Jeder kreist um sich allein

von Sascha Westphal

Münster, 4. November 2017. "Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?" Dreimal erklingt diese Frage und mit ihr auch die anderen Fragen aus Shylocks berühmtem Monolog. Allerdings hält er ihn, wie von Shakespeare vorgesehen, nur ein einziges Mal. Zuvor ist es der Prinz von Marokko, einer der glücklosen Freier der umschwärmten Millionenerbin Portia, der sich Shylocks Worte zu eigen macht und voller Verzweiflung fragt: "Hat nicht ein Muslim Augen?" Im letzten Akt greift schließlich noch Nerissa, Portias Begleiterin, den Monolog auf und stellt ihn noch einmal in einen etwas anderen Kontext. Nun ist es eine Frau, die die Männer daran erinnert, dass alle Menschen sterben, wenn sie vergiftet werden.

Erboste Zwischenrufe

Diese Appropriationen weiten den Blick auf das wohl problematischste aller problematischen Stücke William Shakespeares. Ohne den Schmerz und die Wut Shylocks zu relativieren, deuten sie Verbindungen an, die nur niemand im Stück wahrhaben will. Für Solidarität und Verständnis ist weder in der Welt der Kaufleute von Venedig noch auf Belmont, Portias paradiesischem Landsitz, Platz. Jeder kreist alleine um sich und wird so an den anderen schuldig. Als der Prinz von Marokko, der in Stefan Ottenis Inszenierung von der in Damaskus geborenen Schauspielerin Zainab Alsawah gespielt wird, auf Belmont um Portia wirbt und sich der von deren Vater auferlegten Kästchenprobe stellt, bekommen Portias sarkastische Kommentare schnell einen xenophoben Einschlag. Sie erträgt es nicht, dass Alsawah immer wieder Arabisch spricht.

DieFremden3 560 Oliver Berg uÜberall besorgte Bürger: Sandra Bezler, Carola von Seckendorff, Christoph Rinke, Christian Bo Salle © Oliver Berg

Aber nicht nur die Erbin verliert in dieser Szene die Geduld. Auch aus dem Saal kommen sehr schnell erboste Zwischenrufe. Immer wieder wird Zainab Alsawah aufgefordert, Deutsch zu sprechen. Der einsetzende Tumult ist ebenso von Otteni inszeniert wie die Aktion, die schon vor der Aufführung im Foyer für Irritationen und zumindest bei einigen Zuschauern auch für Verärgerung gesorgt hat. Ein paar "besorgte Bürger von Münster" haben kleine Flugblätter mit der alarmistischen Überschrift "Überall sind die Fremden!" verteilt und so Werbung für eben die fremdenfeindlichen Haltungen gemacht, die dann bei Zainab Alsawahs Auftritt offen zu Tage treten.

Grandioser rhetorischer Kniff

Schon in seiner Münsteraner Inszenierung von Joël Pommerats La Révolution #1 – Wir schaffen das schon hatte Stefan Otteni mit im Saal verteilten Statisten gearbeitet, die das Geschehen auf der Bühne mal lauter, mal leiser kommentiert haben. Damals war diese Methode Teil der Vergegenwärtigung historischer Ereignisse und Prozesse. Diesmal konfrontiert sie das Publikum ganz direkt mit sich und seiner Umwelt. Zum einen leitet Otteni mit den 'Zuschauerprotesten' geschickt über zu "Die Fremden", der von Shakespeare geschriebenen Szene eines um 1600 von mehreren Autoren verfassten Stücks mit dem Titel "Sir Thomas Morus", über. Zum anderen erinnern die aggressiven Ausbrüche an den Eklat in der Kölner Philharmonie. Im Februar 2016 hatte ein aufgebrachtes Publikum den Cembalisten Mahan Esfahani mit "Reden Sie gefälligst Deutsch"-Rufen attackiert, als er seine Einführung zu Steve Reichs "Piano Phase" auf Englisch vortrug.

Gerade dieser doppelte Bezugrahmen verwandelt diese Passage von Ottenis Inszenierung in eine kleine Sensation. Natürlich fügen sich "Die Fremden" perfekt in den überaus widersprüchlichen, von Brüchen gezeichneten "Kaufmann von Venedig" ein. Schließlich erzählt diese Szene von einem sich anbahnenden Aufstand der Londoner Bevölkerung gegen französische Flüchtlinge, die in England Schutz gefunden haben. Sir Thomas Morus erstickt den Aufruhr mit einem grandiosen rhetorischen und dramaturgischen Kniff im Keim.

DieFremden2 560 Oliver Berg uOpfer? Spiegelbilder der Peiniger?  Christian Bo Salle, Zainab Alsawah, Sandra Bezler, Christoph Rinke) © Oliver Berg

In einem Gedankenspiel legt er den Aufrührern nahe, sich vorzustellen, sie selbst müssten nach den Ausschreitungen in ein anderes Land fliehen und würden dort ebenso behandelt, wie sie nun die Fremden behandeln wollen. Die Bezüge zu den im "Kaufmann" verhandelten Themen sind nicht nur offensichtlich. Sie rücken auch noch näher an unsere Gegenwart heran.

Und diesen Effekt verstärkt Otteni noch einmal durch die Verweise auf "besorgte Bürger". Während Carola von Seckendorff Morus' Monolog ganz kühl und sachlich vorträgt, erregt sich direkt hinter mir einer der Statisten halblaut darüber, dass er gerade als "Verbrecher" bezeichnet wurde. Ein anderer verlässt türenschlagend den Saal. Auch wenn diese Reaktionen klar als Inszenierung zu erkennen sind, bleibt doch ein extremes Unbehagen zurück. Schließlich hat der Vorfall in Köln bewiesen, dass so etwas durchaus in den heiligen Hallen der deutschen Kultur geschehen kann. Außerdem ist es längst nicht sicher, dass nur Statisten Zainab Alsawah beschimpft haben.

Berghoch ragt Eure Inhumanität

Das Zwischenspiel mit dem Prinzen von Marokko, das dann in dem Morus-Monolog gipfelt, ist ohne Frage ein Paradebeispiel dafür, wie politisches Theater heute aussehen und funktionieren kann. Aber der Rest der Inszenierung besticht durch eine bemerkenswerte gedankliche Klarheit und emotionale Tiefe. In der Gerichtsszene gelingt es Otteni, Entsetzen und Mitgefühl, Verständnis für Shylock und für Antonio im Gleichgewicht zu halten. Wenn Christoph Rinkes Shylock sein Pfund Fleisch einfordert, ist er kein Monster, sondern nur das Spiegelbild seiner Peiniger.

Morus' Monolog endet mit einem vernichtenden Vorwurf: "So geht's den Fremden, und so berghoch ragt Eure Inhumanität." Auch die Inhumanität der Christen in Venedig ragt berghoch. Also erklimmt Rinke diesen Berg, auf dem er Antonio gleichsam als Bruder begegnet. Der homosexuelle Antonio, dessen Liebe zu Bassanio niemals körperliche Erfüllung finden wird, ist bei Christian Bo Salle eher Shylocks Doppelgänger als sein Gegenspieler. Nicht zufällig verabschiedet er sich am Ende mit den gleichen Worten wie Shylock: "Mir ist nicht wohl." Und dieses Unwohlsein wird bleiben, bis er und alle anderen lernen, im Fremden sich selbst zu sehen.

 

Die Fremden / Der Kaufmann von Venedig
von William Shakespeare, Deutsch von Angelika Gundlach und Frank Günther ("Die Fremden")
Regie: Stefan Otteni, Bühne: Peter Scior, Kostüme: Sonja Albartus, Dramaturgie: Barbara Billy.
Mit: Carola von Seckendorff, Sandra Bezler, Natalja Joselewitsch, Christian Bo Salle, Bálint Tóth, Ilja Harjes, Christoph Rinke, Zainab Alsawah, Garry Fischmann und Statisterie.
Dauer: 2 Stunden 55 Minuten, eine Pause

www.theater-muenster.com

 

Kritikenrundschau

Eine "provokante Dekonstruktion" des Kaufmanns von Venedig hat Anke Schwarze gesehen und schreibt im Westfälischen Anzeiger (6.11.2017): Otteni gebe den verstörenden Elemente der Tragikomödie größeres Gewicht. Die umstrittene Szene mit dem Prinzen wertet Schwarze als "gelungene Irritation". Generell sei die Inszenierung dort gut, wo sie dicht am Original sei und Spannung aus den unterschwelligen Emotionen der Darsteller beziehe. "Dagegen verflachen die komischen Nummern."

Die Szene mit dem arabisch sprechenden Prinzen hebt auch Harald Suerland in den Westfälischen Nachrichten (6.11.2017) hervor und findet sie "so glänzend inszeniert, dass man sich in einem echten Tumult wähnt". Auch sonst lobt er die Regie – Otteni verzahne die beiden eher schwach verbundenen Handlungsstränge des "Kaufmanns von Venedig", und "so wunderbar komisch Otteni die Bewerber um Portia zeichnet, so bitter-hell analysiert er Shylocks Hass". Die Schauspieler entsprächen dem in "fabelhafter Ensemble-Arbeit".

