht hervortraten.
Kann man aber die Kernidee eines Stückes nicht glaubwürdig belegen, sollte man die Finger von einer Inszenierung lassen. Und es bleibt natürlich dabei, egal wie die Inszenierung in Münster aussieht, dem Juden zu dieser falschen Kernidee auch noch zu unterstellen, dass er sich zusätzlich an einem Homosexuellen vergeht, ist eine weitere Steigerung und Optimierung der antisemitischen Grundidee, auch wenn die Szene noch so „schön“ in ihren Augen arrangiert wurde. Eine solche Konzeption ist grundsätzlich, ungesehen abzulehnen und ich werde sie nicht besuchen.
Eine heutige Idee zu dem Stück kann nur eine komplette Dekonstruktion und Parodie sein der Figurenkonstellation sein, in dem meinetwegen Antonio Texte von Shylock übernimmt und umgekehrt, aber nicht die Inszenierung des Stückes selber, um was man es auch immer erweitert, denn ist gibt in einer falschen, antisemitischen Kernidee keine gute Inszenierung.
Und selbstverständlich denke ich heutig und nicht "damals" und ich habe nach dem "Außenseiter" noch einige andere interessante Bücher gelesen, was hier aber gar nichts zur Sache tut. Benutzen sie einfach ihre eigenen Gedanken im Sinne von Voltaire, vielleicht bewegt sich ja dann etwas bei Ihnen.
das scheint mir das Grundproblem zu sein,
daß die größten Kritiker der Inszenierung sie gar nicht gesehen haben - oder nicht mal das Stück richtig gelesen.
Ich kann dem Herrn nur zustimmen, der weiter oben gesagt hat:
"Mich wundert, daß hier über die Inszenierungsmechaniken und Antisemitismus theoretisiert wird, ohne die Nuancen und Widersprüchlichkeit dieser Inszenierung zu kennen und einbeziehen zu können. Muß ich über ein Bild im Museum theoretisieren, das ich nicht mal angesehen habe? Hat es Sinn, wenn ich mich über zuviel BLAU darin aufregen, wenn ich die Benutzung, die Farbverläufe nicht kenne? Reicht es, blau theoretisch zu kalt zu finden?"
Besser könnte ich es nicht sagen: Hier reden Leute über eine Inszenierung wie ein Blinder von der Farbe. In keiner anderen Kunstgattung würde man diese Äußerungen auch nur ansatzweise ernst nehmen.
Aber dem Herrn oben, der sogar Shakespeares Text das Daseinsrecht abspricht, danke für den Tip oben: "Meine eigenen Gedanken zu benutzen" - das habe ich ja noch gar nie probiert. Danke!
das Theater ist kein Gottesdienst, den man zu besuchen hat. Und ja, ich beurteile hier eine Konzeption, die sich hier ja sehr deutlich nach außen kenntlich macht, sowohl in der Kritik, wie in den Kommentaren und ich entscheide mich gegen einen Besuch, weil ich die Konzeption für falsch und antisemitisch erachte. So etwas ist im Kulturbereich nicht nur erlaubt, es ist auch der tiefere Sinn von Kritiken und Kommentaren, einen entweder anzulocken oder abzuhalten. Und wenn ich ein Bild sehe, wo Shylock aussieht wie Klaus Barbie und gerade sein Knie auf die nackte Brust von Antonio setzt, die Hemdsärmel hochgekrempelt, das Abzugbild eines SS-Offiziers, dann habe ich genug Nuancenlosigkeit gesehen. Es ist eine Ästhetik, die mich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht interessiert. (zu dem trägt Shylock, soweit ich das erkennen kann, auch noch den für Nazis typischen Zweireiher, während alle anderen Figuren vor Gericht in Einreihern daher kommen) Jeder der diese Szene heute noch real soweit treibt, dass Shylock tatsächlich zur Tat mit Gewalt ansetzt, das Messer schon in der Hand, der hat von Antisemitismus nichts begriffen. Und solche Abende muss ich mir mit meiner Berufs- und Lebenserfahrung tatsächlich nicht mehr antun. Das überlasse ich gerne ihnen. Meine Veranstaltungen sehen anders, ganz anders aus und ich lehne meine Gedanken schon lange nicht mehr bei Hans Mayer an.
