Helden müssen leider draußen bleiben

16. September 2023. Mareike Mikat, die neue Schauspieldirektorin in Halle, entdeckt Jewgeni Schwarz' Parabel auf totalitäre Systeme wieder. Ein Triumph!

Von Matthias Schmidt

"Drache" von Jewgeni Schwarz am Neuen Theater Halle © Falk Wenzel

16. September 2023. Gelungen ist eine Parabel dann, wenn sie anwendbar bleibt. Jewgeni Schwarz' Stück "Der Drache" ist ein hervorragendes Beispiel dafür. 1943 für das Leningrader Komödientheater geschrieben, im Jahr darauf im tadschikischen Duschanbe uraufgeführt als Angriff auf Hitlers nationalsozialistische Diktatur und sofort für viele Jahre verboten, weil die Funktionäre es als das erkannten, was es auch ist: eine Satire auf Stalin.

Ein Stück, zwei Meinungen. Benno Bessons Version am Deutschen Theater Berlin wurde 1965 in Ost und West gefeiert. Ernst Schumacher lobte sie in der DDR als "ideologisch vorbildlich", und "Theater heute" wählte sie in der Bundesrepublik zur Inszenierung des Jahres, 580-mal wurde sie europaweit gespielt. Wolf Biermann und Heiner Müller hingegen fanden Bessons Arbeit zu unpolitisch, auf Erfolg getrimmt: in "die Kunstfalle" getappt. Mit diesem Stück geht beides.

Rettung unerwünscht

Da kommt ein Held namens Lanzelot, um eine Stadt von einem Drachen zu befreien, der sie seit Jahrhunderten unterdrückt, aber die Einwohner entgegnen, das Ungeheuer sei ihr Beschützer, und sie wollten gar nicht von ihm befreit werden. Man könnte denken, Lanzelot gehe es mit seinem Kampfeswillen auch sehr um sich selbst. Gelungen ist eine Parabel dann, wenn sie vielschichtig ist.

Mareike Mikat, die neue Schauspieldirektorin an den Bühnen Halle, legt in diesem Stoff enorm viele Schichten frei. Sie reichen bis ins Heute, ohne zu plakativ zu sein. Die vielleicht überraschendste ist der Fokus auf Elsa. Bereits äußerlich ist die Tochter des Stadtarchivars ein Zentrum des Abends. Ganz in Weiß (mit einem Hauch von Hellblau) und mit ihrer blonden Perücke ist sie angelehnt an Disneys gleichnamige "Eiskönigin". Anfangs hält man das noch für ein Zugeständnis an eine Kinder-Version der Inszenierung, die nächste Woche am "Thalia Theater" Premiere hat. Weit gefehlt.

Drache 2 Falk WenzelTristan Becker als wehrhafte Märchenprinzessin © Falk Wenzel

Gespielt wird Elsa, die als nächste Jungfrau dem Drachen geopfert werden soll, von Tristan Becker. Wie er aus der Frau, der eigentlich im gesamten Stück die Rolle des Opfers zugedacht ist, die Heldin des Abends macht – allein das lohnt den Besuch im "neuen theater" und die drei langen Stunden auf den wahrlich nicht bequemen Klappsitzen. Wie er zunächst sein Schicksal verdrängt, sich dann in Lanzelot (Kinga Schmidt) verliebt, nach dessen vorgeblichem Tod resigniert und schließlich aufbegehrt – großartig! Gitarre spielen und singen kann er auch noch; mögen sie ihn lange behalten in Halle. Mareike Mikat hat Elsa angelegt als Mensch auf der Suche nach seiner Identität, und wenn Tristan Becker am Ende den Disney-Fummel ablegt und nackt bis auf die Haut dasteht, dann entlarvt er damit auch das falsche Spiel der anderen.

Nichts ist ungeheurer als der Mensch

Es ist ein Spiel um Macht und Missbrauch. "Sagt ein Mädchen nein, heißt das ja", spricht der Ex-Bürgermeister-und-jetzt-Präsident, nachdem er Elsa vergewaltigt hat. Elsa ist ein Mensch, der von Menschen missbraucht wird, die zu Drachen werden, nachdem der andere Drache besiegt ist. Nichts ist ungeheurer als der Mensch. Das findet statt im zweiten Teil des Abends, der eine an der Oberfläche grellbunte, in Wahrheit aber sehr subtile Übung zur Verführbarkeit des Menschen ist.

Der Bürgermeister, anfangs ein lächerlicher Opportunist, hat sich den Sieg angeeignet, und das Publikum wird wie bei einer Fernsehshow aufgeheizt, dem Helden zu applaudieren und zu huldigen. Und siehe: Wir machen mit. So ist der Mensch, er neigt zum Mitmachen. Wie auch auf der Bühne alle mitmachen. Bis auf einen, der sich widersetzt: der Archivar Charlemagne, Elsas Vater. Die Freiheit, er gibt sie – im Gegensatz zu den anderen – nicht mehr her. Hagen Ritschel ist der zweite Schauspieler, der aus diesem Ensemble herausragt. Aus einem zappelnden, duckmäusernden Mann macht er mit jeder Faser seines Körpers einen aufrechten. Er verkörpert eine Menschwerdung, nicht weniger.