Kommentare  
Die Fremden, Münster: alles inszeniert?
Wir waren gestern Abend empört mit welcher Häme der jungen Schauspielerin begegnet wurde, als sie versucht hat, auf der Bühne arabisch zu reden. Nun lesen wir, es war "alles inszeniert". Das ist an Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten. Wie kann das Theater Münster zulassen, daß derart mit den politischen Gefühlen der Zuschauer gespielt wird?
Die Fremden, Münster: sehenswert
Die Rezension hat den tiefen Kern der Inszenierung gut erfasst.
Sie lässt aber völlig außer Acht, dass es sich bei dem Stück auch um eine Komödie handelt und dieser Aspekt an diesem Abend wirklich nicht zu kurz kommt. Sehenswert!
Die Fremden, Münster: lebensecht täuschen
@ Sabine:
Aber ist es nicht ein Erfolg der Kunst, wenn sie einen so lebensecht täuschen kann? Sicher hat es sie bewegt und am Ende des Theaterbesuchs zu reichlich Diskussionen beigetragen. Und damit ist es Ihnen im Kopf geblieben und hat ihre Realität beeinflusst. Die Welt verändert. Gratulation!
Die Fremden, Münster: zuviele Nicker
Ich saß mitten im Publikum als der "inszenierte" Protest gegen die arabische Szene ausbrach. Um mich herum nickten die Zuschauer, als die Statisten riefen. So viele Leute kann der Regisseur gar nicht bezahlen, wie da genickt haben. Meine Stadt soll sich also nicht so viel darauf einbilden, dass die Afd bei der Wahl hier unter 5% geblieben ist. Leute, denen "das Fremde" in Münster ein Graus ist, gibt's hier genügend. Neben mir saßen zwei Herren, die schon vor der arabischen Szene lauthals über das "blöde Regietheater" lästerten, so dass man sich gewünscht hätte, dass der Regisseur beim Schlußapplaus auch noch mal sagt: "Wenn ihr uns Regisseure stecht, bluten wir nicht?"
Die Fremden, Münster: enthüllende Buh-Generation
welch freude über die geniale regie! "experimentelles theater" ganz ohne technischen schnickschnack - sondern mit "einfachen" gedanken- und gefühlsexperimenten, welche bühne und publikum miteinender in dialog bringen - und dies noch vor allem als kömodie mit sehr aktuellem gegenwartsbezug.

bedenklich, wer im theater sowas wie die darstellung von realpolitik erwartet hat und seine kunstferne erleben durfte >>> natürlich als unwohlsein ...

viel grund zum nachdenken wurde geliefert: bravo!!! für das enthüllende generieren von "buhs" ...
Die Fremden, Münster: unangesprochenes Problem
In meiner Wahrnehmung waren die Proteste gegen die inszenierten Einwürfe vorherrschend, was den beteiligten Statist*innen den Job sicherlich nicht leicht gemacht hat. Aber wenn es, wie "Linker" schreibt, auch zustimmende Kommentare gab, so kann man nur hoffen, dass die Inszenierung nicht dazu beiträgt, dass sich der eine oder die andere ermutigt fühlt, seinen fremdenfeindlichen Ressentiments freien Lauf zu lassen.
Die "Nachtkritik" spricht allerdings ein Problem gar nicht an: Ist es der Inszenierung gelungen, den Antisemitismus, der dem Shakespeare-Text ohne Zweifel innewohnt, aufzudecken und ihn so zu wenden, dass das Stück "nach Auschwitz" wieder aufführbar ist. Einige Aspekte sprechen dafür, aber insgesamt bleiben mir doch erhebliche Zweifel. Die Entlarvung von Fremdenfeindlichkeit ist noch nicht die Entlarvung von Antisemitismus.
Die Fremden, Münster: eher Genervtheit als Hass
Ich durfte mir am Samstag das Stück auch ansehen und ich fand beide Teile gut - sowohl den Kaufmann als auch den kreativen Einschub mit dem Fremden (also den Flugblättern und dem arabischen Monolog).
Der gewagte Einschub hatte in der Tat zu intensiven Emotionen im Publik geführt, dafür Lob. Aber die Emotionen waren eher gegen die Zumutung durch den Regisseur gerichtet, dass man diese offensichtliche Posse jetzt mehrere Minuten ertragen darf und nicht zum Stück kommt, als gegen die Tatsache, dass da jemand arabisch redet und man sich gegen das Fremde sträubt. Es verblieb somit eher ein Gefühl von Genervtheit und nicht von Hass. Und somit verfehlt es die Emotionen der Charaktere des Hauptstücks (die Angst, Verlust, Hass, etc.). Wenn man das geschafft hätte, wäre es genial gewesen, aberInsgesamt passten die beiden Hälfte also nicht zusammen und haben sich nicht bereichert. Ich fand mich noch eine Stunde nach dem Einschub grübelnd, aber leider auf der Metaebene (wie hätte man das besser kombinieren können / was genau war die Intention des Schauspiels) und nicht über das Thema Fremdenhass und habe somit dem weiteren Stück nicht die volle Aufmerksamkeit widmen können.
Schade. Der Einschub war ungewohnt und riskant, aber leider am Ende nicht vollkommen passend zum Kaufmann.
Die Fremden, Münster: Rufe der Statisten
Auch ich hatte das Vergnügen den Samstag Abend im Stadttheater zu verbringen. Es war eine gute Inszenigerung in der es dem Ensemble sehr wohl gelungen ist, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zu entlarven. Shylock war nicht der von Shakespeare konzipierte 'böse' Jude. Shylock wurde als Mensch in Nöten und als zutiefst verletzter Aussenseiter nachvollziehbar zu seinem Ansinnen getrieben. Der, dem Stück innewohnende, Antisemitismus wurde klar und deutlich - für jeden der bereit war die Augen zu öffnen.

Was die Buh-Rufe und 'bitte Deutsch'-Rufe angeht. Da waren entweder sehr viele Statisten oder - die Rufe der Statisten wurden von Teilen des Publikums dankend aufgenommen. Ein Teil dieser Rufer verließ übrigens in der Pause erbost das Theater und ist nicht zurückgekehrt. Es ist nicht davon auszugehen, dass dieser Zuschauerkreis zu einem tieferen Verständnis vorgedrungen ist.
Die Fremden, Münster: Verlogenheit verhandelt
Was der Kritiker nur streift ("gedankliche Klarheit und emotionale Tiefe") - und die Kommentare ganz unter den Tisch fallen lassen: Der Abend in Münster war eine ganz seltsame sanfte Veranstaltung, ohne jeden Schock und Brüllerei, wie das im modernen Theater ja leider zur Tagesordnung geworden ist. Das Thema Liebe wurde erweitert auf das Thema Nächstenliebe, politische Liebe. Vor allem der Shylock Darsteller hat mir immer wieder sehr gefallen wie er ganz leise um Freundschaft bittet und sie nicht bekommt. Weil da immer dieser riesige Jesus über der Szene hing, hatte man das Gefühl, hier wird das ganze Christentum in seiner Verlogenheit abgehandelt. Und das in unsrer katholischen Stadt.
Die Fremden, Münster: Unschärfe
#6 Was hier angesprochen wird, scheint mir die große Unschärfe der Inszenierung zu sein: Entlarvung von Fremdenfeindlichkeit ist nicht Entlarvung von Antisemitismus. So genial die Szene und der Tumult im Saal um den Prinz von Marokko waren (ich habe nicht gemerkt, daß es ein fake war), es bleibt dennoch sehr gefährlich, einem Muslim und einer Frau den großen Aufschrei des Shylock-Monologs in den Mund zu legen. Soll das heißen, die sind alle gleich unterdrückt? Ist das Leid des jüdischen Volkes auf einmal wieder relativierbar auf deutschen Bühnen? Oder soll den Deutschen das schlechte Gewissen sozusagen erweitert werden: Wir haben uns an den Juden schuldig gemacht, wir machen die Muslime zu den neuen Juden, wir unterdrücken die Frauen?? Sehr heikel das.
Die Fremden, Münster: bei Adorno
#10


"Entlarvung von Fremdenfeindlichkeit ist nicht Entlarvung von Antisemitismus"

die große überschrift heißt "faschismus" und dazu gehören ALLE - wie auch immer selektiv betrachteten - faschistoiden haltungen, welche heute unter verwirrend vielen namen und begriffen kaum noch thematisiert werden. ich bleibe da einfach weiterhin bei adorno und erschrecke jedesmal, wenn sich seine voraussage in der praxis bestätigt UND wie daran ruminstrumentalisiert wird ...
Die Fremden, Münster: inszenierte Fremdenfeindlichkeit
#1, #6, #10

Das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit, das Verschwimmen der Grenzen - immer wieder beliebt, immer wieder gefährlich und im Kern immer demagogisch und manipulativ. Ein künstlich inszenierter Frendenfeindlichkeitsskandal mit bezahlten agents provocateures. Das nenne ich wahrhaft aufklärerisch.

Die angebliche "Entlarvung von Fremdenfeindlichkeit" war also ein Fake - es wurde nichts entlarvt, sie fand nicht statt, sie mußte künstlich inszeniert und behauptet werden. Es sollte dem Publikum rechtsradikales Gedankengut untergeschoben werden, das es ohne die inszenierte Hetze so gar nicht gehabt hätte. Wie schön, daß da Statisten rechtsradikale Bürger spielen durften, ohne daß allen klar wurde, daß das ein abgekartetes Spiel war. Das heißt: Das Publikum sollte durch Provokateure als rechtsradikales Pack diffamiert werden.

Nun war es das keineswegs, wie Kommentatorin #1 deutlich macht - sie ist entsetzt über die perfide und betrügerische Manipulation, der sie in gutem Glauben aufgesessen ist. Sie empfindet die inszenierte Hetze als perfiden Angriff auf ihre Mündigkeit als Bürgerin. Sie fühlt sich von der Inszenierung instrumentalisiert und mißbraucht. Und es war wohl so, daß erst die inszenierte Nummer manche Bürger zur Zustimmung zu etwas brachte, was ohne die Statisten nicht stattgefunden hätte. Man könnte das auch als Anstiftung zu Haß und Hetze bezeichnen - natürlich immer im selbstlosen Dienst am Guten und Wahren. Aufklärung geht anders.

Es ist beruhigend, daß die Buhs wohl größtenteils dem inszenatorischen Schabernack galten.
Die Fremden, Münster: antisemitisches Stück
# Die gedankliche Unschärfe ist doch hier beim Kommentator. Großer Quatsch, zu sagen, wenn man den Focus auf die anderen unterdrückten Minderheiten richtet, relativiert man etwas anderes, schon gar nicht Hass auf Juden. Das Problem ist doch eindeutig das antisemitische Stück selber. Ich kenne die Aufführung in Münster nicht, aber ein Jude, der im Gericht offen ein Stück Fleisch aus einem Menschen schneidet, echt jetzt??? Das klingt wie ein schlechter Marvel-Comic-Bösewicht. Kann man so was nach dem ganzen 20. Jahrhundert noch zeigen?? Wieso wird das Stück noch gespielt? Weils von Shakespeare ist? Konnte der den Holocaust vorhersehen? Leute, kommt runter von der Klassik Schiene.
Die Fremden, Münster: Theoretisieren
Nr # 12 - waren Sie im Theater und haben gespürt und gesehen, was der Abend sonst noch bietet? # 13, wissen Sie, welche Drastik es erzeugt hat, daß Shylock das Fleisch bis zum Ende fordert? Und was das vor allem über den Hass der (christlichen) Gesellschaft in Venedig erzählt?
Waren sie beide - (und einige andere hier) da? Was soll das Theoretisieren über eindrucksvolle Elemente einer Inszenierung, die Sie in ihrer Mechanik gar nicht erlebt haben? Theoretisch mag ich auch keine Marvelcomics, aber Theater ist zum Glück

ganz praktisch.
Die Fremden, Münster: Die kleine Sensation
#14

Nein, ich habe die Aufführung nicht gesehen. Ich habe mich auch ausschließlich auf jene "kleine Sensation" bezogen, die die obigen Kommentare in übereinstimmend klaren Beschreibungen, wenn auch unterschiedlichen Wertungen, dargelegt haben. Ich habe meine Meinung zum Prinzip dieser beschriebenen "Sensation" formuliert - ich halte sie für übergriffig gegen das Publikum.