Mögen Sie auch viel gesehen haben, ihre Blindheit für das Konzept hat biblische Ausmaße und ist mit keiner Farbe zu beschreiben außer schwarz.
Doch, das tut man. Wenn man so tut, als sei die unerfüllte Vorstandsquote für Frauen und der angebliche Gender Pay Gap (stellvertretend genannt für alle möglichen feministischen Luxusprobleme der Gegenwart) auf der gleichen Stufe angesiedelt wie die mörderische Shoa, dann relativiert man letztere unerträglich. Wenn man die Dauerklagen beleidigter Muslime, die in Deutschland mit Islamkonferenzen und Integrations- und Förderprogrammen umhätschelt werden wie keine andere Bevölkerungsgruppe je, mit dem Leid der Juden im versuchten Genozid der NS-Zeit gleichsetzt, betreibt man eine indiskutable Relativierung und Verharmlosung des Judenabschlachtens in der Shoa.
Wenn man die (zutiefst berechtigte) Klage unterdrückter muslimischer Frauen gleich wertet mit den Klagen des muslimischen Patriarchats, das sich über mangelnden "Respekt" seitens des Westens beschwert, wird es endgültig absurd.
Solcherlei gutmenschelnde Entdifferenzierung, die alle "Opfer" gleichermaßen über einen einzigen, gleichen, gefühlsduseligen Kamm schert, tut allen Betroffenen unrecht.
Außerdem: Wollen Sie ernsthaft einen kalt geplanten Mord aus niederen Beweggründen (Rache) "verstehen" und verzeihen? Mord ist Mord. Das ist nicht zu rechtfertigen. Aber den will der Jude Shylock gezielt begehen. Es ist unmenschlich, egal, warum er es tut. Und diese Unmenschlichkeit unterstellt das Stück dem Juden (nicht anders als das angebliche Kinderschlachten und Brunnenvergiften der teuflischen Juden ist es ein uraltes antisemitisches Klischee). Und das macht das Stück zu einem antisemitschen Text.
//daß die größten Kritiker der Inszenierung sie gar nicht gesehen haben - oder nicht mal das Stück richtig gelesen. //
Falls Sie auch mich meinen sollten: Doch, ich habe das Stück viele Male sehr genau gelesen. Und die diversen wohlmeinenden Beschreibungen der Aufführung erlauben es durchaus, der darin erkennbar verbreiteten Botschaft herzhaft zu widersprechen.
Warum?
Nun, wie man an dem Bild, dass in die Kritik eingefügt wurde, überdeutlich erkennen kann, imitiert Antonio dies Bild mit nacktem Oberkörper und stellt ebenso rampenparallel die Pose des toten Leichnam Christi nach, während der Jude hemdsärmelig über ihm hockt, das Knie auf der entblößten Brust, das Messer hinter seinem Rücken bereit in der Hand, um zur Tat zu schreiten. Hier wird in der Bildästhetik exakt die Ur-Idee des Antisemitismus nachgestellt, eben das die Juden, der Jude Jesus Christi getötet haben.
Das ist so gruselig und zugleich so traurig, dass so etwas heute anstandslos über die Bühne gehen kann, ja, das es nicht einmal von der Kritik bemerkt wird, dass man nur erschauern kann. Dies alles im katholischen Münster. Da senke ich mein Haupt und versinke vor Scham und muss es doch glauben. Das ist purer Antisemitismus, bewusst in einem religiösen Kontext gesetzt, wie man ihn schon lange nicht mehr sah.