Im Geifer des Geschlechts

Damit ist die Inszenierung doch eine hochpolitische, denn die Freiheit war es, auch die der Meinung, die der Drache den Menschen genommen zu haben glaubte. Mit nur wenigen Bildern zeigt Mikat, was sie aus der Parabel direkt ins Jetzt ziehen möchte. Ganz kurz werden, wenn der Archivar sich auflehnt, Porträts unter anderen von Rosa Luxemburg, Mahatma Gandhi und Greta Thunberg auf die Leinwand projiziert.

Drache 3 Falk WenzelEin feuriger Abend. Auf dem Bild: Jennifer Krannich © Falk Wenzel

Der Rest ist große Lust am Spiel, mit der das neue Leitungsteam die Stadt erobern möchte. Bis zur Pause wird geradezu schwankhaft übertrieben: falsche Schnurrbärte, Sprachholpereien à la "im Geifer des Geschlechts", Luftballons und Wattebälle. Dazu reichlich Anspielungen, manche raffiniert, manche etwas weniger. Der Drache zitiert Erich Mielkes Volkskammer-Rede ("aber ich liebe doch … alle Menschen") und trägt einen an Rammstein angelehnten Song vor. Zusammen mit den Jungfrauen, die er sich opfern lässt, ein Wink mit dem Zaunpfahl.

Während der Pause kann man auf dem Handy oder auf Leinwänden die "Drakon News" verfolgen, die vom Ende des Drache berichten, und zurück im Saal sieht man auf großem Schirm, wie Ursula von der Leyen uns EU-Bürgern in Kindergärtnerinnenmanier erklärt, wie man sich richtig die Hände wäscht. Da ist viel Leichtigkeit, die dem "neuen theater" gut ansteht. Im Foyer steht Lanzelots Pferd als "Selfie-Spot". Nicht zuletzt ist auch die Nutzung des ja doch ungewöhnlichen Saals sehr gelungen. Gespielt wird ebenerdig zwischen zwei Zuschauer-Traversen. Immer, wenn der Drache auftritt, fährt an einer Seite die Hebebühne hoch, und die riesigen Zähne des Tiers kommen zum Vorschein. So zauberhaft kann Theater sein!

 

Drache
von Jewgeni Schwarz
Aus dem Russischen von Günter Jäniche
Regie: Mareike Mikat, Bühne und Kostüme: Simone Manthey, Musik: Melchior Walther, Dramaturgie: Bernhild Bense, Christoph Macha.
Mit: Florian Krannich, Kinga Schmidt, Hagen Ritschel, Tristan Becker, Nils Thorben Bartling, Jennifer Krannich, Franziska Hayner, Paula Dieckmann, Fanny Schmidt, Martin Lindner, Daniel Rodau, Friederike Werner.
Premiere am 15. September 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.buehnen-halle.de

Kritikenrundschau

Von einem "vorzüglich geratenen Einstieg" der Regisseurin Mareike Mikat und "viel Beifall" in Halle berichtet Andreas Montag in der Mitteldeutschen Zeitung (18.9.23, €). Die Regisseurin biete "eine neue, partizipative Interpretation an, Drache 4.0 sozusagen, ein zeitloses, tragikomische Märchen aus unserer Wirklichkeit", so der Kritiker.

Kommentare  
Drache, Halle: Zweifelhafte Regiearbeit
Habe den Abend zuletzt gesehen und bin nun auf diese Kritik gestoßen, und muss mich wirklich ärgern.
Absolut belangloses Effekttheater, zugeschüttet mit schwachen Regieideen und voller schlecht gearbeiteter, wenig überzeugender Schauspielszenen.
Die Worte "Ernsthaftigkeit" und "Meinen" scheinen Fremdworte zu sein, denn die Darsteller - deren Problem dies in den anderen Inszenierungen hier in Halle eher nicht ist - scheinen nicht dazu angehalten gewesen zu sein.
Bitte nicht falsch verstehen: Mir tun die Spieler*innen tendenziell eher Leid, denn das ist etwas, was sich bei dieser Regisseurin schon seit Karlsruhe sowie Ingolstadt durchzuziehen scheint.
Inhalt und Tiefsinn zu vermitteln passiert eben nicht, weil man ihn durch einen Abend mit inflationären Mitteln, wie überflüssigen (größtenteils eher schlechten) Witzen hier und einem Pferd im Foyer dort zuzuschütten versucht.
Wenig überzeugender Abend, der schnell verpufft.
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