Zu Ihrer Frage an #13: "wissen Sie, welche Drastik es erzeugt hat, daß Shylock das Fleisch bis zum Ende fordert? Und was das vor allem über den Hass der (christlichen) Gesellschaft in Venedig erzählt?"

Es würde mich interessieren, was Sie zu dieser Vorstellung oder Behauptung vom "Haß der christlichen Gesellschaft in Venedig" anhand des Stückes veranlaßt.
Die Fremden, Münster: selten so politisch
Es ist nicht zu fassen, jetzt übernehmen wieder diese "Ich-habs-ja-nicht-gesehen-aber" - Besserwisser die Deutungshoheit über die Aufführung. Also, ich HABS gesehen und was Herr oder Frau Tucholskaja da schwafelt ist schlicht unsinnig. Das war kein "inzenatorischer Schabernack", das war eine politische Aktion auf höchstem Niveau, was da im Zuschauerraum ablief. Mehr noch, es war ein soziales Experiment, zu sehen, wer oder ob sich Leute positonierenn würde, wenn die Afd bis in den Zuschauerraum des Stadttheaters vordringt, irgendwann mal, in 10 Jahren. Experiment geglückt! und übrigens ist es ungerecht, den Rest der Inszenierung zu unterschlagen. Daß ein schwuler Antonio, ein gemobbter Muslim, eine gedisste Frau um ihr Recht auf Minderheitenstatus kämpfen, das muß man erstmal hinbekommen. Die Schauspieler waren selten so politisch.
Die Fremden, Münster: gesperrt?
Ich darf die nk-Redaktion darauf aufmerksam machen, daß es sich bei meinem soeben als "SPAM" abgelehnten Kommentar NICHT um SPAM, sondern um einen Meinungsbeitrag handelt.

Darf ich davon ausgehen, daß Sie mich gesperrt haben?

(Werte Tucholskaja, der vorhrige Beitrag ist bei uns nicht eingegangen. Gesperrt sind Sie nicht. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Die Fremden, Münster: Guckt es euch an!
Hört auf zu palavern, geht einfach und guckt es euch an, es ist ein toller Abend!
Die Fremden, Münster: Gläubige und Ungläubige
#15 "Der Haß der Christlichen Gesellschaft" ? Dafür brauchen Sie eine Erklärung?? Meiner Meinung nach denken wir, also die Mehrheitsgesellschaft, die sich eben christlich definiert, viel zu wenig darüber nach, was das mit den Neu-Ankommenden Deutschen macht, wenn sie hier in unserm Land mit so einem aggressiv vorgetragenen Minderwertigkeitskomplex konfrontiert werden. Was kann ein gläubiger Muslim, der vielleicht durch die Erlebnisse auf der Flucht dazu gebracht wurde, sich noch mehr an einen Gott zu richten, der eine schützende Hand über ihn hält - was kann der dafür, daß er in Deutschland auf verunsicherte Bürger trifft, die mit ihrem christlichen Glauben hadern? Die halb glauben, Ein-Viertel-Glauben, die längst in Wellness, Buddhismus und Yoga abgewandert sind? Das sind so Fragen, wenn man diese kurz gedachten Kommentare hier liest...
Die Fremden, Münster: Zuschauer-Manipulation
@ #16

Zitat: "//Es ist nicht zu fassen, jetzt übernehmen wieder diese "Ich-habs-ja-nicht-gesehen-aber" - Besserwisser die Deutungshoheit über die Aufführung.//"

Wie Sie durch Lesen unschwer feststellen könnten, habe ich keineswegs die "Deutungshoheit über die Aufführung" übernommen - wie könnte ich auch, ich habe sie ja nicht gesehen. Ich habe ausdrücklich nur ein einzelnes Element der Aufführung kommentiert: "die kleine Senation", wie sie in der nk-Kritik benannt wurde und von mehreren Zuschauern beschrieben wurde. Über das hier mehrfach klar dargestellte Prinzip dieser "Sensation" kann man sich sehr wohl äußern, ohne den Abend gesehen zu haben: Der inszenierte "Fremdenfeindlichkeits"-Fake durch nicht kenntlich gemachte bezahlte Provokateure stellt ein grundsätzliches Problem jenseits der Aufführung dar und nicht nur ein ästhetisches: Ist eine solche gezielte Irreführung, Täuschung und Manipulation der Zuschauer ethisch zu verantworten? Meine Antwort ist nein.

( @ Tucholskaja: Bitte formulieren sie doch etwas weniger total. Das wäre entgegenkommend. Dann veröffentlichen wir gerne. Danke! Mit den besten Grüßen aus der Redaktion: E. Philipp )
Die Fremden, Münster: #15 unverständlich
Zitat #15 "Der Haß der Christlichen Gesellschaft" ? Dafür brauchen Sie eine Erklärung?? Meiner Meinung nach denken wir, also die Mehrheitsgesellschaft, die sich eben christlich definiert, viel zu wenig darüber nach, was das mit den Neu-Ankommenden Deutschen macht, wenn sie hier in unserm Land mit so einem aggressiv vorgetragenen Minderwertigkeitskomplex konfrontiert werden. "

Leider verstehe ich Ihren Beitrag nicht.
Die Fremden, Münster:
zu der Redaktions-Kritik an Kommentar #21:

Man kann nicht weniger total formulieren, als „Ich denkesehemeinefinde“ zu sagen/schreiben.
„Ich“ ist immer nur einer und eben nicht „die Mehrheit“ oder gar „alle“.
Einer der, indem er „Ich“ sagt/schreibt, bekennend nur sich selbst als DenkendenSehendenFindendenMeinenden über eine Sache meint.
Das ist das Gegenteil von Totalität.
Was andere – nach meiner Beobachtung - daran so leicht verübeln, dass sie es am liebsten verschweigen (z.B. durch Nicht-Veröffentlichen) wollen, ist, dass da einer sich offenbar GANZ fühlt.
Nicht beschädigt und nicht entfremdet fühlt von seinem eigenen Denken und Fühlen.
Das wird heutzutage – beobachte ich überproportional häufig in Kunst UND Alltag - niemandem so recht als Selbstwertgefühl gegönnt.
Warum eigentlich nicht?
Das war doch eine klare persönliche Position zu der manipulativen Provokation des Publikums in dem Stück durch Regie.

Dieser Position entspräche im Alltag zum Beispiel die ganz eindeutige Ablehnung des Einsatzes von institutionell eingesetzten V-Männern, die in optional verbrecherischen Kreisen tatsächliche Verbrechen provozieren, um aus vermuteten optionalen Tätern tatsächliche zu machen, damit man sie als uneindeutige Gefahr aus dem Verkehr ziehen kann. Und das ist keine totalitäre ablehnende Haltung, sondern eine eindeutige Positionierung zu einem realen politischen Vorgang.
Das ist ein Unterschied.
Und mit "Tucholskaja" hat jemand eine eindeutige Haltung zur manipulativen Provokation von Zuschauerreaktionen zu dargestellten komplizierten, politisch interpretierbaren Sachverhalten. Wer eine weniger eindeutige Position dazu hat, kann doch seine Meinung ebenfalls hier schreiben und diese auch begründen...