Wer, verdammt nochmal hat sich diese Bildästhetik ausgedacht und zu was wird sie gebraucht in dieser Inszenierung ?! - Da fällt dann auch kaum noch auf, dass das Requisit Messer aussieht wie ein Dolch zum Morden und die ganze Geste (und das gesamte Arrangement) der „Tat“ des Shylock eher dazu geeignet ist zu zustechen, als zu schneiden. Das macht dann auch schon vollkommen egal, in dieser antisemitischen Gesamtästhetik.
"Blindheit von biblischen Ausmaßen" (@54): Selten so gelacht.
dieser Logik folgend hat Bernd Höcke bei seiner Dresdner Rede auch irgendetwas richtig gemacht, weil es danach ja auch sehr hohe Wellen schlug! - Nur, was ist diese "irgendetwas" mehr, als nur ein "irgendetwas"?! Mmh?! Nur noch ein Abbild des traditionellen Antisemitismus mehr, aber diesmal in Münster?! Was für eine wahrhaft große Ehre so etwas endlich auch bei sich zu Hause im Münsterland beheimateten zu dürfen. Gratulation!
daß Sie jetzt nach der Bibel auch Björn Höcke auffahren, hätte man sich denken können. Daß ich das als Linker Aktivist noch erleben darf: früher sagte man als Totschlagargument "Nazi", heute sagt man "björnhöcke", wenn einem die Argumente ausgehen.
Sie sagen weiter oben, daß ein Regiekonzept nur Sinn macht, das
"eine komplette Dekonstruktion der Figurenkonstellation sein (soll), in dem meinetwegen Antonio Texte von Shylock übernimmt" - nun übernimmt in unsrer Inszenierung (dass ich das mal sagen würde, über das sonst verschnarchte Stadttheater Münsters - "unsere Inszenierung") tatsächlich Antonio Teile von Shylocks Text - aber ich vergaß, Sie gehen ja nicht in Theaterstücke, die Sie vorher per Bildchenanalyse als antisemitisch ausgemacht haben.
Ich habe dennoch eine Frage: Sind Sie wirklich sicher, daß man die Faschisten heute noch an ihrer Ästhetik erkennt? Also Klaus Barbie (auf einem Photo!) am hochgekrempelten Hemd, Zweireiher und "gezücktem Dolch"?. Aus meinem politischen Kampf möchte ich Ihnen sagen: schön wärs.
Ein Text, der jetzt über diese Aufführung Fremde/Kaufmann erschienen ist, kann vielleicht etwas den Dampf rauslassen, der die doch so wichtige Diskussion gerade so verflacht. Ausgerechnet im "Neuen Deutschland" ist ein Essay erschienen, der über den Abend nachdenkt.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1072954.der-kaufmann-von-venedig-sprechen-sie-deutsch.html
Der Autor geht ins Grundsätzliche, beschreibt zum Beispiel auch ganz genau, wie der Darsteller des Shylock mit der schwierigen Problematik, den Hass eines Opfers darzustellen, umgeht.
Es ist vielleicht doch alles komplizierter in Münster als es sich hier darstellt.
vielen dank für den link zu Hans-Dieter Schütt. ich bin ganz bei ihnen, was zur diskussionseinschätzung hier von ihnen geschrieben wird. = das anliegen des stückes scheint weder verstanden, noch die bereitschaft vorhanden "verabredungsmuster" als nicht einzig und alternativlos reflexartig bedienen zu wollen. mal abgesehen von der dann schon ständig zu erwartenden reflexartigen gleichförmigkeit und der damit verbundenen langenweile - scheint auch eine "frech-freie" denkübung schon eine überforderung darzustellen, die jede weiterentwicklung verhindert und nur ergebenheit und kritiklosigkeit zum statusquo illustriert. (und sich dabei noch wundern und empören, dass es nicht besser wird - naja, außer für die wenigen prozent, die sich darüber freuen)