( Liebe D. Rust, da stimme ich Ihnen vollumfänglich zu. Meine Anmerkung war eine Nachricht an "Tucholskaya" und daher offenbar missverständlich: Der Hinweis bezog sich nicht auf den für alle einsehbaren veröffentlichten Kommentar, sondern auf einen Teil desselben, den ich auf Grundlage unserer Kommentar-Etikette nicht veröffentlicht habe. Viele Grüße von E. Philipp )
Die Fremden, Münster: ein Statist spricht
Als einer der "bezahlten Provokateure" möchte ich Sie, Frau (?) Tucholskaja darauf hinweisen, dass wir ehrenamtliche Statisten sind, die eine Aufwandsentschädigung erhalten. Diese als "Bezahlung" zu bezeichnen wäre nicht sehr passend. Bedeutsam bei Ihrer Wortwahl ist aber, dass Sie mit ihr die Statisten ins Unrecht setzen wollen. Die spielen aber eine Rolle im Theater, sie sind "die Bösen". Dass "das Böse" immer wieder auch auf der Theaterbühne auftaucht und gespielt wird, dürfte Ihnen bekannt sein. Wahrscheinlich werden Sie antworten, in solch einem Fall sei allen klar, dass es gespielt wird, unmoralisch werde es, wenn den Zuschauern das Spiel verheimlicht werde. In der Inszenierung ist die Provokation aber völlig berechtigt und dem Shakespeare-Text "Die Fremden" angemessen. Textangemessen ist sie, weil sie genau das vorführt, was der Mob in London 1517 an den Tag gelegt hat und wogegen der Text argumentiert. Seine aktuelle politische Brisanz erhält dieser Inszenierungsaspekt dadurch, dass solche Zwischenrufe wirklich möglich wären, es gibt nun einmal den Fremdenhass in unserer Gesellschaft. Die Verunsicherung unter den Zuschauern, die Tatsache, dass manche (viele?) den "Fake" nicht durchschauten, zeigt doch, dass sie so etwas als Teil ihrer Realität erkennen. Sie wurden auch nicht manipuliert (#22), denn sie hatten die Möglichkeit zu reagieren, ihre eigene Auffassung zum Ausdruck zu bringen. Und zum Glück hat ja auch ein großer Teil des Publikums seine Ablehnung gegenüber den Zwischenrufern gezeigt. Den Einsatz der Zwischenrufer im Theater mit dem Einsatz von "Agents provocateurs" durch Geheimdienste gleichzusetzen, kann ich nur als Unsinn betrachten.
Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, ob mit der Inszenierung der der Komödie "Der Kaufmann von Venedig" immanente Antisemitismus verarbeitet wurde, das Stück nach der Erfahrung des Holocaust also wieder "aufführbar" wurde. Ja, der Figur des Shylock wird viel von dem Zerrbild des raffgierigen Juden genommen, seine Haltung wird nachvollziehbar, er sucht auch die Liebe der Christen. Aber da ist auch die Figur der Jessica, Shylocks Tochter, die ihren Vater und sein Judentum rigoros ablehnt, das erste Vaterunser erscheint als Rettung aus ihrer Verstricktheit in die familiäre und religiöse Abhängigkeit. Sie lässt nicht einmal zu, dass ihr Mann Lorenzo ein jiddisches Lied singt, um sie zu trösten. Sie singt stattdessen ein (sehr schönes) arabisches. Überhaupt das Arabische: In ihrem Zimmer hängen die Poster von arabischen Popstars (So vermute ich.). Das ganze eine indirekte (und einseitige?) Stellungnahme zum Nahost-Konflikt? Und schließlich: Am Ende des Stückes gibt es keinen Juden / keine Jüdin mehr ...
Die Fremden, Münster: was ich nicht möchte
Es freut einen doch sehr, wenn im Theater auch die Statisten sehr genau wissen, was sie wann und warum auf der Bühne darstellen.
Trotzdem möchte ich einwenden, dass ich den Vergleich nicht mit den V-Männern nicht DIREKT zum Bühnengeschehen habe, sondern zwischen einer geäußerten Alltags-Kritik und einer geäußerten Kritik im Bereich der Kunst, hier an der Theaterkunst.
Sie schreiben, dass die Verunsicherung des Publikums sowie die Tatsache, dass" manche (viele?) den "Fake" nicht durchschauten", zeigte, dass das Publikum etwas das der "Mob" z.B. in London 1517 - den sie hier konkret spielen - an den Tag gelegt habe, als Teil ihrer Realität zu erkennen.
Da stellt sich die Frage, was das Publikum zum größeren oder kleineren (?) Teil nun als Teil seiner Realität erkannt hat: dass es im Jahr 1517 lebt und zwar in London und das eh genau das selbe ist wie 2017 und in Münster? Oder hat es als Teil seiner Realität erkannt, dass es sehr oft einen "Fake", besonders bei News, nicht als solchen erkennt?
Man kann jemanden im Übrigen auch dazu manipulieren zu reagieren, nicht nur dazu, nicht zu reagieren. Noch dazu in einer bestimmten Weise zu reagieren. Sie selbst sprechen davon, dass ein großer Teil des Publikums "zum Glück" seine Ablehnung gegenüber den Zwischenrufern gezeigt habe. Und da stellt sich mir die Frage: Zu wessen Glück denn genau? sind jetzt die Theatermacher froh und glücklich darüber gewesen, oder waren Sie froh und glücklich über die Mehrheit des ordentlich seine ordentliche Moral zeigenden Publikums?
Woher wissen Sie wem die gezeigte Ablehnung galt: dem dargestellten, gefakten Mob? Oder dem Theater, das als bewusster Provokateur der Gesinnungsanzeige durch das Publikum von ihm erkannt worden war? -
Zu allem andern kann ich mich nicht äußern, weil ich das Stück nicht gesehen habe, ich bin aber auch - ehrlich gesagt - froh deshalb. Das geht nicht gegen Sie persönlich, aber ich möchte bitte nicht als für eine Theatervorstellung zahlender Mensch, eine Gesinnungsprüfung vor Theatermachern ablegen müssen. Ich möchte auch nicht Zeuge sein, wenn sich im Theater die "zum Glück" "gut" Gesinnten von den "schlecht" Gesinnten vermeintlich in der Personenmenge Publikum offensichtlich scheiden - weil ich das jeden Tag im Leben außerhalb des Theaters auch haben kann. Ich möchte als Publikum nicht denunziert werden und möchte - sollte ich mich zufällig für Theatermenschen angemessen wohlfeil moralisch korrekt verhalten - auch nicht erleben, dass vielleicht der Mensch, der neben mir sitzt, auf diese Art und Weise denunziert wird. Überflüssig zu sagen, dass mir vollkommen wurscht wäre, ob das ein Moslem, ein Jude, ein Christ, ein Buddhist, ein Atheist oder ob das MannFrauAnderes oder Kind wäre.
Die Fremden, Münster: ist wie "Feuer!" rufen
@ #23

Danke für die Aufklärung, aber ich weiß, was Statisten sind und unter welchen Bedingungen sie arbeiten.

//Bedeutsam bei Ihrer Wortwahl ist aber, dass Sie mit ihr die Statisten ins Unrecht setzen wollen.//

Nichts liegt mir ferner. Statisten werden vom Regisseur inszeniert und tun das, was ihnen gesagt wird. Wenn sie eine marodierende Räuberbande darstellen, wäre es abwegig, ihnen persönlich-privat marodierende Räuberei zu unterstellen. Ich kann zwischen Darsteller und Dargestelltem unterscheiden. In diesem Fall wurden Sie allerdings dazu angehalten, provokativ "Realität" im Zuschauerraum zu behaupten und nicht eine Bühnenrolle auszugestalten. Die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit sollte bewußt verwischt werden, die Zuschauer sollten irregeführt und provoziert werden. Der Vorwurf geht an die Regie, nicht an die Ausführenden. Dazu haben Sie sich allerdings hergegeben - freiwillig.

//Wahrscheinlich werden Sie antworten, in solch einem Fall sei allen klar, dass es gespielt wird, unmoralisch werde es, wenn den Zuschauern das Spiel verheimlicht werde.//

Richtig.

//In der Inszenierung ist die Provokation aber völlig berechtigt und dem Shakespeare-Text "Die Fremden" angemessen. Textangemessen ist sie, weil sie genau das vorführt, was der Mob in London 1517 an den Tag gelegt hat und wogegen der Text argumentiert.//

Nicht richtig. Soweit ich mich an den Text des "Morus"-Stückes erinnere, läßt dieser deutliche Sympathien für den "Mob" erkennen - für die Londoner Bevölkerung, die unter den sexuellen Übergriffen, Zurücksetzungen und frechen Diebstählen der "Fremden" leidet. Da weder König noch Adel den bedrängten Bürgern beistehen, greifen diese zum falschen Mittel der Gewalt. Der Text betrachtet den Vorgang durchaus differenziert - was man von Ihrer pauschalen Bezeichnung "Mob" nicht gerade sagen kann.

//Sie wurden auch nicht manipuliert (#22), denn sie hatten die Möglichkeit zu reagieren, ihre eigene Auffassung zum Ausdruck zu bringen.//

Selbstverständlich wurden sie manipuliert - es ist etwa so, als würde in einem vollbesetzten Saal jemand absichtlich "Feuer!" schreien um zu schauen, wie die Leute jetzt echt reagieren. Simulation von Wirklichkeit erschafft tatsächliche Wirklichkeit - und woher nimmt das Theater die Berechtigung für solche Täuschung der Zuschauer?
Die Fremden, Münster: noch gruseliger
@ #23
//Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, ob mit der Inszenierung der der Komödie "Der Kaufmann von Venedig" immanente Antisemitismus verarbeitet wurde,... Aber da ist auch die Figur der Jessica, Shylocks Tochter, die ihren Vater und sein Judentum rigoros ablehnt, das erste Vaterunser erscheint als Rettung aus ihrer Verstricktheit in die familiäre und religiöse Abhängigkeit. Sie lässt nicht einmal zu, dass ihr Mann Lorenzo ein jiddisches Lied singt, um sie zu trösten. Sie singt stattdessen ein (sehr schönes) arabisches.//

Ich habe bekanntlich die Aufführung nicht gesehen. Die Art, wie Jessica in Shakespeares Stück geschildert wird ("Ich bin so froh, daß ich endlich Christin werden kann", oder so ähnlich), erschien mir allerdings immer als eines der massivsten Beispiele für dessen Antisemitismus. Was Sie hier positiv wertend beschreiben, treibt diesen Antisemitismus ersichtlich gleich noch ein paar Umdrehungen weiter: das "erste Vaterunser" rettet sie aus ihrer jüdischen "religiösen Abhängigkeit" - na klasse! Das hört der Vatikan gern, der will schon seit bald 2000 Jahren die Juden konvertieren. Aus dem Judentum muß man "gerettet" werden, prima. Und die Jüdin will kein jiddisches Lied hören, sondern singt ein "sehr schönes arabisches". In der Tat, eine beeindruckende "Verarbeitung des immanenten Antisemitismus" - liegt in dieser Aufführung die Zukunft der Jüdin Jessica, die arabische Popstars anhimmelt, nun im Christentum oder im Islam? Das Judentum wird jedenfalls "rigoros abgelehnt"... Tja, so wird das Stück "nach der Erfahrung des Holocaust" also wieder "aufführbar".

Und zum grandiosen Schluß:

//" Und schließlich: Am Ende des Stückes gibt es keinen Juden / keine Jüdin mehr ..."//

O ja, diese Auslöschung des Jüdischen - davon träumen sehr viele Leute.

Es scheint in Ihrer Beschreibung ja noch gruseliger zu sein, als ich bislang dachte.
Die Fremden, Münster: Zusammenhalt der Minderheiten
Auch wenn Frau Tucholskaja und D.Rust sich vor Empörung gar nicht mehr einkriegen über V-Männer und Juden, die arabische Lieder singen: Die Aufführung hat meiner Meinung nach ein ganz anderes Thema, nämlich ob Minderheiten untereinander Zusammenhalt finden können, dadurch, daß sie ausgestoßen sind. Es sind genügend Rassisten und Antisemiten auf der Bühne um die paar Statisten (in einer Szene, Leute!) zu relativieren. Gerade das hervorragende Spiel der Darsteller von Shylock und Antonio zeigt, daß Opfer und Täter eng beieinander sind, ja deckungsgleich. Das ist in einem Klima der Polarisierungen (hier ja auch) unschätzbar, finde ich. Hingehen!
Die Fremden, Münster: Kritik, nicht Empörung
#27: Sie irren, ich bin nicht empört, sondern ganz gelassen. Das macht einfach die Gewohnheit, wenn man immer zu hören bekommt, sobald man etwas begründet kritisiert, dass man empört sei.
Man gewöhnt sich an diesen Vorwurf so sehr, dass er irgendwann an einem abgleitet.
Es ist eventuell einfach nur nett, wenn man diese Wirkung auch anderen kundtut. Weil sie dann ihre eigene Haltung gegenüber Kritik und Kritikern auch prüfen können.
Wenn sie nicht wissen, wie ihre Vorwürfe wirken, können sie das ja nicht. Das wäre doch eventuell ein Verlust für Menschen, die gern nicht nur andere, sondern auch sich selbst prüfen.
Deshalb ist betriebsinterne Kritik aus meiner Sicht ein Akt der fachbezogenen Solidarität.
Es steht Ihnen vollkommen frei, das anders zu seh, Herr oder Frau oder Anderes S. Hansen. -
Ich aber weiß, wann ich empört bin und wann gelassen. Ich merke das an meinem Blutdruck und an meiner spontanen angewandten Rechtschreibung und Grammatik z.B. und ansonsten spiegelt mir das mein unmittelbares Lebensumfeld.
Die Fremden, Münster: Shylock, aber Jessica
#26
Ich möchte mich nicht weiter zu der Funktion der Zwischenrufer innerhalb der Inszenierung äußern, aber doch zu dem, was Frau Tucholskaja aus dem zweiten Teil meines Kommentars (#23) herausliest. All die Aspekte, die ich an der Figur der Jessica hervorhebe enthalten selbstverständlich keine positiven Wertungen. Ich sehe in der Darstellung des Shylock Ansätze zur Überwindung des im Shakespeare-Text angelegten Ressentiments vom raffgierigen Juden, hier werte ich die Inszenierung also positiv. Dagegen setze ich durch das Wort "aber" die Darstellung Jessicas. Wer genau liest, sollte meine ernsthaften Vorbehalte dieser gegenüber erkennen. Dem Urteil von Frau Tucholskaja stimme ich insofern eigentlich zu, benutze aber ganz bewusst innerhalb dieser Diskussion nicht das Wort "Antisemitismus", um nicht Gesprächsschranken aufzubauen, die nicht weiterführen. Nicht einfach, diese Diskussion!
Die Fremden, Münster: bitte nicht weiter zerfransen
Es geht ja hoch her hier. Und teilweise so vorbei.
Mich wundert, daß hier über die Inszenierungsmechaniken und Antisemitismus theoretisiert wird, ohne die Nuancen und Widersprüchlichkeit dieser Inszenierung zu kennen und einbeziehen zu können. Muß ich über ein Bild im Museum theoretisieren, das ich nicht mal angesehen habe? Hat es Sinn, wenn ich mich über zuviel BLAU darin aufregen, wenn ich die Benutzung, die Farbverläufe nicht kenne? Reicht es, blau theoretisch zu kalt zu finden?

In dieser Diskussion werden Aspekte des Abends herausgepickt, ohne die anderen Szenen, den Kontrast dazu zu kennen. Ohne Stimmungsverläufe, Widersprüchlichkeiten und gegengesetzte Szenen selbst erlebt zu haben.
Ich gebe S. Hansen (#27) Recht. Es geht um viel mehr. Es geht um Minderheiten und den Kampf gegeneinander. Es geht auch um Befremdung auf allen Ebenen und unseren Umgang mit Fremdsein. Es geht um fehlende Liebe und Angst - und um vieles mehr. Das alles fällt bei dieser Diskussion über zwei Aspekte der Inszenierung unter den Tisch. Es ist ärgerlich, einen bewegend widersprüchlichen Abend, der sehr viel mehr ist als eine provokante Szene oder "Aufführung eines antisemitischen Stücks", hier unter "man wird ja wohl seine Meinung darüber schreiben dürfen" zerfranst zu sehen. Kunst will erlebt werden. Gehen Sie rein.
Die Fremden, Münster: Fehldeutung
# 29

// All die Aspekte, die ich an der Figur der Jessica hervorhebe enthalten selbstverständlich keine positiven Wertungen.//

Ich hatte noch überlegt, hinter "positiv wertend" ein "(?)" zu setzen setzen, als Zeichen, daß ich mir unschlüssig war, wie Sie es letztlich meinen. Es schien mir positiv gemeint, wenn auch das "aber" irritierte. Meine Fehldeutung tut mir leid.

Mißverständnisse und "Gesprächsschranken" können ersichtlich auch aus Nichtbenennung und Begriffsvermeidungen entstehen.
Die Fremden, Münster: packend
Es war ein packender Theaterabend, der lange nachwirkt. Es war wie sonst nie im Theater: Immer, wenn man glaubte, zu wissen, welche Figur unsere Sympathie verdient und welche nicht, bewiesen uns die Schauspieler - es ist ganz anders. Auch wenn die Rolle des Bassanio gestern leider nicht von Herrn Tot gespielt wurde, den wir in Münster schon als jungen Werther bewundern konnten (es spielte wg Krankheit jemand anderes), hat uns das Stück sehr mitgenommen. Viele Fragen der Moral, nicht nur zu Ausländern, wurden angeschnitten. Ein packender Theaterabend, der lange nachwirkt.
Die Fremden, Münster: muss man gesehen haben
Es war das tollste Stück seit langem in Münster! Die Diskussionen hier sind völlige Hirnwixe. Man muß es gesehen haben.
Die Fremden, Münster: danke
@bene

danke!!!

"Es war das tollste Stück seit langem in Münster! Die Diskussionen hier sind völlige Hirnwixe. Man muß es gesehen haben."
Die Fremden, Münster: Stück verbieten
Nachdem ich in der Vorstellung war, muss ich sagen, das Stück ist wirklich antisemitisch und ich muss dem Kommentator Nr 13 recht geben. Daß ein Jude vor Gericht einem anderen Menschen ein Stück Fleisch rauschneiden will, ist so unmenschlich, das kennt man sonst nur von Videos des IS. Man ist froh, daß es nicht dazu kommt, aber diese Untat hängt wie ein Schatten über dem ganzen Stück und die Figur des Shylock ist kein mensch mehr. man versteht, daß der Regisseur eine Figur einführt, die versucht die Figuren an die Liebe zu erinnern. Oder gibt es diese Figur schon bei Shakespeare? Die Schauspieler machen das gut, aber das Stück gehört für unsere Zeit verboten.
Die Fremden / Der Kaufmann von Venedig, Münster: nicht verbieten
Ich habe das Stück jetzt auch gesehen - und man kann sich bei der Diskussion darüber nur die Haare raufen.
#35 Das Stück gehört nicht verboten, vielmehr muß man sich mit so einem Meisterwerk immer wieder auseinandersetzen. Gerade diese Inszenierung zeigt, daß es nicht gleich zu setzen ist, ob Antisemiten auftreten oder ob das Stück antisemitisch ist.
Der selbe Regisseur hat vor Jahren bei uns in Konstanz ein Stück gemacht, das "Der Jude in Konstanz" hieß, und es war auch nicht klar, ob das eine gute Sache war. Denn der Autor, Wilhelm von Scholz wurde später zu einem überzeugten Nazi. Aber in meiner Erinnerung war die Haltung der Schauspieler so klar auf der Seite der Humanität, daß kein Zweifel bestand, was die Aufführung will. So ist es diesmal in Münster wieder. ich bin froh, daß ich es sehen konnte. Bravo.
Die Fremden, Münster: Irrgarten
#36 // Das Stück gehört nicht verboten, vielmehr muß man sich mit so einem Meisterwerk immer wieder auseinandersetzen. Gerade diese Inszenierung zeigt, daß es nicht gleich zu setzen ist, ob Antisemiten auftreten oder ob das Stück antisemitisch ist. //

Na ja - verbieten sollte man in der Kunst gar nichts, das stimmt. Daß man sich immer wieder damit auseinandersetzen muß, stimmt auch.

Es ist aber leider nicht nur so, daß da Antisemiten auftreten - das Stück ist intrinsisch, also in sich selbst leider recht antisemitisch. Da hat #35 durchaus recht - das Grundkonstrukt ist nämlich nicht kleinzureden: extrem rachsüchtiger Jude will ganz legal einen Menschen umbringen, gegen alle Bitten um Gnade und Barmherzigkeit. Das Stück selbst (nicht so sehr die Christen) hantiert ohne Zweifel mit sämtlichen antisemitischen Typisierungen und Klischees, die man sich denken kann. Das Problem ist: wenn man diesen Juden Shylock "versteht" und ihm recht gibt (z.B. wegen der ewigen Pogrome der Christen gegen das jüdische Volk, die seine Haltung verständlich machen könnten) - dann muß man plötzlich einen gezielten Mord "verstehen", legitimieren oder gutheißen. Das fällt etwas schwer - keine sehr "humanistische" Haltung. Was Shylock will, ist ethisch und humanistisch natürlich NICHT zu rechtfertigen. Und da wird es schwierig und man kommt in einen Irrgarten der Wertungen.
Die Fremden, Münster: Alles verbieten?
Die Diskussion ist absurd. Da hat es ein Theater scheinbar gerade geschafft ein "heute problematisches" Stück von Shakespeare so zu spielen, daß es politisch wieder Funken schlägt, und hier wird diskutiert, ob man den Text verbietet? Wie bitte?
Dann müssen Sie auch OTHELLO verbieten (fremdenfeindlich) und DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG (frauendfeindlich), und vor allem: KÖNIG LEAR (Herabsetzung von alten Leuten). Los geht's!
Die Fremden, Münster: fruchtbarer Irrgarten
#37
Verehrte Frau Tucholskaya (ich vermute, Sie sind weiblich),
ich muss Ihnen vehement widersprechen. Das Stück von Shakespeare handelt tatsächlich manchmal mit Klischees, aber sind das nicht die Klischees der Feindlichen Umwelt Shylocks? Kann man ein Stück über Antisemitismus machen ohne Antisemiten auftreten zu lassen? Und gilt es nicht, die Klischees auf der Bühne fruchtbar zu machen?
Auch ich habe die Aufführung (noch) nicht gesehen, aber mir will scheinen, daß sie genau diese Themen sehr stark verhandelt. Die Verdreifachung des Shylock-Monologes scheint mir hervorragend zu sein um dasin unsere unübersichtliche Welt zu transportieren.
Und wenn ich Shylock menschlich verstehe, muß ich ihm doch nicht -so wie Sie das behaupten- juristisch recht geben. Sie denken da wirklich zu kurz, zu sehr in Ihren politischen Vorbehalten gefangen, scheint mir.
Sie schreiben, durch die Aufführung kämen Sie in einen "Irrgarten der Wertungen". Aber ist es nicht genau das, was gute Kunst bezwecken kann, unsere gesicherten Wertungen in einen fruchtbaren Irrgarten schicken, auf daß sie dort durchgeschüttelt werden?
beste Grüße
Hans P.
Die Fremden, Münster: trotzdem
Liebe/r Hans P., Frau (oder Herrr) Tucholskaja wird Ihnen Ihre ansicht eventuell mitteilen, ich denke gute Kunst bezweckt gar nichts Fassbares, aber sie erreicht trotzdem viel. - MfG
Die Fremden, Münster: hingehen!
Das Stück gehört nicht verboten, der Text ist gut, die Inszenierung gehört zum Besten, was wir in Münster jüngst gesehen haben, die Schauspieler sind toll, die Kommentare hier sind unterirdisch. Das muss mal gesagt werden. Gehen Sie hin statt so abstrakt darüber zu raisonnieren.
Die Fremden, Münster: antisemitisch verfasst
@39

//Das Stück von Shakespeare handelt tatsächlich manchmal mit Klischees, aber sind das nicht die Klischees der Feindlichen Umwelt Shylocks? Kann man ein Stück über Antisemitismus machen ohne Antisemiten auftreten zu lassen? Und gilt es nicht, die Klischees auf der Bühne fruchtbar zu machen?//

Woher wissen Sie, daß Shakespeare (hier reden wir über den alten Shakespeare-Text, nicht über die Aufführung) - daß Shakespeare ein "Stück über Antisemitismus" machen wollte? Hat er mit seinem Text nicht eher ein "Stück Antisemitismus" verfaßt? Meinen Sie, damals gab es gesellschaftlich so etwas wie eine progressive "Kritik des Antisemitismus"? Shakespeare wollte, ausweislich des Untertitels, ganz im Gegenteil, als Neben-Attraktion, ein Stück über die spezifische extreme, blutrünstige Grausamkeit des Juden Shylock machen - ganz im judenhassenden Denken der Zeit:

"The most excellent Historie of the Merchant of Venice. With the extreame crueltie of Shylocke the Jewe twards the sayd Merchant, in cutting a just Pound of his flesh".

Gruselig, dieser "typisch" perverse Jude, nicht wahr, das lockte die Zuschauer. Wie Luthers Geifer gegen die Juden im Mainstream der Zeit lag, so auch Shakespeares Behandlung des Stückthemas: Man lese die Christopher-Marlowe-Manga-Groteske über das jüdische Monster, The Jew of Malta, und man weiß, wie die Epoche getickt hat. Eine aufgeklärte Kritik des Antisemitismus (der damals noch Judenhaß hieß) nach heutigen Maßstäben war damals unmöglich: Schließlich waren die Juden satanische Gottesmörder im Sinn des totalitären christlichen Glaubensdogmas beider Konfessionen. Und so wird der grausame Jude im IV. Akt immer wieder mit den moralischen Angeboten der überlegenen christlichen Nächstenliebe herausgefordert und vorgeführt: Milde, Gnade, Vergebung, Barmherzigkeit soll er üben, nach christlichem Glaubenskanon, wie ihn Shakespeares Zuschauer zu leben angehalten waren - aber nein, vergebens, der steinherzige Jude, so zeigt das Stück, verweigert sich dem Guten, er will nur verabscheuenswerte mörderische Rache. Und da der Jude Shylock hier als bösartiger Verächter und Verweigerer der damals gültigen und höchsten christlichen, humanistischen Tugenden vorgeführt wird, schreibt sich dieses Stück in den antisemitischen (judenhassenden) Diskurs der Zeit ein.

Daß Shakespeare seinen Shylock nicht als platten Comic-Schurken a la Marlowe vorführt, sondern ihm als typisch "jüdischem Schurken" trotzdem menschliche Größe und Würde und Leidensfähigkeit zugesteht, hebt das Stück himmelweit über primitive antisemitische Propaganda hinaus - die es aber andererseits durchaus bedient. Ein Irrgarten der Wertungen.

//Die Verdreifachung des Shylock-Monologes scheint mir hervorragend zu sein um das in unsere unübersichtliche Welt zu transportieren. //

Aus heutiger Sicht, nach dem Holocaust, ist es eine erbärmliche Trivialisierung des jüdischen Leids, wenn man Shylocks Klage mit den modischen angeblichen identitätspolitischen "Opfergruppen" der Frauen und der Muslime gleichsetzt. Es handelt sich dabei um eine groteske und sehr deutsche Banalisierung und Relativierung der Schrecken der Shoa. Ich stimme vollkommen mit # 10 überein.

//Und wenn ich Shylock menschlich verstehe, muß ich ihm doch nicht -so wie Sie das behaupten- juristisch recht geben.//

Irrtum: Der Trick des Stückes ist ja ganz im Gegenteil, daß Shylock formaljuristisch vollkommen recht hat. Nur ist dieses sein buchstabenkorrektes "Recht" eben unmenschlich. Womit Shylock antisemitisch konnotiert wird.

Sie aber "verstehen" Shylocks Blutgier, sagen Sie - so rein "menschlich"? Sie verstehen ganz tief "menschlich" eine unmenschliche, rachsüchtige, blutdürstige, grausame, mörderische Tat?

Ich nicht. Irrgarten der Wertungen.
Die Fremden, Münster: Probleme im Sixpack
Warum ist Shylock eigentlich nicht schwul in dieser Inszenierung? Hat er überhaupt eine Sexualität? Oder ist er am Ende wieder nur reduziert auf seine sadistischen Rachegelüste? - Sicherlich, wem die Auseinandersetzung mit dem Stück und der Shoa alleine nicht genügt, der legt nach und schafft auch noch die Frau als Problem an sich und die Homosexualität und anderes oben drauf. Probleme im Sixpack sozusagen, darunter tut es die Regie nicht. Soviel Problemsucht muss sein. Und natürlich kann man den, dem Stück innewohnenden, Antisemitismus nur noch optimieren, in dem der Jude sich nicht nur an einem venedischen Kaufmann und Christen vergeht, sondern zugleich auch an einem Homosexuellen. Na Prima. Packen „wir“ immer noch einen drauf und eignen uns zugleich das Schicksal der Juden an, dass natürlich nicht einzigartig ist?! Wo kämmen wir da hin? Hatten die Frauen, Schwulen und Muslime nicht genauso zu leiden wie die Juden? Haben wir nicht eigentlich alle das selbe Problem? - Nein, haben „wir“ nicht. Aber ein wenig Relativierung der Shoa im eigenen Sinne tut immer gut.

Vor dem Militärgerichtshof in Nürnberg wurde ein gewisser Dr. Fischers gefragt: „War der Gefangene, dessen Schulterblatt Sie entfernten, ein Mann oder eine Frau?“ „Das weiß ich nicht genau.“ antwortet der Arzt und kann sich im folgenden weder an einen Namen noch ein Geschlecht erinnern. Es handelt sich um einen Arzt, der an einem jüdischen Häftling eine Knochentransplantation zu experimentellen Versuchen vornahm. Bei ihm wäre das anzusiedeln, was man gemeinhin „die Abwesenheit von Liebe“ nennen würde und nicht bei einem heutigen Shylock, der lediglich, aus heutiger Sicht, nur sein Trauma reproduziert und das öffentlich vor Gericht und völlig chancenlos darin je seine Rache ausleben zu können. - Wie nur kommt man auf die Idee ihm in einer solchen Situation auch noch erschwerend einen Homosexuellen gegenüber zu stellen? Nur um ihn, den Juden noch mehr zu belasten? Oder hat es etwa persönliche Gründe?

Die Abwesenheit von Liebe ist für einen Christen das ethisch Undenkbare, obwohl wir spätestens seit dem „Stellvertreter“ wissen, wie tief der Katholizismus verwickelt war. Er baut auf ewige Vergebung, Gnade, Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Für Juden aber ist diese Abwesenheit jeden menschlichen Mitgefühls eine historische und mit nichts zu vergleichende Realität, da sie in einer Form noch nie dagewesener industrieller Vernichtung im letzten Jahrhundert vollzogen wurde. Das muss man wohl von Zeit zu Zeit wiederholt aussprechen, damit es nicht vergessen wird. Die Relativierung dient nur den Tätern, nicht den Opfern, auch nicht heutigen weiblichen, homosexuellen und muslimischen Opfern. Das ist ein Trugschluss. Traurig, das es heute immer noch solche Konzeptionen gibt und sie noch vom Zuschauerraum aus von Statisten befeuert werden. Sehr traurig. Jedes Schicksal ist letztendlich einzigartig, wie das Leben selbst und muss, ebenso wie kollektive Schicksal, für sich separat und nicht in der Aneignung und Gleichsetzung beschrieben werden. Das sollte eigentlich schon längst klar sein. Schnüren wir also das Sixpack der Probleme wieder auf und würdigen wir jedes Problem durch ein eigenes Stück, eine eigene Aufführung. Der hybride Wahn einer Regie, die gleich das ganze Große tabula rasa, alles in allem lösen möchte, war mir von je her fremd. Ich ziehe die spezifische und präzise dramatische Problembetrachtung vor und dafür ist die Shoa und der „Kaufmann von Venedig“ schon fast eine Nummer zu groß, denn in diesem Spannungsfeld allein wird der Himmel des Problemkosmos schon genügend aufgerissen.

Und natürlich ist Shylock nur deshalb nicht schwul, weil man Homosexualität nicht mit einer solchen Tat und einer so sadistischen Figur auf offener Bühne belasten darf.
Die Fremden, Münster: steht alles im Text
#43
Die meisten Fragen, die Sie hier stellen, müssen Sie Shakespeare selber stellen: Antonio ist, im Stück sehr deutlich, in Bassanio, einen Mann, verliebt. Der Prinz von Marokko wird für seine Herkunft von anderen Figuren des Stücks schwer rassistisch beleidigt. Portia und Nerissa wehren sich gegen ihre Männer mit deutlicher feministischer Haltung - es steht alles im Text. Warum die Aufregung über eine Aufführung, die das versucht herauszuarbeiten?
Die Fremden, Münster: Schicksale
@44

Und trotzdem sind ihre Schicksale nicht gleich zu setzen. - Welche Aufregung haben Sie denn ausgemacht?!
Die Fremden, Münster: schwule Liebe
@43, @45
Schade, daß Sie mir auf meine Argumente nicht antworten. Meine Frage war, warum es Sie so aufregt (ihr Ton kommt mir aggressiv vor oder bitter, Sie selbst nennen es "traurig"), daß eine Inszenierung Themen aufgreift, die in Shakespeares Text schon klar verhandelt werden? Es scheint Sie zB sehr zu stören, daß Antonio in Münster schwul ist, und Sie unterstellen der Regie "persönliche Gründe". Aber alle modernen Interpretationen sind sich da einig, das ist eine homosexuelle Liebe.
Die Fremden, Münster: die Grundlagen
@46

Ihre Phantasie über ein Stück ist für mich nicht verbindlich. Und wenn Ihnen Kritik gleich bitter und aggressiv erscheint, ist das ihr persönliches Problem. Vielleicht lesen sie meinen Kommentar nochmal gründlich und befragen mich nicht auf der Grundlage von Verdächtigungen und persönlichen Stimmungen um Neigungen.
Die Fremden / Kaufmann ..., Münster: Hinweise
Ich habe das Stück in Münster inzwischen angesehen und verstehe die verkürzte Diskussion nicht.

@42 Tucholskaya:
Es gibt an dem Abend gar nichts, was "eine erbärmliche Trivialisierung des jüdischen Leids, wenn man Shylocks Klage mit den modischen "Opfergruppen" der Frauen und der Muslime gleichsetzt." befördern würde, nichts, was das versuchen würde. Im Gegenteil, das Leid des Shylock wird von dem Schauspieler und der Regie mit großer Ernsthaftigkeit angegangen. Nur dadurch, daß man darauf hinweist, daß es heute (auch) noch andere unterdrückte Minderheiten gibt, relativiert man doch nicht das Leid des jüdischen Volkes oder verharmlost die Shoah. Wie kurz ist das denn bitte gedacht? Da denkt die Aufführung weiter.

und dem Kommentator von @43 muß man nach dem Besuch der Vorstellung sagen: Es wäre ganz falsch zu behaupten, daß die Regie mit dem Thema der Homosexualität noch "einen drauf packt" oder gar "Probleme im Sixpack" schafft.
Wenn Sie das Stück nur oberflächlich kennen, bitte lesen Sie dann das Buch "Außenseiter" von Hans Mayer (nicht dem Fußballtrainer!), in dem der Autor sehr plastisch den Kaufmann Antonio als "das zweite Monstrum" des Stückes beschreibt - eben wegen seiner Liebe zu einem anderen Mann. Und Mayer (der übrigens jüdisch UND homosexuell war, auch das geht)schließt den Absatz über den "Kaufmann" mit dem Satz "Es gibt keine Gemeinschaft, gar Solidarität der Außenseiter." Gerade diesen letzten Aspekt hat der Abend in Münster gut gezeigt.

(Man könnte jetzt noch lange reden, daß Hans Mayer in der Literatur - auch in Shakespeares Stücken - sogar DREI große Außenseiter sieht, die Juden, die Homosexuellen und - die FRAUEN, aber das sprengt den Rahmen. Lesen Sie selbst!)
Die Fremden / Der Kaufmann ..., Münster: neuere Einsichten
Es muss so 1983, liebe Liz Fraser, da habe ich meinen ersten Proseminarschein in Germanistik über den „Außenseiter“ von Hans Mayer gemacht. Und genau in diese Hochzeit des Regietheater passen auch solche überladenen Konzeptionen, die meinen, je mehr sie an Konflikten aufwühlen und gegeneinander setzen, desto mehr erklären sie. In Wahrheit ist es aber so, dass im Dritten Reich sowohl Juden, wie Homosexuelle in Konzentrationslager einsaßen. Und wenn sie sich heute auf der Bühne als Feinde gegenüber stehen, sie eigentlich eine Leidensgemeinschaft abbilden, in der nun, in ihrer Version, der Jude sich trotzdem, völlig entsolidarisiert, an dem Homosexuellen vergeht, ihn nach seinem Leben trachtet. Das ist wahrlich eine Monströsität, die nur auf das Konto des Juden geht. Schon mal drüber nachgedacht. Hans Mayer war eben ein Literaturwissenschaftler und kein Theaterregisseur. Vielleicht hätte er zu seiner Zeit trotzdem seine wahre Freude daran gehabt, dass man seine Texte als Leitfäden für Inszenierungen hervor holt. Nun aber hat sich das Rad der Zeit weiter gedreht und der Anspruch an den Umgang mit Außenseitern verfeinert. Man vertraut den radikalisierten Überlegenen der siebziger und achtzigern aus dem vorigen Jahrhundert nicht mehr ungebrochen und es treten neue Gedanken hinzu, zum Beispiel, wie man Außenseiterfiguren entlasten könnte. Niemand wartet heute mehr auf eine noch wildere Kaufmann-Inszenierung von Zadek. Und es ist ein völlig neue Überlegung hinzugetreten, die damals niemand recht sehen noch einordnen wollte, nämlich, dass das Stück an sich antisemitisch sei. Die beste Idee ist deshalb wahrscheinlich, es gar nicht zu inszenieren. Sich aber auch nur in der Nähe einer Konzeption zu bewegen, die die Shoa relativiert, den Juden latent noch monströser abbildet, als er eh schon vom Autor skizziert wurde, erscheint heute fahrlässig. Nicht alles, was in "klugen" wissenschaftlichen Büchern steht, sollte ungefiltert auf die Bühne gelangen.
Die Fremden, Münster: Umgang mit Minderheiten
Nochmal: Nichts davon, von dem was Sie in die Inszenierung hineinfantasieren, ist in Münster auch drin, Shylock ist nicht monströser weil er sich "an einem Homosexuellen vergeht", die Christen werden, passend für Münster, als das mindestens gleichfalls Monströse geschildert. Meine Ausführungen zu Mayer waren dazu gedacht, zu zeigen, dass nicht nur Regisseure in Münster auf die Entsolidarisierung von Minderheiten kommen, sondern auch Andere, Klügere.
Daß sich der Umgang mit Minderheiten seit Hans Mayers Zeiten "verfeinert" hätte, ist eine Behauptung, die Sie hoffentlich nicht selber glauben, wenn Sie sich in der Welt umsehen. Falls doch, müssen sie die "Außenseiter" notgedrungen nochmal lesen, 1983 ist ja schon lange her. Das Buch hat mehr zu sagen, als Sie seit damals dachten, auch für unser Jahrzehnt.
Die Fremden, Münster: Grundlage
Lieber Herr Baucks,
eine Frage: schreiben Sie auf Grundlage ihrer Textkenntnis oder haben Sie die Inszenierung in Münster auch live gesehen?
Das wäre für mich als Rezipientin ihrer Meinung zur Sache wichtig zu wissen. Falls Sie das schon dargestellt haben und ich es überlesen habe, entschuldigen Sie bitte.
Die Fremden, Münster: Idee und Tat
Sie sind sehr großzügig mit Ihren Leseempfehlungen oder auch nochmaligen Leseempfehlungen. Vielen Dank auch dafür. - Gemeint war, wie sie sicherlich ahnen, der Umgang mit Außenseiterfiguren auf der Bühne, nicht im Leben. Und da hat sich in der Tat, nicht nur seit der Neubesetzung des Gorki, einiges getan. Und deshalb wäre die erste Frage, die sich ein Inszenator dieses Stückes stellen sollte: Ist die Zuweisung der Idee zu einer solchen Tat an einen Juden glaubwürdig? Und die Antwort heißt heute eindeutig: Nein.

Schon allein die Idee zu einer solchen Tat einem Juden zuzuweisen, ist antisemitisch und historisch abwegig. Sie folgt antisemitischen Vorstellungen, wie der Hostienschändung oder das Juden kleine Christenkinder verspeisen, wie sie im Mittelalter üblich waren und wie sie in dem Buch „Der gelbe Fleck“ eingängig geschildert werden. Wie ich schon in meinem ersten Kommentar erwähnte, sind solche sadistischen Ideen historisch eher bei den nationalsozialistischen Ärzten zu verorten, die in Konzentrationslagern Experimente an jüdischen Häftlingen vornahmen, nicht aber bei Juden selber, die in ihrer Geschichte mit solchen Taten nicht hervortraten.

Kann man aber die Kernidee eines Stückes nicht glaubwürdig belegen, sollte man die Finger von einer Inszenierung lassen. Und es bleibt natürlich dabei, egal wie die Inszenierung in Münster aussieht, dem Juden zu dieser falschen Kernidee auch noch zu unterstellen, dass er sich zusätzlich an einem Homosexuellen vergeht, ist eine weitere Steigerung und Optimierung der antisemitischen Grundidee, auch wenn die Szene noch so „schön“ in ihren Augen arrangiert wurde. Eine solche Konzeption ist grundsätzlich, ungesehen abzulehnen und ich werde sie nicht besuchen.

Eine heutige Idee zu dem Stück kann nur eine komplette Dekonstruktion und Parodie sein der Figurenkonstellation sein, in dem meinetwegen Antonio Texte von Shylock übernimmt und umgekehrt, aber nicht die Inszenierung des Stückes selber, um was man es auch immer erweitert, denn ist gibt in einer falschen, antisemitischen Kernidee keine gute Inszenierung.

Und selbstverständlich denke ich heutig und nicht "damals" und ich habe nach dem "Außenseiter" noch einige andere interessante Bücher gelesen, was hier aber gar nichts zur Sache tut. Benutzen sie einfach ihre eigenen Gedanken im Sinne von Voltaire, vielleicht bewegt sich ja dann etwas bei Ihnen.
Die Fremden / Kaufmann von ..., Münster: Blinde über Farbe
Liebe Olympe,
das scheint mir das Grundproblem zu sein,
daß die größten Kritiker der Inszenierung sie gar nicht gesehen haben - oder nicht mal das Stück richtig gelesen.

Ich kann dem Herrn nur zustimmen, der weiter oben gesagt hat:
"Mich wundert, daß hier über die Inszenierungsmechaniken und Antisemitismus theoretisiert wird, ohne die Nuancen und Widersprüchlichkeit dieser Inszenierung zu kennen und einbeziehen zu können. Muß ich über ein Bild im Museum theoretisieren, das ich nicht mal angesehen habe? Hat es Sinn, wenn ich mich über zuviel BLAU darin aufregen, wenn ich die Benutzung, die Farbverläufe nicht kenne? Reicht es, blau theoretisch zu kalt zu finden?"
Besser könnte ich es nicht sagen: Hier reden Leute über eine Inszenierung wie ein Blinder von der Farbe. In keiner anderen Kunstgattung würde man diese Äußerungen auch nur ansatzweise ernst nehmen.

Aber dem Herrn oben, der sogar Shakespeares Text das Daseinsrecht abspricht, danke für den Tip oben: "Meine eigenen Gedanken zu benutzen" - das habe ich ja noch gar nie probiert. Danke!
Die Fremden, Münster: kein Gottesdienst
Wissen Sie, Frau Fraser,

das Theater ist kein Gottesdienst, den man zu besuchen hat. Und ja, ich beurteile hier eine Konzeption, die sich hier ja sehr deutlich nach außen kenntlich macht, sowohl in der Kritik, wie in den Kommentaren und ich entscheide mich gegen einen Besuch, weil ich die Konzeption für falsch und antisemitisch erachte. So etwas ist im Kulturbereich nicht nur erlaubt, es ist auch der tiefere Sinn von Kritiken und Kommentaren, einen entweder anzulocken oder abzuhalten. Und wenn ich ein Bild sehe, wo Shylock aussieht wie Klaus Barbie und gerade sein Knie auf die nackte Brust von Antonio setzt, die Hemdsärmel hochgekrempelt, das Abzugbild eines SS-Offiziers, dann habe ich genug Nuancenlosigkeit gesehen. Es ist eine Ästhetik, die mich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht interessiert. (zu dem trägt Shylock, soweit ich das erkennen kann, auch noch den für Nazis typischen Zweireiher, während alle anderen Figuren vor Gericht in Einreihern daher kommen) Jeder der diese Szene heute noch real soweit treibt, dass Shylock tatsächlich zur Tat mit Gewalt ansetzt, das Messer schon in der Hand, der hat von Antisemitismus nichts begriffen. Und solche Abende muss ich mir mit meiner Berufs- und Lebenserfahrung tatsächlich nicht mehr antun. Das überlasse ich gerne ihnen. Meine Veranstaltungen sehen anders, ganz anders aus und ich lehne meine Gedanken schon lange nicht mehr bei Hans Mayer an.

Mögen Sie auch viel gesehen haben, ihre Blindheit für das Konzept hat biblische Ausmaße und ist mit keiner Farbe zu beschreiben außer schwarz.
Die Fremden, Münster: Verharmlosung
//Nur dadurch, daß man darauf hinweist, daß es heute (auch) noch andere unterdrückte Minderheiten gibt, relativiert man doch nicht das Leid des jüdischen Volkes oder verharmlost die Shoa//

Doch, das tut man. Wenn man so tut, als sei die unerfüllte Vorstandsquote für Frauen und der angebliche Gender Pay Gap (stellvertretend genannt für alle möglichen feministischen Luxusprobleme der Gegenwart) auf der gleichen Stufe angesiedelt wie die mörderische Shoa, dann relativiert man letztere unerträglich. Wenn man die Dauerklagen beleidigter Muslime, die in Deutschland mit Islamkonferenzen und Integrations- und Förderprogrammen umhätschelt werden wie keine andere Bevölkerungsgruppe je, mit dem Leid der Juden im versuchten Genozid der NS-Zeit gleichsetzt, betreibt man eine indiskutable Relativierung und Verharmlosung des Judenabschlachtens in der Shoa.

Wenn man die (zutiefst berechtigte) Klage unterdrückter muslimischer Frauen gleich wertet mit den Klagen des muslimischen Patriarchats, das sich über mangelnden "Respekt" seitens des Westens beschwert, wird es endgültig absurd.

Solcherlei gutmenschelnde Entdifferenzierung, die alle "Opfer" gleichermaßen über einen einzigen, gleichen, gefühlsduseligen Kamm schert, tut allen Betroffenen unrecht.

Außerdem: Wollen Sie ernsthaft einen kalt geplanten Mord aus niederen Beweggründen (Rache) "verstehen" und verzeihen? Mord ist Mord. Das ist nicht zu rechtfertigen. Aber den will der Jude Shylock gezielt begehen. Es ist unmenschlich, egal, warum er es tut. Und diese Unmenschlichkeit unterstellt das Stück dem Juden (nicht anders als das angebliche Kinderschlachten und Brunnenvergiften der teuflischen Juden ist es ein uraltes antisemitisches Klischee). Und das macht das Stück zu einem antisemitschen Text.
Die Fremden, Münster: erkennbare Botschaft
@53
//daß die größten Kritiker der Inszenierung sie gar nicht gesehen haben - oder nicht mal das Stück richtig gelesen. //

Falls Sie auch mich meinen sollten: Doch, ich habe das Stück viele Male sehr genau gelesen. Und die diversen wohlmeinenden Beschreibungen der Aufführung erlauben es durchaus, der darin erkennbar verbreiteten Botschaft herzhaft zu widersprechen.
Die Fremden, Münster: Verrat Jesu
Tucholskaya hat völlig recht. Und erschwerend kommt noch hinzu, dass über dem ganzen Szenenbild das Bild „Der Leichnam Christi im Grabe.“ von Hans Holbein dem Jüngeren schwebt.

Warum?

Nun, wie man an dem Bild, dass in die Kritik eingefügt wurde, überdeutlich erkennen kann, imitiert Antonio dies Bild mit nacktem Oberkörper und stellt ebenso rampenparallel die Pose des toten Leichnam Christi nach, während der Jude hemdsärmelig über ihm hockt, das Knie auf der entblößten Brust, das Messer hinter seinem Rücken bereit in der Hand, um zur Tat zu schreiten. Hier wird in der Bildästhetik exakt die Ur-Idee des Antisemitismus nachgestellt, eben das die Juden, der Jude Jesus Christi getötet haben.

Das ist so gruselig und zugleich so traurig, dass so etwas heute anstandslos über die Bühne gehen kann, ja, das es nicht einmal von der Kritik bemerkt wird, dass man nur erschauern kann. Dies alles im katholischen Münster. Da senke ich mein Haupt und versinke vor Scham und muss es doch glauben. Das ist purer Antisemitismus, bewusst in einem religiösen Kontext gesetzt, wie man ihn schon lange nicht mehr sah.

Wer, verdammt nochmal hat sich diese Bildästhetik ausgedacht und zu was wird sie gebraucht in dieser Inszenierung ?! - Da fällt dann auch kaum noch auf, dass das Requisit Messer aussieht wie ein Dolch zum Morden und die ganze Geste (und das gesamte Arrangement) der „Tat“ des Shylock eher dazu geeignet ist zu zustechen, als zu schneiden. Das macht dann auch schon vollkommen egal, in dieser antisemitischen Gesamtästhetik.
Die Fremden, Münster: große Ehre
Also irgendwas scheint der Abend in unserem Theater ja richtig gemacht zu haben, wenn hier die Wellen so hoch gehen. Jetzt wird schon diskutiert ob man Theater ÜBERHAUPT ansehen muß, um darüber schreiben zu können, oder ob ein paar Bildchen genügen. Große Ehre für unser kleines Städtchen Münster.
"Blindheit von biblischen Ausmaßen" (@54): Selten so gelacht.
Die Fremden, Münster: mehr als das "irgendetwas"?
Lieber Linker,
dieser Logik folgend hat Bernd Höcke bei seiner Dresdner Rede auch irgendetwas richtig gemacht, weil es danach ja auch sehr hohe Wellen schlug! - Nur, was ist diese "irgendetwas" mehr, als nur ein "irgendetwas"?! Mmh?! Nur noch ein Abbild des traditionellen Antisemitismus mehr, aber diesmal in Münster?! Was für eine wahrhaft große Ehre so etwas endlich auch bei sich zu Hause im Münsterland beheimateten zu dürfen. Gratulation!
Die Fremden, Münster: schön wärs
Lieber "martin baucks",
daß Sie jetzt nach der Bibel auch Björn Höcke auffahren, hätte man sich denken können. Daß ich das als Linker Aktivist noch erleben darf: früher sagte man als Totschlagargument "Nazi", heute sagt man "björnhöcke", wenn einem die Argumente ausgehen.

Sie sagen weiter oben, daß ein Regiekonzept nur Sinn macht, das
"eine komplette Dekonstruktion der Figurenkonstellation sein (soll), in dem meinetwegen Antonio Texte von Shylock übernimmt" - nun übernimmt in unsrer Inszenierung (dass ich das mal sagen würde, über das sonst verschnarchte Stadttheater Münsters - "unsere Inszenierung") tatsächlich Antonio Teile von Shylocks Text - aber ich vergaß, Sie gehen ja nicht in Theaterstücke, die Sie vorher per Bildchenanalyse als antisemitisch ausgemacht haben.

Ich habe dennoch eine Frage: Sind Sie wirklich sicher, daß man die Faschisten heute noch an ihrer Ästhetik erkennt? Also Klaus Barbie (auf einem Photo!) am hochgekrempelten Hemd, Zweireiher und "gezücktem Dolch"?. Aus meinem politischen Kampf möchte ich Ihnen sagen: schön wärs.
Die Fremden, Münster: Dampf raus lassen
Die Diskusssion um den Theaterabend in Münster nimmt absurde Züge an. Die Diskutanten, vor allem die, die das Stück gar nicht kennen, schlagen mit hohlen Phrasen aufeinander ein. Mit ähnlichen Sätzen wie @52 ("Eine solche Konzeption ist grundsätzlich, ungesehen abzulehnen und ich werde sie nicht besuchen.") hat auch die AFD gegen Falk Richters Aufführung "Fear" in Berlin gehetzt.

Ein Text, der jetzt über diese Aufführung Fremde/Kaufmann erschienen ist, kann vielleicht etwas den Dampf rauslassen, der die doch so wichtige Diskussion gerade so verflacht. Ausgerechnet im "Neuen Deutschland" ist ein Essay erschienen, der über den Abend nachdenkt.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1072954.der-kaufmann-von-venedig-sprechen-sie-deutsch.html

Der Autor geht ins Grundsätzliche, beschreibt zum Beispiel auch ganz genau, wie der Darsteller des Shylock mit der schwierigen Problematik, den Hass eines Opfers darzustellen, umgeht.
Es ist vielleicht doch alles komplizierter in Münster als es sich hier darstellt.
Die Fremden, Münster: keine Bereitschaft
#61

vielen dank für den link zu Hans-Dieter Schütt. ich bin ganz bei ihnen, was zur diskussionseinschätzung hier von ihnen geschrieben wird. = das anliegen des stückes scheint weder verstanden, noch die bereitschaft vorhanden "verabredungsmuster" als nicht einzig und alternativlos reflexartig bedienen zu wollen. mal abgesehen von der dann schon ständig zu erwartenden reflexartigen gleichförmigkeit und der damit verbundenen langenweile - scheint auch eine "frech-freie" denkübung schon eine überforderung darzustellen, die jede weiterentwicklung verhindert und nur ergebenheit und kritiklosigkeit zum statusquo illustriert. (und sich dabei noch wundern und empören, dass es nicht besser wird - naja, außer für die wenigen prozent, die sich darüber freuen)
Die Fremden, Münster: politisches Theater
Durch den Podcast (gute neue Einrichtung. Danke!) wird man nochmal zum Nachdenken gebracht, was für einen selbst letztes Jahr wichtig war im Theater. Und da sticht besonders die Aufführung der "Fremden" hervor, für die wir jetzt schon zum zweiten mal nach Münster fuhren. Bestes politisches Theater, das uns sehr beschäftigt. Leider ist die Diskussion darüber, auch hier, oft sehr unwürdig. Das schmerzt. Die von Ihnen erwähnten Bamberger Aufführungen jedoch haben wir nicht sehen können. Das ist einfach zu weit.
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